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US-Musikerin Brisa Roché
Mal introvertiert, mal exzentrisch

Brisa Roché wuchs in einer kalifornischen Hippiefamilie auf. Von diesen und anderen Erfahrungen singt sie auf ihrem abwechslungsreichen fünften Album "Invisible 1". In ihren Texten versetzt sie sich schon mal in die Rolle eines Mannes, beim Songschreiben arbeitete sie mit Demos, die ihr Fans zuschickten.

Von Christiane Rebmann | 18.09.2016
    Der Blick über die Innenstadt von Paris (Frankreich) am 16.08.2015. In der Mitte ist der Eiffelturm zu sehen, rechts im Bild der Invalidendom. Das Foto entstand vom Hochhaus Tour Maine-Montparnasse.
    Blick über die Innenstadt von Paris: Wahlheimat der amerikanischen Musikern Brisa Roché. (picture alliance / dpa / Kevin Kurek)
    Musik: "Lit Accent"
    "Ich dachte: Wie wäre es, wenn ich mir quasi die Hände hinter dem Rücken zusammenbinden würde? Wenn ich Songs zu einem Sound schreiben müsste, der nicht von mir stammt, der nicht unbedingt mit meiner Welt oder meinem Geschmack zu tun hat."
    Ausgesprochen mutig.
    Wandelbar.
    Experimentierfreudig.
    "Ich erarbeitete mir alle Gesangsarrangements und das Songwriting auf der Basis von Demotracks, die mir Menschen geschickt hatten, die ich nie gesehen hatte und die mich nie gesehen hatten."
    Aufgewachsen in einer nordkalifornischen Hippiefamilie. Auf ihrem ersten Album "The Chase”, das 2005 beim Blue Note Label über den Multi EMI erschien, hatte sie noch Rock mit Folk, Ska, Jazz und Electronic gemischt. Ihr zweites Werk "Takes" mit englisch- und französischsprachigem psychedelic Indiepop wollte die Plattenfirma nicht veröffentlichen. Es war den Verantwortlichen nicht kommerziell genug. Die Wahlpariserin wich damals auf einen Lizenzvertrag aus, über den auch ihr drittes Album "All right now" erschien. Den Stil bezeichnete Roché als Garage-Disco-Psycho-Pop. Vor vier Jahren spielte sie mit dem Frauen -Trio The Lightnin 3 das Pop Album "Morning, Noon and Night” ein. Ihr letztes Solo-Werk "All right now" hatte sie noch im Alleingang geschrieben und produziert.
    Songdemos von Fans angefordert
    Für ihr aktuelles Album ließ sich die kalifornische Musikerin Songdemos von Kollegen und Fans mailen und steuerte neue Melodien, den Gesang, die Instrumentierung und die Arrangements bei. Sie suchte die Herausforderung, sich auf fremde Ideen einstellen zu müssen.
    "Ich sagte mir: Ich bekomme dauernd Songs von Leuten, von Toningenieuren oder von Musikern, mit denen ich gearbeitet habe oder von Fans. Ich mache nie etwas damit, weil ich es bisher nie gebraucht habe. Und weil sie nicht unbedingt meinen Geschmack trafen. Ich dachte: Wäre es nicht interessant, wenn ich meine Songs auf der Basis von Musik schreibe, die ich womöglich nicht mal mag?"
    Ein Vorgehen, das die vielseitige Künstlerin in anderen Arbeitsbereichen schon lange anwendet: Etwa wenn sie für ihre selbst geschneiderten Kleider 2nd Hand Stücke verwendet oder beim Malen Leinwände, auf denen schon jemand gemalt hat.
    Musik: "Walk with me"
    Roché forderte Freunde, Fans und Kollegen im Internet auf, ihr Songideen zu schicken. Und innerhalb kurzer Zeit landete eine riesige Zahl von Ideen in ihrem Computer.
    "Ich bemühte mich, die Songs nicht gleich zu verwerfen, wenn mir nicht sofort etwas dazu einfiel. Ich gab ihnen mehr Zeit. Einige Tracks waren sehr elektronisch, andere analog. Einige waren praktisch nackt, andere schon durch arrangiert. Die meisten waren ziemlich linear. Mir blieb also viel Raum, durchs Songwriting noch eine Dynamik darauf aufzubauen. Ich wollte mich aber auch selbst fordern, ohne Urteil auf das zu reagieren, was ich hörte. Ich dachte zum Beispiel: Das hier klingt wie ein R&B Teen Girl Group Hit. Dann singe ich eben auch so."
