"Shiva Baby" auf Mubi

Eine Trauerfeier wird zur Komödie

12:15 Minuten
Im Still aus Emma Seligmans "Shiva Baby" hält die Protagonistin auf einer Trauerfeier ein belegtes Brötchen in der Hand.
Geglücktes Debüt: Für die Komödie "Shiva Baby" gab es bereits auf mehreren Filmfestivals Applaus. © Mubi
Emma Seligman im Gespräch mit Susanne Burg · 12.06.2021
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Emma Seligmans Debütfilm "Shiva Baby" zeigt die 20-jährige Danielle auf einer Shiva, einer jüdischen Trauerfeier. Die Familie bedrängt sie mit Fragen und Danielle verliert zunehmend die Kontrolle, vor allem in ihrem Kopf.
Susanne Burg: "Shiva Baby" ist ein Debütfilm, der schon auf einigen Festivals, darunter in Toronto, gefeiert wurde und auch gern mal als "Sinfonie der Beklemmung" beschrieben wird. Der Film beginnt mit einer Sexszene: Danielle, Anfang 20, hat Sex mit einem Mann. Ihm erzählt sie hinterher, dass sie Jurastudentin ist und zu einem Brunch mit wichtigen Leuten muss. In Wirklichkeit geht sie zur Shiva, der einwöchigen jüdischen Trauerzeit nach dem Tod eines Verwandten.
Dort trifft sie auf viele Verwandte, die entweder hinter ihrem Rücken über sie reden oder ihr sehr direkte Fragen stellen. Auch ihre Affäre taucht plötzlich bei der Feier auf. Danielle stolpert von einer unangenehmen Situation in die nächste. Emma Seligman hat die Comedy "Shiva Baby", die jetzt bei der Plattform MUBI zu sehen ist, geschrieben und Regie geführt. Warum gerade eine Trauerfeier als Setting für eine Komödie?
Emma Seligman: Ich dachte, es würde den größten Kontrast herstellen. Bei einer Shiva muss man sehr respektvoll sein. Danielle ist, aus Sicht der Trauergäste, nicht sehr respektvoll. Ich fand es als Kind in meiner aschkenasischen Reformgemeinde immer lustig, dass sich Shivas wie jede andere Familienveranstaltung anfühlten, vielleicht sogar noch etwas ausgelassener, weil ich glaube, dass Witz und Komik einem dabei helfen, mit Verlust und Trauer umzugehen.
Wir hatten gerade jemanden beerdigt, erzählten uns danach Witze und teilten uns sehr viel gegenseitig mit, überschritten alle möglichen Grenzen, stellten neugierige Fragen, prahlten und aßen sehr viel. Ich dachte, das könnte noch lustiger sein, wenn ich es in einer Geschichte zuspitze und es besonders ungemütlich für die Protagonistin werden lasse.
Susanne Burg: Danielle ist etwas ziel- und orientierungslos, was ihr Leben angeht. Sie findet sich plötzlich zwischen diesen ganzen Familienmitgliedern wieder, die ihr alle die gleichen Fragen stellen: Bist du fertig mit der Uni? Hast du schon einen Mann gefunden? Es wirkt ein bisschen wie ein Wettbewerb, wer die perfekteste Familie präsentieren kann. Macht das für Sie einen großen Teil von Familienfeiern aus?
Emma Seligman: Auf jeden Fall! Ich glaube, jeder junge Mensch sieht sich mit solchen Fragen konfrontiert. Aber wenn man Leute trifft, die einen lieben und über die Jahre begleitet haben, wollen die auch wissen, wie man weitermacht. Sie fragen einen aus Liebe, Neugier und Aufregung aus, aber vielleicht auch aus Sorge. Das erhöht natürlich den Druck. Ich glaube, das ist sehr verbreitet.

