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Amerikanische Juden beantragen deutschen Pass

Deutlich mehr amerikanische Juden, deren Vorfahren der Vernichtungsmaschinerie des Hitler-Regimes entkamen, beantragen zurzeit die deutsche Staatsbürgerschaft. Hat es mit Trump zu tun? Mit antisemitischen Vorfällen in den USA? Oder wiegt die deutsche NS-Vergangenheit mittlerweile weniger schwer? Eine Motivsuche.

Von Jürgen Kalwa | 09.06.2017
    Ein jüdischer Mann läuft durch Brooklyn, New York, um an den Feierlichkeiten zum Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest am 3. Oktober 2016, teilzunehmen.
    Ein jüdischer Mann läuft durch Brooklyn, New York, um an den Feierlichkeiten zum Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, teilzunehmen. (Kena Betancur / AFP)
    So unterschiedlich ihre Geschichten auch sind. So sehr ähneln sie einander.
    Daniel Lehmann:
    "Mein Vater lebte die ersten acht Jahre in Leipzig. Die Familie konnte 1937 Deutschland verlassen. Sie ging zuerst nach Frankreich, dann nach Brasilien und während des Krieges in die USA, nach New Orleans."
    Daniel Lehmann, Rabbiner und Leiter des Hebrew College in Newton, einem Vorort von Boston.
    Daniel Lehmann, Rabbiner und Leiter des Hebrew College in Newton, einem Vorort von Boston. (Deutschlandradio / Jürgen Kalwa)
    Hans Strauch:
    "Meine Mutter war aus Hamburg, wo ihr Onkel und Vater das bekannte Architekturbüro Gerson & Gerson besaßen. Viele Gebäude stehen noch, obwohl die Stadt stark bombardiert wurde. Sie sind per Schiff nach Kalifornien. Mein Vater ist der Adoptivsohn von Hans Lachmann-Mosse, dem Herausgeber des Berliner Tageblatts, einer alteingesessenen Zeitung."
    Der jüdische Architekt Hans Strauch. Er hatte nach dem Fall der Mauer die Aufgabe, am Leipziger Platz in Berlin-Mitte ein Bürogebäude zu bauen.
    Der jüdische Architekt Hans Strauch. Er hatte nach dem Fall der Mauer die Aufgabe, am Leipziger Platz in Berlin-Mitte ein Bürogebäude zu bauen. (Deutschlandradio / Jürgen Kalwa)
    Kevin Hale:
    "Mein Vater aus Hamburg und meine Mutter aus Breslau hatten ältere Geschwister, die zuerst ausgewandert sind. Sie hatten Glück, dass sie noch Anfang 1939 herausgekommen sind."
    Der Rabbiner Kevin Hale. Er lebt in Leeds im US-Bundesstaat Massachusetts.
    Der Rabbiner Kevin Hale. Er lebt in Leeds im US-Bundesstaat Massachusetts. (Deutschlandradio / Jürgen Kalwa)
    Sensibilität für das deutsche Erbe
    Die drei Männer haben noch etwas anders gemeinsam. Sowohl Daniel Lehmann als auch Hans Strauch und Kevin Hale, die Söhne deutscher Juden, die der Vernichtungsmaschinerie der Nazis entkommen konnten, besitzen seit kurzem zu ihrem amerikanischen auch einen deutschen Pass. Es ist mehr als ein praktisches Reisedokument für Abstecher nach Europa. Den Angehörigen der nächsten Generation gibt es die Chance, in Deutschland und den anderen Ländern der EU zu leben.
    Das ist für sich genommen nicht bemerkenswert, denn Artikel 116, Absatz 2 des Grundgesetzes garantiert ihnen ausdrücklich das Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Doch was auffällig ist: Ihre Zahl ist im letzten Jahr stark gestiegen. Die Motive liegen bei jedem der drei etwas anders. Für Daniel Lehmann, ein Rabbiner und Leiter des Hebrew College in Newton, einem Vorort von Boston, war es eine besondere Verbindung zum musischen und geistigen Leben Deutschlands.
    Er erzählt: "Es hat mit ästhetischen Sensibilitäten zu tun. In unserer Familie wurde Musik groß geschrieben. Deutsche Musik. Meine Kinder besitzen einen ausgeprägten Sinn für ihr deutsches Erbe. Hillel, mein Sohn, fühlte sich während des Studiums stark zu Heidegger hingezogen. Und er begreift sich als Deutsch. Auch weil im Judentum die deutschen Juden etwas Besonderes waren."