    Sie nannte das Album "Invisible 1”, weil sie durch die neue Arbeitsweise quasi unsichtbar sein konnte und sich befreit fühlte von ihrem eigenen Urteil und von den Erwartungen anderer Menschen. Und so gibt die 40-Jährige hier mal die introvertierte Melancholikerin, mal die extrovertierte Disco-Diseuse.
    Musik: "Echo of what I want"
    Während der getragene Gesang in "Echo of what I want” an den ihrer jüngeren Kollegin Lana del Rey erinnert, klingt Roché im Song "Diamond Snake” eher wie eine Gospel Queen. In diesem Stück über eine Beziehung, die auf Grund von Missverständnissen auseinander zu brechen droht, herrscht eine feierliche, nahezu sakrale Stimmung.
    "Einer der Songs, die mich überrascht haben, war "Diamonds Snake". Weil da R&B und Gospel drin ist. Normalerweise hätte ich mir nicht erlaubt, etwas aufzunehmen, das so kommerziell, so nach Teenie Musik und R&B klingt. Ich hätte gesagt: Du bist nicht mit der schwarzen Kultur in den USA aufgewachsen. Welches Recht hast du, diese Musik zu singen, die nichts mit deiner Kindheit zu tun hat? Aber ich wollte mir ja erlauben, neue Dinge zu tun. Und so überraschte ich mich selbst damit, wie ich für den Gesang kommerziell klingende Tricks verwendete. Davon kann man einige in diesem Song hören."
    Musik: "Diamond Snake"
    Mit ihrer ausdrucksvollen Stimme spielt die brünette Musikerin mal die Femme Fatale, die liebeskranke Loserin oder das verträumte Hippiemädchen. Oder sie schlüpft in die Rolle eines Mannes, der sich nicht binden will. Auf "Invisible 1" gibt Brisa Roché mehr von sich preis, als sie es normalerweise tut.
    "Eine ganze Menge Songs auf diesem Album sind Liebeslieder. Mit Einschränkungen. Sie sind wie Briefe. Wo es doch heutzutage kaum noch Briefe aus Papier gibt, sind Songbriefe wunderbar. Bei Joni Mitchell kann man ja immer ganz genau hören, wie sich die Beziehung entwickelt. Aber bei den Songs auf diesem Album ist das nicht so. Das könnte man nur raushören, wenn man alle Songs, die ich für dieses Album geschrieben habe, durchhört. Ansonsten halte ich das lieber geheimnisvoll."
    In ihren Texten geht es um Liebesbeziehungen, die nicht so richtig funktionierten. Zum Beispiel in der Country Folk Ballade "Night Bus".
    Lederhose verscherbelt
    "Ich steckte in einer Trennung von einem Mann, mit dem ich später noch einmal zusammenzog. Es war die Liebesgeschichte meines Lebens. Zu der Zeit war mein Herz gebrochen. Ich war nach Seattle gezogen. Meinen Job dort musste ich gleich wieder kündigen. Ich hatte gemeldet, dass dort einiges illegal gelaufen war. Und das kam nicht so gut an. Ich brauchte also Geld und verkaufte all meine Lieblingsbücher und Cassetten auf einem Antiquitätenmarkt in Seattle. Ich verscherbelte sogar die Lederhose, die mir ein älterer norwegischer Maler, mit dem ich in der Wüste von New Mexico eine Affäre gehabt hatte, als Andenken geschenkt hatte."
    Von dem Geld kaufte sie ein Ticket für den Greyhound Bus.
    "Ich fuhr die Küste runter und rauf, von Seattle nach San Francisco und wieder zurück - und wieder runter und zurück. Ich hatte das Gefühl, ich muss in Bewegung sein. Das befreite mich. Wenn man reist, muss man nichts anderes tun, um sich gut zu fühlen. Man kann sich erlauben, nichts zu tun. Weil man ja schon etwas tut. Man reist."