Immer neue Herausforderungen vor die Füße

Susanne Burg: Ja, es gibt Wärme und Interesse, aber die Gäste reden auch schlecht hinter dem Rücken der anderen; es gibt Neid und Wettbewerb. Wie groß war die Herausforderung für Sie, im Film die Balance zwischen diesen Kräften herzustellen?
Emma Seligman: Ich habe versucht, bei allem eine Balance zu halten. Einige Charaktere tendieren etwas mehr in die eine oder andere Richtung. Ich glaube, es gibt einen großen Unterschied, ob die Menschen sich im kleinen Kreis privat unterhalten oder in einem größeren Rahmen mit Leuten, die sie nicht kennen. Es ging für mich darum, die Balance zwischen diesen beiden Gesprächssituationen zu halten und Danielle immer neue und überraschende Herausforderungen vor die Füße zu legen.
Susanne Burg: Danielle muss ständig Herausforderungen bewältigen. Es gibt eine zunehmende Atmosphäre der Eskalation. Aber vieles davon spielt sich in ihrem Kopf ab. Andere Comedys hätten die Eskalation vielleicht veräußerlicht, also in die Handlung eingebaut und vielleicht wirklich Situationen bei der Shiva eskalieren lassen. Sie haben davon nur wenig Gebrauch gemacht. Warum?
Emma Seligman: Zum einen ganz praktisch gesehen: Wenn sie zum Beispiel den Mann konfrontiert hätte, mit dem sie eine Affäre hat und der zufällig mit Frau und Baby auch bei der Shiva ist, wäre die Spannung weggewesen. Aber zum anderen benehmen wir uns im realen Leben auch nicht so.
Besonders in öffentlichen Situationen konfrontieren die Menschen andere selten damit, wie sie sich fühlen und was sie wirklich sagen wollen, erst recht nicht bei Familienfeiern. Ich glaube einfach nicht, dass Danielle den Menschen sagen würde: "Hört auf, mir diese Fragen zu stellen." Oder: "Das geht euch nichts an." Ich fand es realistisch, dass sie keine Kontrolle über die Situation hat, dass ihr alles entgleitet und sie zunehmend das Selbstvertrauen verliert.

Paranoia und Angst im Kopf

Susanne Burg: Es gibt diese Atmosphäre der Eskalation, die aber im Kopf von Danielle stattfindet, es gibt eine sehr klaustrophobische Stimmung und der Film spielt an einem Tag und einem Ort. Wie schwierig war es, bei so einem Setting das Drehbuch zu schreiben?
Emma Seligman: Das Schwierigste war, eine Spannung zu schaffen und Gründe zu kreieren, warum Danielle bei der Shiva bleibt. Beim Schreiben hat sich anfangs der Ton viel verändert, weil ich mir nicht ganz sicher war. Ich wollte erst, dass es sehr geerdet und realistisch wirkt. Aber jedes Mal, wenn ich das versuchte, fühlte es sich langweilig an. Denn wenn es wirklich ein realistischer Film wäre, würde vieles davon erst gar nicht passieren. Ich wollte außerdem, dass der Film lustig und interessant wird, ohne dass er in den Slapstick abrutscht.
Irgendwann kam ich dann darauf, mit Danielles Paranoia und Angst zu spielen und vieles in ihrem Kopf stattfinden zu lassen. So musste ich nur nach Möglichkeiten suchen, sie mit schwierigen Situationen zu konfrontieren. Ich konnte mit Absurdität und Lächerlichkeit im Film arbeiten. Alles ergibt Sinn, solange es aus ihrer Perspektive erzählt wird.

Als würden die Wände einstürzen

Susanne Burg: Wie haben Sie dabei mit Ihrer Kamerafrau Maria Rusche zusammengearbeitet, um auch dieses Gefühl von einer kreisenden Welt zu erzeugen, die ihr immer bedrohlicher näher kommt?
Emma Seligman: Ich habe während des Schreibens verschiedene Filme geguckt, die in einem ähnlichen Kontext stattgefunden haben. Also: an einem Tag und einem Ort. Viele dieser Filme sind mir im Gedächtnis geblieben. Viele davon waren Thriller, psychologische Thriller oder Horrorfilme.
Ich habe Maria Rusche diese Filme gezeigt und wir haben eine Art Abkürzungssystem geschaffen. Darauf konnten wir dann am Set immer wieder zurückgreifen. Einige unserer Referenzen waren ziemlich gruselig wie "Black Swan" von Darren Aronofsky oder "Opening Night" von John Cassavates. Der einzige Film, der nicht gruselig war, war "Die Reifeprüfung".
Meine Kamerafrau hat dann vorgeschlagen, mit anamorphischen Linsen zu arbeiten. Das hat die Ränder so schön rund gemacht, sodass es aussah, als ob die Wände auf Danielle einstürzen. Es sollte nur nicht zu lächerlich wirken, nicht wie ein Zerrspiegel im Gruselkabinett. Wir wollten auch nicht, dass sich diese klaustrophobische Bildsprache zu häufig wiederholt und eintönig wird.
Maria hat daher sichergestellt, dass jeder Raum unterschiedlich aussah, und eigene Mittel benutzte, um die Enge, Klaustrophobie und Angst zu erzeugen. Auch Farbe und Licht waren dabei natürlich wichtig.

