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US-Rabbiner
Amerika soll Grenzen für europäische Juden öffnen

Ein prominenter US-Rabbiner will offene Grenzen für jüdische Einwanderer aus Europa. Der jüdische Publizist Hannes Stein kann ihn verstehen. Er wünscht sich, dass sein Sohn in einem Umfeld aufwächst, in dem "Jude-Sein" etwas Undramatisches ist. Hannes Stein ist vor zehn Jahren nach New York ausgewandert. Ein Gespräch über die Immigration jüdischer Europäer nach Amerika.

Hannes Stein im Gespräch mit Andreas Main | 24.02.2015
    Straßenkreuzung im New Yorker Stadtteil SoHo
    Der New-York-Times-Kolumnist Roger Cohen sagt über seine Erfahrungen als Einwanderer in New York: "Es ist eine große Erleichterung als Jude nach New York City zu kommen, es ist eine neue Chance. (dpa / picture alliance / Maximilian Schönherr)
    Alle reden über die Frage: Ist Europa noch sicher für Juden? Und sollen sie wirklich nach Israel auswandern? Wir wollen heute über eine Alternative sprechen: die USA. Kurz nach dem Anschlag auf den jüdischen Supermarkt in Paris sagte die ZEIT-Korrespondentin Gisela Dachs hier bei Tag für Tag im Deutschlandfunk, dass sie nicht mit einer großen Einreisewelle in Israel rechne:
    "Zumal ja auch Juden in Frankreich, die sich dort weniger sicher fühlen und darüber nachgedacht haben, vielleicht zu gehen, durchaus auch andere Ziele, vor allem Amerika ins Auge fassen, um sich dort niederzulassen. Ich denke, die nach Israel kommen, sind tatsächlich die traditionell Orientierteren und Religiöseren. Während andere junge Leute, wenn sie denn eine Auswanderung ins Auge fassen, New York im Kopf haben – oder Kalifornien, eben eher jenseits des Atlantiks."
    Europäische Juden sind verunsichert
    Das ganze Gespräch können Sie nachhören und nachlesen auf unserer Tag-für-Tag-Internetseite, auf deutschlandfunk.de. Und der New York Times Kolumnist Roger Cohen – er sagt dies über seine Erfahrungen als Einwanderer in New York:
    "Es ist eine große Erleichterung als Jude nach New York City zu kommen, es ist eine neue Chance. Die grauen Wolken sind verschwunden, der Verlust der Heimat. Doch für einige ist der Neuanfang zu überwältigend, so war es bei meiner Mutter. Selbst die aufgeschlossensten europäischen Gesellschaften sind nichts im Vergleich zur Offenheit der Vereinigten Staaten – einem Land, für das die Einwanderung immer noch eine große Bereicherung ist."
    Aus einem Gespräch mit NPR, National Public Radio. Ähnliche Erfahrungen wie Roger Cohen hat Hannes Stein gemacht. Er ist vor zehn Jahren ausgewandert. Mit einer Green Card. Und auch er hat vor einiger Zeit darüber ein Buch geschrieben: "Tschüß Deutschland! Aufzeichnungen eines Ausgewanderten." Hannes Stein ist Jude – und er bekennt sich dazu. Er schreibt unter anderem für die "Jüdische Allgemeine“ und für die "Welt". Dort hat er jüngst unter der Überschrift "Kommt in die USA!" einen Appell eines prominenten amerikanischen Rabbiners kommentiert. Dieser Rabbiner ruft die US-Regierung dazu auf, Europas Juden Asyl zu gewähren.
    Andreas Main: Hannes Stein in New York, wenn Sie eine Kipa trügen, würden Sie angstfrei durch New Yorks Straßen gehen?.
    Hannes Stein: Absolut.
    Andreas Main: Tun Sie das?
    Stein: Ich bin nicht fromm genug. Ich bin außerdem nicht sozialisiert, wie man auf Deutsch – glaube ich – sagt. Ich bin es nicht gewohnt. Würde ich frömmer, dann würde ich natürlich mit einer Kipa raumlaufen. Ich kann Ihnen sogar mal eine kleine Geschichte erzählen, die ich am Anfang hier erlebt habe. Und zwar bin ich in Brooklyn spazieren gegangen. Und es gibt in Brooklyn ein Gebiet, wo ziemlich viele Muslime sind – das sind vor allem Syrer interessanterweise, lange bevor der Bürgerkrieg jetzt in Syrien war. Ich gehe also dort, und dann kommt eine Gruppe sehr frommer Muslime gerade aus der Moschee und sie tragen ihre langen Gewänder und ihre muslimischen Hauben. Und um die Ecke biegt ein jüdischer Mann mit einer Kipa und steuert genau auf Gruppe zu. Und ich zücke sozusagen schon mein Handy, um 911 zu wählen, weil ich dachte, das gibt bestimmt Probleme. Und es gab überhaupt keine Probleme, sondern der Mann mit der Kipa ging einfach an den Muslimen vorbei und die Muslime gingen an dem Mann mit der Kipa vorbei und das war's.
