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US-Autor: Der Begriff Freiheit wird missbraucht

Er war einer der Stars der Frankfurter Buchmesse und er wird als Buchautor so wichtig genommen, dass sich Barack Obama sein letztes Buch als Vorabexemplar in den Sommerurlaub schicken ließ: Jonathan Franzen. Sein aktueller Roman "Freiheit" steht seit Wochen auch in den deutschen Bestsellerlisten. Das Buch porträtiert eine Mittelklassefamilie in den USA. Viele Kritiker sehen es aber vor allem als kritische Zustandsbeschreibung der amerikanischen Gesellschaft am Anfang des dritten Jahrtausends.

Jonathan Franzen im Gespräch mit Denis Scheck | 19.10.2010
    Denis Scheck: Welches Verhältnis haben Sie eigentlich zu Deutschland? Sie haben ja hier ein Jahr studiert und Sie sprechen ein wenig Deutsch.

    Jonathan Franzen: Ja. Ich war eigentlich zwei Jahre hier.

    Scheck: Zwei Jahre?

    Franzen: Ja, aber das war vor 30 Jahren. Und wenn ich noch ein bisschen Deutsch spreche, das ist so ein Wunder eigentlich. Aber ja, ich war Student in München und dann ein Jahr mit einem Vorbereitungsstipendium in Berlin.

    Scheck: Auf Seite 451 von Ihrem neuen Roman "Freiheit" kommt ein besonders nerviger Journalist vor, Matthias Dröhner mit Namen, ein Deutscher. Nerven Sie die deutschen Literaturkritiker und Journalisten ganz besonders?

    Franzen: Nervig kann ein bestimmter Typus von Journalist sein. Meist arbeitet er nicht für eins der großen Medien, zeichnet sich aber durch enorme Hartnäckigkeit und ein Elefantengedächtnis aus. Hat man ihm irgendwann einmal ein Gespräch versprochen, wird man sieben Jahre später darauf angesprochen.

    Scheck: Dann war diese Bemerkung also eine Art Rache?

    Franzen: Ja! Ich bin ein realistischer Schriftsteller. Ich hatte niemand Spezielles im Sinn, sondern habe an einige eher unbedeutende deutsche Journalisten und Fotografen gedacht, die ich im Laufe der letzten Jahre kennenlernen durfte. Wann immer möglich, bewege ich mich innerhalb der Grenzen des Realismus.

    Scheck: Dann lassen Sie uns darüber sprechen, was es heißt, ein realistischer Autor zu sein.

    Franzen: Sie können übrigens ruhig Deutsch sprechen.

    Scheck: Ja, gut. Dann stelle ich meine Fragen gerne auf Deutsch. – Was heißt denn das?

    Franzen: Ich bin so müde, dass es besser ist, wenn ich auf Englisch antworte. Und meine Entschuldigungen an das Publikum. – Realismus heute bedeutet, was er immer bedeutet hat. Es hat sich nichts daran verändert, wenn man Figuren entwerfen will, die unserer Erfahrung der Welt entsprechen, deren Gefühle mit unseren vergleichbar sind und deren Handlungen, so bizarr und unerwartet sie auch sein mögen, einer gewissen Logik folgen, weil sie im Rahmen des Nachvollziehbaren und Menschenmöglichen liegen. Diese Figuren breiten nicht plötzlich ihre Flügel aus und reiten auf Einhörnern davon. Hat sich im Realismus etwas Neues getan? – Ich glaube nicht. Was glauben Sie denn, weshalb der Realismus heute anders sein sollte als früher?

    Scheck: Aber hat sich denn unser Verhältnis zur Wirklichkeit nicht doch ein bisschen verändert, insofern, als die Wirklichkeit der Medien hinzugekommen ist als zentrale Erfahrung in den letzten Jahrzehnten jedenfalls?

    Franzen: Na ja, meinen Sie Reality Shows im Fernsehen?

