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US-Band Evanescence
Zurück mit Orchester

Weiche Stimme, harter Sound: Evanescence sind eine der erfolgreichsten Alternative-Rockbands. Zwei Jahre war es ruhig um die Amerikaner, nun sind sie zurück: Für das Album "Synthesis" ist die Stimme von Sängerin Amy Lee in großen Orchestersound eingebettet. Wie klingt diese Synthese?

Von Marcel Anders | 04.03.2018
    Frau steht auf einer Bühne und singt. Vier Scheinwerfer beleuchten die Bühne.
    "Es ist ein reines Nebenprojekt", sagt Amy Lee über den Evanescence-Sound im Orchestergewand. (Angel Marchini)
    Musik: "Overture"
    Amy Lee: "Ich habe immer für echte Streicher gekämpft – und sie auch bekommen. Schon beim ersten Album, auf dem wir denselben Arrangeur hatten wie heute: David Campbell. Aber jetzt setzen wir zum ersten Mal ein komplettes Orchester ein. Also Bläser, Glockenspiel, Harfe - das volle Programm. Es war die Gelegenheit, diesen Ansatz auf einen neuen Level zu bringen. Wir träumen von je her von einem großen Orchester-Sound. Und das ist es, was uns von normalen Rockbands unterscheidet - der epische Vibe, der etwas von einem Filmsoundtrack hat. Den maximieren wir hier."
    Das ist pures Understatement: Amy Lee ist eine klassisch geschulte Pianistin. Was sie hier präsentiert, ist eine musikalische Vision. "Synthesis" verzichtet auf traditionelle Rockinstrumente und macht das Sinfonische, das sonst netter Zuckerguss ist, zum tragenden Element. Wobei sich die 35-jährige so richtig austobt: Mit 28-köpfigem Orchester, 80-köpfigem Chor und atmosphärischen Elektro-Sounds. Der Hybrid aus Gothic-Rock und Metal, mit dem Evanescence 25 Millionen Alben verkauft und zwei Grammys gewonnen haben, weicht einem cineastischen Breitwandsound.
    "Ich würde sagen, es hat etwas von Danny Elfman trifft Massive Attack oder Björk - dieses wunderbar Epische. Diese tollen Streicher gemixt mit Elektronik. Das ist auch die Spezialität von Hans Zimmer, die in den letzten zehn Jahren in etlichen Filmen aufgetaucht ist. Und die mich sehr inspiriert. Es ist cool, in diese Welt abzutauchen."
    Musik: "Lacrymosa"
    Fokus auf unbekannten Songs
    Zwei Jahre lang war Amy Lee abgetaucht, hat sich durch den Katalog von Evanescence gehört, ihn auf seine Orchestertauglichkeit getestet, aber auch neue Stücke geschrieben. Das Ergebnis entstand 2017 in Nashville: Ein 16-Song-Parcours, der an Drama, Pathos und Leidenschaft kaum zu überbieten ist - große Gefühle, imposanter und mächtiger Klang. Dabei verzichtet die Band aus Little Rock sogar auf ihre bekanntesten Stücke. Ganz bewusst.
    "Für viele dürfte es eine Überraschung sein, dass es nicht nur die Hits sind. Im Grunde sind hier gerade mal drei Songs von unserem Debüt "Fallen" vertreten. Das einzige, um das wir nicht herumkamen, war "Bring Me Back To Life" aufzunehmen. Zum einen, weil es von der Struktur her perfekt dafür ist. Zum anderen ist es das Erste, was die Leute je von uns gehört haben. Insofern war es eine gute Gelegenheit, eine stärkere Version davon an den Start zu bringen."
    Musik: "Bring Me Back To Life"
    Ein Zugeständnis ans breite Publikum, das Evanescence seit 2003 bedienen. Den Song "Call Me When You're Sober" spart man dagegen zugunsten von Neuzugängen wie "Hi Lo" und "Imperfection" aus. Eine mutige Entscheidung - und ein Zeichen dafür, wo Amy Lee heute steht: Der Erfolg hat sie risikofreudig und selbstbewusst gemacht. Sie hat Soundtracks zu TV-Serien und Hollywood-Blockbustern komponiert, außerdem eine Solo-EP und ein Album mit Kinderliedern. Das Image der Gothic-Queen ist der kleinen Dame mit der bleichen Haut und den pechschwarzen Haaren längst nicht mehr genug. Als frischgebackene Mutter mit Wohnsitz Manhattan strotzt sie vor Tatendrang.
    Eine Frau sitz auf einer Bühne am Klavier.
    Amy Lee ist eine klassisch geschulte Pianistin (Angel Marchini)
    "Wichtig ist das Hier und Jetzt"
    "Je älter man wird, desto mehr erkennt man, wie kurz das Leben ist und man nicht eine Million Jahre hat, um alles auszuprobieren, was man gerne ausprobieren würde. Man macht es besser sofort. Das Gefühl habe ich immer öfter und ich sage auch nicht mehr: "Eines Tages tue ich dies oder das." Sondern: "Ich tue es jetzt." Insofern probiere ich momentan alles auf einmal. Mehr denn je zuvor. Das ist einer der Gründe für dieses Album."
    Musik: "Hi-Lo"
    Amy Lee ist stolz auf "Synthesis", bezeichnet das Album als Lebenstraum und persönlichen Ritterschlag. Und doch: Eine Fortsetzung soll es vorerst nicht geben. Dafür war der Aufwand zu groß und die Aufnahmen, die sie selbst finanziert hat, zu kostspielig. Außerdem will sie ihr zumeist jugendliches Rock-Publikum nicht überfordern.
    Das einzige Projekt seiner Art
    "Ich mache das bestimmt nicht noch einmal. Auf keinen Fall! Einfach, weil es so teuer war - und wahnsinnig viel Arbeit gekostet hat. Insofern war´s das - und ihr solltet es genießen! Es ist ein reines Nebenprojekt. Aber nicht der Übergang zu etwas in derselben Manier. Das Nächste muss wieder eine ganz andere Klangfarbe haben. Vielleicht wird es ja ein bisschen rauer."
    Musik: "My Immortal"
    Bis es soweit ist, wird "Synthesis" ausführlich live vorgestellt. Seit dem letzten Herbst sind Evanescence in Nordamerika, Australien und Japan unterwegs. Ende März folgen Konzerte in Stuttgart, Leipzig und Düsseldorf. In bestuhlten Hallen, mit aufwändigen Kostümen und lokalen Ensembles.
    "Aus finanzieller Sicht wäre es schlichtweg verrückt, mit festen Musikern zu touren. Deshalb sind sie in jedem Land unterschiedlich. Für die meisten Shows ist es eine zwanzigköpfige Besetzung. Für einige auch ein Symphonie-Orchester mit noch mehr Musikern."
    Musik: "Imperfection"