    Den Staat Israel interessiert, dass es dem Staat Israel gut geht
    Main: Die Ausreiseappelle, die jetzt aus Israel kommen, führen die nicht zu einer Schwächung der jüdischen Gemeinden und des jüdischen Lebens in Europa? Also die Flucht von Juden, das wäre ja jedenfalls nicht das, was die Mehrheit der Deutschen will, behaupte ich mal.
    Stein: Ja, das kann sein. Aber niemanden kann es wundern, wenn israelische Politiker dazu aufrufen. Übrigens ist es ja nicht nur Netanjahu. Es ist ja nicht eine rechte Sache, wenn israelische Politiker Juden dazu auffordern, nach Israel auszuwandern. Der Staat ist dafür gegründet worden, damit dort Juden einwandern. Die ganze Staatsidee Israels ist: Wir wollen einen Staat haben, in dem wir für unserer eigene Sicherheit verantwortlich sind. Das ist sozusagen ein Naturgesetz, das israelische Politiker Juden jetzt dazu auffordern, aus Europa auszuwandern. Die Stärkung jüdischer Gemeinden ist erst einmal nichts, was den Staat Israel interessiert. Den Staat Israel interessiert, dass es dem Staat Israel gut geht.
    Main: Dann gab es auch die Forderung aus den USA: Kommt doch nach Amerika, Juden aus Europa! Was bewegte diesen Rabbiner?
    Stein: Ich kenne ihn ganz gut – Shmuel Herzfeld. Das ist ein modern-orthodoxer junger pfiffiger Rabbiner in einer Synagogen-Gemeinde in Washington D.C. Er hat eigentlich nicht gesagt: Kommt nach Amerika! Sondern er hat gesagt: Amerika hat die Pflicht in Anbetracht der Geschichte, denn Amerika hat ja während des Völkermordes, also in den 30er/40er Jahren die Tore geschlossen gehabt. Das muss man ja wirklich so sagen. Ich meine, es gab ein paar – Albert Einstein und so ein paar Prominente -, die es geschafft haben. Aber die allermeisten Juden, die einen Zufluchtsort gebraucht hätten, haben ihn damals nicht bekommen. Und deswegen sagt Rabbi Shmuel Herzfeld, in Anbetracht dieser Geschichte hat Amerika jetzt die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, die Tür aufzumachen. Das heißt, europäischen Juden eine Option zu bieten. Ob und wie viele Juden diese Option wahrnehmen, weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, dass Amerika eine andere Diaspora ist als Europa. Das muss man wirklich sagen – aus verschiedenen Gründen.
    Main: Was sind die zentralen Unterschiede?
    Stein: Der erste Unterschied ist, dass es hier nie eine Frage von Toleranz war, Juden aufzunehmen. Toleranz heißt ja, ich hätte die Macht, jemanden abzuweisen oder schlimm zu behandeln, tue es aber nicht und bin stattdessen lieb zu ihm. So viel Macht hatte der Staat in Amerika aber nie. Es gibt diesen berühmten Brief der ersten Synagoge in Amerika. Es war – wie das natürlich immer so ist – eine sephardische Synagoge, die saß in Rhode Island. Ich bin dort gewesen, es gibt sie, diese Synagoge. Und diese Synagogen-Gemeinde schreibt einen Brief an George Washington und bittet um die Anerkennung als Staatsbürger. Und Washington schreibt einen Brief zurück, ein hochinteressantes Dokument, wo er sagt, erstens: selbstverständlich seid ihr Staatsbürger und zweitens es ist nicht in meiner Macht, euch das zu gewähren; sondern Staatsbürger seid ihr einfach deshalb, weil ihr hier seid. Das ist ein vollkommen anderes Verständnis als in Europa, wo der Fürst oder der König oder die Mehrheitsgesellschaft gnädig einer Minderheit Toleranz gewährt. In Amerika muss man nicht jemanden Toleranz gewähren, sondern das Recht, eine Synagoge, oder was weiß ich was, aufzumachen, das hat man hier einfach. Das ist der erste Unterschied. Der zweite Unterschied ist, dass Juden hier eine Minderheit unter tausend und eins anderen Minderheiten sind. Ich war gestern zufällig in Queens – das ist ein Stadtteil in New York, der ethisch gemischteste Stadtteil, wo sich Moschee an Synagoge an Kirche an Hindu-Tempel schließt – und zwar auf engstem Raum. Das heißt, Juden fühlen sich hier nie in der Minderheit, weil es absurd ist. Und ich behaupte mal, dass das sogar irgendwo im Mittleren Westen gilt, wo es nicht so ethisch gemischt ist wie in Queens, ganz einfach, weil das Verhältnis ein anderes ist. Ach, du bist Jude – das ist einfach uninteressant.