    Musik: "Night Bus"
    Zu Singer Songwritern wie Donovan oder Joni Mitchell, die sie als Kind hörte, kamen später noch andere Künstler wie PJ Harvey, Blondie, Human League oder Can dazu, deren Musik sie als angenehm hypnotisch beschreibt. Die vielseitige Musikerin ist ein typisches Produkt der kalifornischen Hippie-Epoche. Ihre Eltern experimentierten mit der freien Liebe. Das klappte dann doch nicht so gut. Und am Ende trennten sie sich. Brisa fand damals eine Strategie, mit der Scheidung ihrer Eltern klarzukommen.
    "Ich hatte schon als Kind angefangen zu schreiben. Tagebuch, Gedichte und Geschichten. Das war wohl meine Methode, dem, was sich in meinem wirklichen Leben abspielte, eine positive Richtung zu geben. Indem ich es romantisch klingen ließ oder heldenhaft."
    Später fand sie Trost und Anregung in der Literatur der Beatgeneration.
    "Schon mit elf oder zwölf las ich beat poets wie Lawrence Ferlinghetti und dachte darüber nach, wie cool es war, dass er Details aus dem normalen Alltag nahm und sie dann in ein so besonderes Licht rückte, dass sie magisch erschienen. Das war meine Philosophie als Teenager: Das Magische im Normalen zu finden."
    Brisa Roché sang schon als Kleinkind viel mit ihrer Mutter. Als Dreizehnjährige reiste sie mit einem Chor durch Russland und Rumänien und trat in Kirchen auf. Kurz nach der Konzertreise fing die talentierte Künstlerin an, eigene Songs zu schreiben. Sie ließ sich von einem Freund ein Schlagzeug bauen und nahm Schlagzeug-, Gitarren- und Keyboardunterricht. Der Song "A Minute" bezieht sich auf eine entscheidende Phase in Brisa Rochés musikalischer Sozialisierung. Man hört die leicht verträumte, psychedelisch anmutende Stimmung durch, die die Plattensammlung ihrer Eltern prägte.
    Musik: "A Minute"
    Die eigenwillige Musikerin verbrachte ihre Kindheit in der Nähe der US Kleinstadt Arcata, ohne Strom und Telefon. Es war eine freie Kindheit mit sehr wenigen Regeln. Sie konnte sich ohne Einschränkungen in der Natur bewegen. Aber ihr Leben war auch unstet. Mit 16 entschloss sie sich, die Wildnis Nordkaliforniens zu verlassen und bei ihrem Vater in Seattle zu leben. Er war Alkoholiker, drogensüchtig, und er dealte. Er starb im Alter von 48 Jahren an Leberversagen. Nach seinem Tod zog Brisa zu ihrer Mutter zurück. Über einen Freund der Familie, einen Saxophonisten, lernte sie den Jazz kennen, tauchte komplett in diese Welt ein und sang eine Zeitlang fast nur Jazz Standards. Mit ihrer eigenen Band tourte sie durch England, Spanien, Marokko und Frankreich. Dort blieb sie hängen, ließ sich von der kreativen Atmosphäre in Paris treiben und kehrte nach einem Jahr nach Kalifornien zurück, um kurz danach endgültig in die französische Hauptstadt umzusiedeln.
    "Natürlich haben wir US-Amerikaner diese romantische Sicht auf die Stadt. Dazu kommt der visuelle Aspekt - die Tatsache, dass alles dort alt ist und dass sich die Männer und Frauen, die dort über die Jahrhunderte etwas schufen, der Schönheit verpflichtet fühlten. Das alles ist großartig. Aber vor allem kann ich endlich die Früchte der Kämpfe, die ich so lange ausgefochten habe, ernten. Musikerkollegen fragen mich, ob ich mit ihnen bei ihren Projekten zusammenarbeiten möchte. Sie bitten mich, mit ihnen Songs oder Texte zu schreiben, Backup Vocals aufzunehmen, etwas für sie zu malen oder Kostüme für sie zu entwerfen. Ich habe also das Gefühl, dass sich all die Energie und Zeit, der Schweiß und die Tränen, all die Romanzen, die ich hier erlebt habe, endlich auszahlen. Und das ist ein Wert, den man nicht beschreiben kann."
    Von den Terrorattacken, die Frankreich in der letzten Zeit erschütterten, lässt sie sich nicht beirren - auch nicht davon, dass sich die Anschläge letzten November auch gegen Musiker richteten.