    "Unser Blick gehört der Zukunft"
    Doch etwas anderes war mindestens ebenso wichtig: Die Verwurzelung in einer Denktradition aus dem Deutschland des 19. Jahrhunderts, als der Prozess der Assimilation begann.
    "Ich unterrichte Seminare in modernem jüdischen Denken. Da stehen viele deutsche Juden im Mittelpunkt, die das Gefühl hatten, Deutsch sei die einzige Sprache, um ihre Ansichten über das Judentum artikulieren zu können."
    Für Hans Strauch gab es andere Anknüpfungspunkte. Er hatte als Architekt nach dem Fall der Mauer die Gelegenheit, am Leipziger Platz in Berlin-Mitte ein Bürogebäude zu bauen. Auf dem Gelände, das zunächst vom NS-Staat beschlagnahmt worden, dann in DDR-Besitz übergegangen war. Und das nach 1990 seiner Familie ordnungsgemäß zurückgegeben worden war. Es gab weitere Begebenheiten, die sein Interesse an dem neuen Deutschland verstärkten.
    "Mein Bruder und ich, wir geben diese Einstellung an unsere Kinder weiter: Wir lassen uns nicht von der Vergangenheit definieren. Unser Blick gehört der Zukunft."
    Eine Zukunft, für die sich immer mehr interessieren. Im Zuständigkeitsbereich des Bostoner Generalkonsulats vervierfachte sich die Zahl der Anträge in diesem Frühjahr im Vergleich zum ersten Quartal 2016. Anlass für eine kleine Feierstunde. So wie neulich, als eine Reporterin des lokalen Radiosenders WBUR da war und über das Ereignis berichtete. Ralf Horlemann, der Generalkonsul:
    "Sie haben sich für die Wiedereinbürgerung entschieden. Was für einige sicher sehr schwer war, wenn man daran denkt, weshalb Ihre Familien überhaupt die Staatsbürgerschaft verloren haben. Und an den Holocaust."
    Gestiegener Antisemitismus
    Kevin Hale, ebenfalls Rabbiner, der in Leeds/Massachusetts lebt, fand seine Zeremonie bemerkenswert.
    "Ich weiß die Sensibilität gegenüber diesem fürchterlichen Verbrechen zu schätzen, für das es keine Wiedergutmachung gibt. Aber, was mich vor allem beeindruckt hat, war, dass wir nicht einfach nur abgefertigt wurden. Nach dem Motto: "Sie sind jetzt Staatsbürger. Die Vergangenheit ist die Vergangenheit." Der Generalkonsul sagte: Ich solle mich nicht bei ihm bedanken. Wir nähmen nur etwas in Anspruch, was uns sowieso zusteht. Im Gegenteil, er sei uns dankbar dafür, dass wir dies tun."
    Solche Erfahrungen sprechen sich in den USA herum. Genauso wie die Zahlen, über die Oren Segal von der jüdischen Anti-Defamation League im Mai bei einer Veranstaltung in Washington berichtete. Antisemitische Zwischenfälle stiegen 2016 gegenüber um 34 Prozent, der Zuwachs 2017 war noch dramatischer.
    "In Denver, for example, there was graffiti that said 'Kill the Jews, vote for Trump’. In Florida: 'Trump is going to finish what Hitler started.’"
    Niemand vermag zu sagen, ob das politische Klima in den USA mitverantwortlich ist für das wachsende Interesse an einer zweiten Staatsbürgerschaft. Denn diese Frage wird bei der Antragsannahme niemandem gestellt.
    Verbindung zum Deutschland von heute
    Und noch etwas wird kaum einmal thematisiert. Diese Entscheidung Verwandten und Freunden zu erklären, fällt nicht immer leicht. Die deutsche Vergangenheit wiegt schwer. Und die Frage, so sagt Rabbi Daniel Lehmann, lautet automatisch: Ist das nicht so etwas wie Verrat?
    "Obwohl ich auf vielerlei Weise das Gegenteil empfinde. Dass dies ein Weg ist, um nicht nur eine Verbindung zum Deutschland von heute, sondern auch zum jüdischen Leben in Deutschland herzustellen. Etwas was ich sehr attraktiv und sehr aufregend finde."
    Wozu gehört, dass Rabbi Lehmann überlegt, vielleicht sogar irgendwann in das Land seiner Vorfahren zu ziehen.