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US-Turnverband
Skandal um sexuellen Missbrauch

Die Vorwürfe sind schwer: Der US-Turnverband USA Gymnastics soll laut Recherchen der Tageszeitung "Indianapolis Star" jahrelang Trainer in seinen Vereinen geduldet haben, die junge Athleten sexuell belästigt haben.

Von Heiko Oldörp | 18.12.2016
    US-Turnerin Alexandra Raisman bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio auf dem Schwebebalken
    Laut Medienberichten wurden Hunderte Athleten von Trainern und Betreuern des US-Turnverbandes jahrelang sexuell belästigt. (Imago)
    Es ist in der Tat beunruhigend, was da in den vergangenen Tagen von der Tageszeitung "Indianapolis Star" veröffentlicht wurde. Die Fakten verpassen dem gerade in diesem Olympia-Sommer so glänzenden Image des US-Turnverbandes tiefe Kratzer. USA Gymnastics habe, so ergaben Recherchen über neun Monate, jahrelang Trainer in seinen Vereinen geduldet, obwohl sie nachweislich junge Turnerinnen sexuell belästigt und sich mitunter sogar an ihnen vergangen hatten.
    Aktenordner voller Beschwerden
    Schlimmer noch: von 54 Übungsleitern gab es im Zeitraum zwischen 1996 und 2006 Aktenordner voller Beschwerden im Verbands-Hauptsitz in Indianapolis - dennoch wurde nichts unternommen, kein einziger Fall an die Behörden weitergeleitet. Es wurde nicht einmal eine Täterkartei erstellt - so dass die Trainer beispielsweise nach dem Rauswurf bei einem Verein zum nächsten Club weiterziehen und sich dort neue Opfer suchen konnten.
    Bereits unmittelbar vor Beginn der Sommerspiele hatte der "Indianapolis Star” erstmals über das Versagen von USA Gymnastics berichtet, doch der Fall fand kaum Beachtung. Denn Amerikas Turnerinen sorgten in Rio für viele glanzvolle Momente. Das Gold überstrahlte die dunklen Wolken. Vor allem Simone Biles begeisterte Millionen Landsleute, gewann viermal Gold - unter anderem am Boden.
    "USA Gymnastics ist nicht transparent"
    Es sind Leistungen wie die von Biles, die kleine Mädchen in den USA animieren, inspirieren und zum Turnen bringen. Becca Seaborn hat einst auch große Ambitionen gehabt. Sie trainierte als Kind bei Mark Schiefelbein. Was weder sie noch ihre Eltern wussten: zu diesem Zeitpunkt hatte der US-Verband bereits einen acht Zentimeter dicken Ordner voller Beschwerden über Schiefelbein - unternahm jedoch nichts. So konnte der Coach ungehindert in Kalifornien, Utah, Texas und Illinois arbeiten, ehe er nach Tennessee kam - und Seaborn sexuell belästigte, als sie zehn Jahre alt war:
    "Was, wenn er untersucht worden wäre? Wenn Eltern Bescheid gewusst hätten? Wir wären niemals zu ihm gegangen. Aber weil USA Gymnastics nicht transparent ist in dem, was gegen diese Trainer, die mit Minderjährigen arbeiten, vorgebracht wird, kann nichts getan werden.”
    2003 ist Schiefelbein unter anderem wegen vorsätzlicher sexueller Körperverletzung in sieben Fällen zu 36 Jahren Gefängnis verurteilt worden.
    Nicht der erste Skandal dieser Art
    Seaborn ist heute 26 Jahre alt und schaut gerne im Fernsehen Turnen. Allerdings, so fügt sie an, zucke sie immer dann zusammen, wenn die Athletinnen nach den Übungen zu ihren Trainern gehen und sie umarmen. Es gebe viele großartige Übungsleiter, so Seaborn. Aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen denke sie jedoch immer zuerst an das Schlimmste.
    Der jetzige Skandal in nicht der erste im US-Sport, bei dem Trainer das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen ausnutzen - und von oberster Stelle nichts dagegen unternommen wird, aus Angst vor einem Imageschaden. So hatte der US-Schwimm-Verband in der Vergangenheit ebenfalls mit Übungsleitern zu kämpfen, die sich an Schützlingen vergingen, sie sexuell belästigten oder in der Kabine beim Umziehen heimlich filmten.
    US-Turnverband reagiert zurückhaltend
    In Sportarten wie Turnen oder Schwimmen werden gerade im Frauenbereich die Athletinnen immer jünger. Die Besten von ihnen, so hieß es im TV-Sender "CBS", würden aufgrund des hohen Trainingsaufwandes mehr Stunden mit dem Übungsleiter verbringen, als im eigenen Elternhaus. Und eben dieses Verhältnis sei, so bedauerlich es auch ist, "prädestiniert für Missbrauch”.
    Der US-Turnverband hält sich zu all den Vorwürfen bedeckt. Präsident Steve Penny meidet die Medien. Bereits im Sommer ließ er wissen, dass es in erster Linie an den Kindern oder deren Eltern liege, Verstöße zu melden. Aktuell heißt es seitens des Verbandes, dass es nichts Wichtigeres gebe, als den Schutz der Athleten.
    Die Zahlen verraten jedoch etwas anderes: Laut "Indianapolis Star" haben mindestens 386 Turnerinnen angegeben, in den vergangenen 20 Jahren sexuell angegriffen worden zu sein. Es sei anzunehmen, so heißt es, dass die Dunkelziffer weitaus höher liege.