    Main: Sie schreiben, Ihr Sohn soll in einem Umfeld aufwachsen, in dem Jude-Sein etwas Undramatisches ist.
    Stein: Ja.
    Main: Inwieweit werden Synagogen in New York dennoch bewacht?
    Stein: Na, kaum. Also wenn wir hier am Shabbes, also Schabbat, in die Synagoge gehen, steht eigentlich meistens nichts davor. An Hohen Feiertagen ist es manchmal ein Auto des NYPD, manchmal organisieren sie noch einen privaten Wachdienst – das ist dann mehr, um diese Menge irgendwie zu modellieren. Aber es gibt kaum ein Bewusstsein einer Bedrohung. Synagogen haben nicht diese Panzerglas-Polizeiautos-davor-Anmutung, die man aus Deutschland kennt. Und das hat etwas sehr Befreiendes. Direkt nach den Anschlägen in Paris habe ich mit einem der jungen Rabbiner unserer Gemeinde darüber gesprochen, und ich sagte, wie fremd das für mich ist. Und der sagte, na ja, wir wollen jetzt dafür sorgen, dass es – er sagte: more eyes on the street – gibt. Also, mehr Leute, die auf der Straße gucken, was los ist. Aber auch das ist nicht etwas, wo man die Polizei ruft oder irgendwelche Israelis, israelische Studenten beschäftigt, sondern das ist dann mehr was, was die Gemeinde selber macht.
    Main: Michael Wolffsohn ist Historiker aus München. Der hat in einer grandiosen Replik, wie ich finde, auf Sie geschrieben, dass Amerikas Juden nicht die Zeichen an der Wand erkennen, wenn sie sich in Sicherheit wiegen. Muslimische Terroristen, so schreibt er, morden Juden, meinen aber eigentlich die freie Gesellschaft: "Sie meinen dich, mich, uns." Was antworten Sie?
    Stein: Erstens antworte ich darauf, dass der Religionsfrieden in New York immer noch funktioniert. Das ist sehr interessant. Er hat nach 09/11 funktioniert, und er funktioniert immer noch. Das heißt, wir haben hier wirklich Kirche neben Synagoge neben Moschee. In den Moscheen wird zum Teil furchtbares Zeug gepredigt, was nach dem First Amendment vollkommen okay ist. Aber es heißt noch nichts. Das zweite ist, Muslime in Amerika – das rechnet sich hier anders. Muslime hier sind meistens oberer Mittelstand bis Oberschicht. Muslime hier sind Manager, Professoren, hochbezahlte Spezialisten, gebildete Leute. Es ist ja eben interessant, dass 09/11 – sie haben keinen einzigen amerikanischen Muslim gefunden, der das macht. Ich glaube übrigens auch nicht, dass amerikanische Juden sich komplett in Sicherheit wiegen, aber ich glaube, dass es wirklich ein anderes Umfeld ist. Es gibt zum Beispiel diesen verbreiteten Anti-Israelismus nicht. Die meisten Amerikaner – ich meine nicht-jüdische Amerikaner – finden Israel irgendwie in Ordnung. So etwas wie die Beschneidungsdebatte, die es in Deutschland gab, ist hier gar nicht führbar. Es ist, glaube ich doch, ein anderes Umfeld. Ich meine, ich gebe zu: Wir waren neulich in einem größeren Steakhouse essen – das heißt Le Marais. In Paris gab es ja im Marais-Viertel den berühmten Anschlag auf Goldenberg in den 80er Jahren. Und ich dachte auch wieder, hier kann man reinspazieren und Leute umnieten. Das ist überhaupt kein Problem, weil es keine Sicherheit gibt. Vielleicht reicht auch meine Phantasie nicht aus. Vielleicht hat Wolffsohn Recht, und meine Phantasie ist zu arm. Kann sein.