Dominante Umgebungsgeräusche

Susanne Burg: Auch die Tonspur ist extrem wichtig. Nicht nur die Musik, die Spannung erzeugt, sondern auch die Umgebungsgeräusche. Ein Sound, der zum Beispiel immer wieder auftaucht, ist das Weinen des Babys bei der Shiva, das Kind von Danielles Affäre. Das trägt auch zum Gefühl der Spannung bei.
Emma Seligman: Das schreiende Baby stand so nicht im Drehbuch. Das passierte organisch, weil es nicht aufhörte zu schreien. Das tat mir so leid. Aber es hat viele unserer Aufnahmen verhagelt. Es hat in vielen Szenen geweint, in denen es nicht sollte und war still, wenn es weinen sollte. Aber meine Produzenten haben mich dazu gebracht, dass ich irgendwie damit umgegangen bin. Ich habe manche Szenen ein bisschen umgeschrieben, sodass es passte.
Als wir den Film dann geschnitten und gemischt haben, habe ich immer gesagt: Können wir noch etwas mehr von dem Weinen haben? Können wir es lauter machen? Es hat definitiv viel zum Sounddesign beigetragen.
Neben der Musik wollte ich bestimmte Töne sehr dominant haben, beispielsweise der Unfall mit dem Nagel, der sich in ihr Bein schiebt, oder das Buchregal, das umfällt und kaputt geht. Es sollte sich so anfühlen, als seien wir in Danielles Kopf. Es sollte sich also für uns genauso laut anhören wie für sie.

Beim Dreh improvisiert

Susanne Burg: Sie sagen, Sie mussten das Drehbuch etwas an das schreiende Baby anpassen. Sie hatten alles intensiv vorbereitet, aber wie viel Improvisation gab es, auch beim Dialog?
Emma Seligman: Da wir nicht viel Probezeit bezahlen konnten, haben sich die Schauspieler viele Szenen erst am Tag selbst während des Make-ups gegenseitig laut vorgelesen. Normalerweise macht man das Wochen vor dem Dreh. Wir haben einige Szenen dann auch noch umgeschrieben, damit es den Schauspielern leichter von den Lippen geht. Oder weil ich merkte, dass etwas nicht funktionierte. Aber es gab auch Improvisation, vor allem von Polly Draper, die Danielles Mutter spielte.
Das ist toll, aber wenn du nicht viel Geld und Zeit hast und es unerwartet kommt, ist es vor allem kinematographisch nicht ganz einfach, damit umzugehen. Wir können nicht zu lange in einer Einstellung verharren. Aber ja, auch Rachel Sennott, die Danielle spielt und Comedian ist, hat hier und da kleine Veränderungen vorgenommen, damit es etwas lustiger wird.

Sehr erwachsen innerhalb eines Tages

Susanne Burg: Sie haben schon einmal mit Rachel Sennott gearbeitet. War es Ihnen wichtig für die Rolle von Danielle, dass sie Erfahrungen im Comedybereich hatte?
Emma Seligman: Als ich sie das erste Mal für den Kurzfilm gecastet habe, war es nicht so wichtig, aber dann habe ich gemerkt, wie hilfreich es für eine Comedy ist. Sie hat ihren sehr eigenen Stil mitgebracht und die Unbeholfenheit und Peinlichkeit noch unterstrichen, sodass es mir immer wichtiger wurde. Es hat dem Film sehr geholfen.
Susanne Burg: Der Film ist eine Coming-of-Age-Geschichte. Wie erwachsen wird Danielle innerhalb dieses einen Tages?
Emma Seligman: Ich glaube sehr. Wir bekamen irgendwann einen guten Rat: Wenn das alles an einem Tag passieren soll, muss dieser Tag Danielles Leben verändern. Warum gucken wir ihn uns sonst an? Ich habe mich viel mit Rachel unterhalten. Sie hat häufig gefragt: Was wird Danielle nach diesem Tag machen? Wie sieht ihre Zukunft aus? Rachel scherzte, dass Danielle wohl kaum nach Hause geht und einen Juwelierladen aufmacht.
Auch wenn es kitschig klingt, ich glaube, erwachsen werden bedeutet auch, dass einem klar wird, wie wenig man über sich selbst und über die Welt weiß. Dass man als Frau leider viel zu häufig ein geringes Selbstbewusstsein besitzt und viel getan hat, um das zu überdecken oder die Leere zu füllen. Ich glaube, Danielle ist an diesem Tag an ihrem absoluten Tiefpunkt angekommen. Aber genau das gehört wohl zum Erwachsenwerden auch dazu.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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