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Tony Kushners: "Willkommen in Deutschland"
Mit Kunst gegen autoritäre Systeme

Am Schauspiel Frankfurt wird Tony Kushners Bühnenstück "Willkommen in Deutschland" zum ersten Mal in Deutschland gezeigt - mit über 20 Jahren Verspätung und einer gewagten These.

Von Alexander Kohlmann | 02.04.2017
    Die österreichische Schriftstellerin und Regisseurin Marlene Streeruwitz am 8.10.2014 in Frankfurt/M.
    Die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz hat die Texte der Figur Zilla neu geschrieben. (picture alliance / dpa / Erwin Elsner)
    Zum Schluss geht alles ziemlich schnell. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit fährt das Dach des Bühnenbilds nach unten und raubt den Menschen jede Bewegungsmöglichkeit. Um ein Haar werden sie alle zerquetscht. An Widerstand ist nicht mehr zu denken. Die Menschen in der bunten WG aus Künstlern, Kommunisten und Studenten haben zu lange gewartet. Das aufkommende Nazi-Reich können sie nicht mehr verhindern.
    "Die Hälfte der Leute auf der Kundgebung heute denken, die Nazis seien Sozialisten. Die Hälfte der Nazis sind Sozialisten. Das ist doch keine Ideologie, keine Partei, das ist ein scherbiger Haufen zusammen Geborgtes von überall her. Eine bildende Kollage".
    Das Stück "Willkommen in Deutschland" schrieb Tony Kushner bereits 1985. Auf dem Höhepunkt der Reagan-Ära warnt der Text davor, zu lange zu warten, wenn Bürgerrechte eingeschränkt werden. Das Stück handelt nur scheinbar von einer Gruppe von Menschen am Vorabend der Nazi-Barbarei. Eigentlich ging es schon damals um die Gegenwart.
    Parallelen zum Deutschland der Gegenwart?
    Damit das auch jeder merkt, hat der Autor die Figur der Zilla in den Text eingeschrieben.
    "In der Uraufführung von diesem Stück, das war 1985 in New York, meine Rolle, die Rolle der Zilla, hallo, die wurde da von einer Schauspielerin gespielt, die auch als Komikerin bekannt war, auf jeden Fall war die eine politische Aktivistin und furchtbar wütend auf Reagan und seine Politik."
    Zilla blickt von heute auf die tatenlosen Deutschen des Jahres 1933. Eindringlich warnt sie: Wenn ihr euch so in euren kleinen Egoismen verliert, wird es irgendwann zu spät sein. Amerika drohe unter Reagan der Untergang - wie Deutschland unter Hitler, behauptet das Stück.
    Eine kraftvolle Warnung war das, die sich zum Glück nicht bewahrheitet hat. Heute, über zwanzig Jahre später, ist die Reagan-Ära selbst Geschichte. Und das Urteil über den damals heftig kritisierten Präsidenten fällt vielfach milde aus. Umso mehr überrascht es, dass das Schauspiel Frankfurt ausgerechnet jetzt diesen Text wieder ausgegraben hat.
    Die Parallelen zum Deutschland der Gegenwart seien erstaunlich, lautet die steile These. Um die zu belegen, hat das Schauspiel Frankfurt die Texte der Figur Zilla neu schreiben lassen. Die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz schickt eine junge Frau im Hosenanzug auf die Bühne, die unsere Gegenwart im Deutschland der 30er-Jahre wiedererkennt.
    "Und wir? Wir haben uns nie eine andere Kultur gewünscht als diese verlogenen Tragödien. Wir haben es immer so sehen wollen, genau so, und deshalb, und deshalb bekommen wir das gleiche jetzt wieder. Wie damals."
    Es wird also alles wieder wie damals? Der angebliche Hang zur Tragödie führt dazu, dass in Deutschland wieder "dasselbe" passiert? Die Thesen, die Autorin Streeruwitz der Zilla in den Mund legt, sind erstaunlich - vor allem deshalb, weil sie so gar nichts mit dem Deutschland der Gegenwart zu tun haben.
    Da ringen auf der Bühne Menschen in akkuraten Kostümen aus den 20er-Jahren um Auswege aus dem aufziehenden nationalsozialistischen Terror. Da wird sich auf dem Boden gesuhlt, gevögelt und verdrängt - und die eigene politische Eitelkeit höher bewertet als ein entschlossener gemeinsamer Widerstand. Auch dann, als es bereits die ersten Toten gibt, als jeder ahnen kann, wohin die Reise geht.
    Die Bilder verschwimmen zu einem grotesken Zerrbild
    Und Zilla, die Frau aus der Gegenwart? Sie verfolgt ohnmächtig das Treiben der Vergangenheit und spricht von den toten Flüchtlingen im Mittelmeer.
    "Auf Sizilien wird ja kein Fisch mehr gegessen. Also ich weiß nicht, wie das anderswo am Mittelmeer ist, aber von Sizilien weiß ich es. Wissen Sie warum, also warum die kein Fisch mehr essen? Die Leichen, die vielen, vielen Leichen. Jedenfalls ist bei uns auch alles gerade nicht so einfach."
    Die Bilder vermischen sich und verschwimmen zu einem grotesken Zerrbild: Die Verbrechen der Nazi-Zeit werden hier aus derselben Perspektive gesehen wie die tragischen Toten der Gegenwart.
    Der Vergleich und die Behauptung, das Deutschland von heute habe irgendetwas mit dem Deutschland von 1933 zu tun, ist so ungeheuerlich, dass man ihn nicht ernsthaft diskutieren muss. Es ist fatal, mit welcher Schlichtheit hier historische Analogien gesucht und auf der Bühne behauptet werden. Eine Schlichtheit, die das Stück allerdings auch schon zur Zeit seiner Uraufführung während Reagans Präsidentschaft höchst problematisch machte. Denn natürlich hatte dieser Präsident ebenso wenig etwas mit Hitler zu tun wie das Deutschland von heute mit der zerfallenden Demokratie von 1933.