    Scheck: Nein! Die Erfahrung einfach, dass man nicht nur in einer Stadt, in einem Dorf lebt und mit den Menschen dort zu tun hat, die man täglich sieht, sondern dass man alleine, ich habe mal gelesen, in der westlichen Welt pro Tag mit 3000 Werbebotschaften, Commercials, zum Beispiel bombardiert ist, 3000 Kaufbefehlen.

    Franzen: In gewissem Sinn könnte man das vielleicht schon eine irreale Welt nennen. Aber uns ist klar, dass sie irreal ist. Darin besteht zum Teil ja gerade ihr Reiz. Aus diesem Grund gerät mein altmodischer, seit über 100 oder 200 Jahren fast unveränderter Realismusbegriff in immer schärferen Gegensatz zu dieser künstlichen Welt, die wir erschaffen haben. Aber ich glaube nicht, dass sich die Gesetze, nach denen das Herz eines Menschen fühlt, geändert haben.

    Scheck: Und niemand in der Gegenwart, meiner Überzeugung nach, kann tatsächlich glaubhaftere Figuren aufs Papier bannen als Jonathan Franzen in seinen großen Familienromanen. Das sind ja ganz besondere Charaktere, die Sie uns schenken, auch in Ihrem Roman "Freiheit" mit Patty Berglund, Walter Berglund, ihren Kindern und natürlich mit Richard Katz, dem Punk-Musiker. An einer Stelle sagt dieser Richard Katz ironisch über die republikanische Partei, es ist doch die Partei der Freiheit. Warum Freiheit als zentrales Thema Ihres Romans?

    Franzen: Das ist die eine Frage, die ich nicht so gerne beantworte. Das Wort "Freiheit" wurde in den Vereinigten Staaten insbesondere während der letzten zehn Jahre so missbraucht, dass es ein dankbares Ziel abgab. Ich habe es als Überschrift für das Roman-Exposé gewählt, das ich vor dreieinhalb Jahren bei meinem Verlag einreichte, ohne wirklich zu wissen, was ich damit eigentlich meinte. Ich schrieb es einfach als Titel hin. Vielleicht habe ich zu diesem Zeitpunkt schon an eine Frau gedacht, die sich in ihrem Leben mit ihrer Familie in einer Vorstadt eingesperrt fühlt. Aber im Grunde entsprang der Titel meiner Verärgerung, wie der Begriff "Freiheit" durch die Politik und die Werbung in den USA missbraucht wird.

    Scheck: Hätte der Roman auch "Brüderlichkeit" oder "Gleichheit" heißen können?

    Franzen: No, I don't think so. "Gleichheit" nein, "Brüderlichkeit" no. – Diese Begriffe hätten andere Konnotationen als Freiheit. Das Wort "Freiheit" hat so viel Gewicht, dass es einem eine ironische Lesart einfach aufzwingt.

    Scheck: Wann immer in den letzten Jahren im deutschen Radio, im deutschen Fernsehen von Freiheit die Rede ist, dann geht es in Wahrheit zumeist um Steuersenkungen für die Reichen, um die Aushöhlung des staatlichen Gesundheitssystems oder die Abschaffung unserer öffentlichen Schulen. Welche Art von Freiheit hat denn Jonathan Franzen im Blick?

    Franzen: Genau auf diese Weise hat man den Begriff "Freiheit" auch in den USA aus politischen Gründen missbraucht. Aber was ich persönlich unter Freiheit verstehe, ist die eine Frage, die ich nicht beantworten will. Wenn meine Leser schon die viele Zeit investieren und diesen Roman lesen, dann sollen sie doch bitte auch fünf Minuten darüber nachdenken, warum dieser Begriff auf dem Titel steht. Ich leiste gerne ein bisschen Interpretationshilfe für meine Leser, aber wenn es um etwas so Zentrales für meinen Roman geht, überlasse ich das gerne den Lesern.

    Das vollständige Gespräch mit Jonathan Franzen können Sie in unserem Audio-on-Demand-Player hören.

    Jonathan Franzen: "Freiheit". Roman; aus dem Engl. von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld; Rowohlt Verlag, Reinbek 2010; 730 S., 24,95 Euro.