    Durch Terror noch mehr mit Paris verbunden
    "Ich war gerade nach Paris zurückgezogen. Ich hatte hart darum gekämpft. Es fühlte sich wie ein großer Triumph an, als ich endlich wieder dort lebte. Nach den Terroranschlägen dachte ich: Nicht mal das kann mich von dieser Stadt wegreißen. Im Gegenteil. Der Terror führte dazu, dass ich mich noch mehr mit der Stadt verbunden fühlte. Viele meiner Freunde fragten mich: Bereust du nicht, dass du diese bukolische Idylle in Nordkalifornien verlassen hast und jetzt an diesem Ort lebst, in dem Gefahr und Gewalt lauern? Ich antwortete: "Nein. Ich lebe lieber hier.”
    Also bezieht sie ihre Wahlheimat sogar in ihre Songtexte ein.
    "Find me” spielt definitiv in Paris. Auch wenn es nicht viele Details gibt, die auf die Stadt hinweisen. Aber ich stelle mir hier Paris bei Nacht vor. Ich singe: "Wenn ich es schaffe, gehe ich heute Nacht wieder aus. Er wird mich finden, wenn ich über Paris spreche."
    Musik: "Find me"
    Viele Songs von Brisa Roché leben von Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend. Der Text in "Each one of us" verbindet diese mit Betrachtungen über die Beziehungsfallen, in die sie als Frau immer wieder gerät.
    "Mein Vater hatte einen VW Bus. Darin lebten wir, wenn wir uns mal wieder in den Bergen vor der Polizei verstecken mussten, weil mein Vater Marihuana angebaut hatte. Wenn ein VW Bus zusammengebrochen war, holte er sich einen neuen alten. All diese Bullies malte er selbst an, meist in Tarnfarben. Diese Autos machten mir Angst. Sie waren so schrottig, dass ich in der Kurve immer das Gefühl hatte: Gleich kippt die Karre um."
    Autos in Verbindung mit Männern
    Das Thema Autos lässt sie seitdem nicht los. Vor allem das Thema Autos in Verbindung mit Männern – diese Kombination hat in den USA eine ganz besondere Bedeutung.
    "Ich bin fasziniert von den großen amerikanischen R&B Popproduktionen, in denen Männer über ihre Autos singen und darüber, wie sie in ihren Autos Sex mit Frauen haben. Sie protzen vor den Frauen damit, wie großartig ihr Auto ist und wie toll der Sex in diesem Auto sein wird. Ich beschäftige mich hier mit der poetischen Symbolik von Autos. Ich beschreibe hier auch Situationen, die ich selbst in Autos erlebt habe und die meisten Frauen da draußen wahrscheinlich auch. Im Refrain verwende ich die Bewegung als Metapher für die Freiheit. Ich beschreibe eine Beziehung, in der die Freiheit eine wichtige Rolle spielt. Und Autos werden nun mal mit Freiheit assoziiert."
    In "Each one of us" präsentiert sie sich nicht - wie man erwarten könnte - in machomäßiger Rockermanier, sondern überrascht mit luftigem Folkrock und verwundbar wirkender Chanson-Komponente. Dies ist vielleicht der Song, dem man am ehesten ihre Wohn-Umgebung anhört. Denn es scheint auch eine Verneigung vor ihren französischen Helden, der Gruppe Air, zu sein.
    Musik: "Each one of us"
    Ihr letztes Album hatte sie noch im Haus ihrer Eltern aufgenommen, wo die Musiker ohne fließendes Wasser und mit Strom aus dem Generator auskommen mussten. Die Kollegen waren neugierig auf den Ort gewesen, von dem sie schon so viel gehört hatten, erzählte Brisa. Außerdem habe man so Geld sparen können, weil es im Haus viele Schlafplätze gibt und weil ihr Stiefvater den örtlichen Bioladen betreibt. Diesmal mietete sie sich in der Nähe ihrer Eltern ein.
    "Wir zogen in ein Haus in Arcata, wo es Strom gab. Ich richtete mir ein Studio in der Garage ein.
    Innen ans Fenster spannte ich eine Spitzengardine, damit die Leute nicht sehen konnten, dass ich dieses ganze Equipment da drin hatte. Draußen vor dem Fenster gab es einen Garten mit Bäumen. Das Haus stammte aus den 50er Jahren und lag in einem sehr ruhigen Viertel am Rand von Arcata. Da gab es diese alten portugiesischen Farmen und viktorianischen Häuser. Also nichts Extravagantes."
    Musik: "You like a fire"
    Für die zierliche dunkelhaarige Musikerin, die ihr Gesicht mit einem dramatischen Augen-Make Up inklusive balkenartigem Eyeliner betont, ist das Genderthema immer wichtig gewesen.
    Im Disco Funk Song "Groupie" verwandelt sie sich in einen Mann, der mit der Macht spielt, die er als Prominenter hat.
    "In vielen meiner sexuellen Fantasien bin ich ein Mann. Es geht hier um einen Rockstar, der sagt: Komm, wir haben Sex. Ich nehme mir, was ich will. Wir werden eine perfekte Nacht haben. Aber komm mir danach nicht und frag mich, warum du dich in diesen Traum verliebt hast. Es ist ein dummer Traum. Er ist nur eine Illusion."
    Musik: " Groupie"
    Brisa Roché ist heute eine anerkannte Musikerin, die in Paris ihr Zuhause gefunden und fünf erfolgreiche Alben herausgebracht hat. Sie schreibt Ballettmusik und erhält hier und da Aufträge für Soundtracks wie den zum Film über Yves Saint Laurent. Aber sie musste lange darum kämpfen, in der Musikszene ernst genommen zu werden.
    "Mit diesem Thema muss ich mich immer wieder auseinandersetzen, weil bei mir die Arbeit Priorität hat und weil ich so erfolgreich wie möglich sein muss, um weiterarbeiten zu können. Also tue ich immer wieder Dinge, nur um als Frau erfolgreich zu sein. Obwohl ich sie nicht für richtig halte."
    Komprisse und rasierte Beine
    Die ehrgeizige Künstlerin geht dafür immer wieder Kompromisse ein. In ihren jungen Jahren hätte sie keine Zugeständnisse an ihre Karriere gemacht.
    "Als ich jünger war, war ich viel feministischer eingestellt. Ich weigerte mich, mir die Beine zu rasieren und mich bei Treffen mit Männern so hinzusetzen, wie man das von einer Frau erwartete. Und dann kam ich an einen Punkt, wo ich sagte: Okay, jetzt versuche ich es mal mit konventionellerem Verhalten und Aussehen. Das Resultat war ebenso deprimierend wie erschreckend. Aber es war wie eine Befreiung. Plötzlich öffnete sich die Welt für mich, und alles lag mir zu Füßen. Ich dachte: Meine Güte, jetzt bin ich 25, und ich habe mir mit meiner Einstellung quasi die ganze Zeit selbst alle Möglichkeiten verbaut. Und jetzt wo ich mich den Regeln beuge, ist alles so viel leichter, und ich kann tun, was ich tun will. Das war so ernüchternd."
    Es ließ all ihre vorherigen Kämpfe und Bemühungen bedeutungslos, überflüssig und dumm aussehen, beschwert sie sich heute.
    "Ich muss aber auch sagen, dass es inzwischen einige visuelle feminine Aspekte gibt, mit denen ich Spaß haben kann, wenn ich will. Aber letzten Endes muss ich genau wissen, warum ich mich den Regeln beuge, denen ich mich als Frau zu beugen habe".
    In der Gesellschaft hat sich in dieser Hinsicht nicht viel verändert, konstatiert sie.
    "Als Musikerin muss ich nicht nur dünn, jung und sexy sein. Dazu kommt noch: wenn ich mit Männern arbeite, muss ich erst mal durch die Phase, in der sie mich nicht als ebenbürtig behandeln. Ich muss ihnen schmeicheln, damit sie mir folgen. Das ist ein weiterer Grund, warum es so schön für mich ist, in Paris zu sein. Ich habe dort diese Phase schon mit vielen der Männer, mit denen ich arbeite, überwunden. Jetzt respektieren sie mich. Ich muss nicht kämpfen, damit sie mich wie einen normalen Menschen behandeln."
    Ungewöhnlich sanft gibt sie sich im Song "Baby come over" mit laszivem Gesang zu aggressiverem Gitarrensound.
    Musik: "Baby come over"
    Seit sie Mutter geworden ist, beschäftigt sich die US Künstlerin noch eingehender mit dem Thema Emanzipation.
    "Ich habe eine Tochter, die ist jetzt fünfeinhalb. Und ich frage mich: Was soll ich ihr beibringen? Dass sie Turnschuhe anzieht, in denen sie gut rumrennen kann? Und dass sie mit ihrem Körper so lange wie möglich frei umgeht? Das wäre meine Tendenz. Aber vielleicht sollte ich ihr doch lieber so früh wie möglich zeigen, wie man sich in Pumps bewegt, damit sie sich daran gewöhnt und sich wohl darin fühlt. Ich habe erst mit 30 gelernt, High Heels zu tragen. Ich kann immer noch nicht darin laufen. Für die Karriere kann das aber sehr wichtig sein. Ich beneide diese Frauen, die in High Heels herumlaufen, als seien sie darin aufgewachsen."
    Mein Hinweis, dass ihre Tochter wahrscheinlich sehr früh selbst entscheiden wird, welchen Weg sie gehen will, macht sie nachdenklich.
    "Wahrscheinlich haben Sie Recht. Wir leben schließlich in der Stadt. Meine Eltern konnten mich so formen, wie sie es wollten. Weil wir isoliert lebten und ich auf eine Privatschule ging. Ich hatte sehr wenig Kontakt zur Außenwelt. Und als ich dann in die Welt rausging, hatte ich schon all diese Gedanken entwickelt: Ich wollte rebellieren, nicht klein beigeben, mir selbst treu sein, auch wenn es unbequem war."
    Musik: "Disco"
    Wenn Brisa Roché im Song "Disco" vom Morgen danach singt, erinnert sie an The Mamas and the Papas, vor allem aber an die Madonna der 80er Jahre. Sie beklagt, dass sich die Rolle der Frau in der Popmusik im letzten Jahrzehnt eher in Richtung Unfreiheit bewegt hat. Musikerinnen wie Beyonce behaupten zwar, sie seien Feministinnen, sagt sie. Aber obwohl sie sie als Künstlerin schätzt – die Feministin nimmt sie ihr nicht ab. Dafür sei Beyonce viel zu sehr mit ihrer eigenen sexuellen Attraktivität beschäftigt.
    "Gerade gibt es so viele Popstars, die meist noch jünger sind als Beyonce, die darüber reden, dass sie sich aus freien Stücken so präsentieren und weil es ihnen Spaß macht. Aber ich glaube es ihnen nicht. Vielleicht ist das eine Generationensache. Aber ich habe den Eindruck, dass Beyonce nicht nur viel über ihren Körper spricht. Sie presst ihn auch so zurecht, dass er die Form hat, die klassisch als sexuell attraktiv gilt. Sie zwängt die Teile ein, die nicht groß zu sein haben und schiebt die Teile vor, bei denen Üppigkeit angesagt ist. Ich verstehe nicht, wie sie sich so als Feministin bezeichnen kann. Höchstens vielleicht, wenn sie das auf die Art bezieht, wie sie ihre Karriere unter Kontrolle hat. In der Art wie sie sich präsentiert, scheint sie von Stereotypen geleitet."
    Slapbass und funky Gitarren
    Brisa Roché mag es subtiler. In "Vinylize" beschreibt sie zwischen funky Gitarren, Slapbass und 80er Synthie-Sounds die Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich zu einander hingezogen fühlen, sich aber eher aus der Ferne beobachten.
    "Ich traf jemanden, der mich wie verzauberte. Ich sagte: Ich küsse dich jetzt. Aber die andere Person glaubte mir nicht, weil sie mich nicht kannte. Und dann traf ich diese Person auf einer Party wieder und sah sie die ganze Zeit an, wobei mich die anderen beobachteten. Der Text ist ziemlich wörtlich zu nehmen. Vinylize you. Das ist nur meine Art zu sagen: Ich werde dich jetzt auf meine Art verzaubern."
    Musik: "Vinylize"
    Egal ob das mit dem Verzaubern bei der anvisierten Person geklappt hat – der Charme ihrer Musik zeigt bei Anhängern anspruchsvoller Popmusik auf jeden Fall Wirkung.