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Flüchtlinge und Bildung
"Deutschland hat großartige Arbeit geleistet"

Deutschland wird im neuen UNESCO-Weltbildungsbericht ausdrücklich für die Integration von Flüchtlingen ins Bildungssystem gelobt. Auch Ulrich Kober von der Bertelsmann-Stiftung bewertet die Bemühungen Deutschlands positiv. Nicht nur der Staat, auch zivilgesellschaftliche Initiativen hätten zu dem Erfolg beigetragen, sagte er im Dlf.

Ulrich Kober im Gespräch mit Stefan Heinlein | 20.11.2018
    Kinder einer Willkommensklasse nehmen in Berlin in der Leo-Lionni Grundschule am Deutschunterricht teil.
    Kinder einer Willkommensklasse nehmen in Berlin in der Leo-Lionni Grundschule am Deutschunterricht teil. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Stefan Heinlein: Am Telefon ist nun Ulrich Kober. Er ist Direktor des Bereiches Integration und Bildung der Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag, Herr Kober.
    Ulrich Kober: Ja, guten Tag!
    Heinlein: Erklären Sie uns: Bildung und Integration, warum sind das zwei Seiten einer Medaille?
    Kober: Ja, weil natürlich es bei der Integration darum geht, dass Menschen teilhaben können an der Gesellschaft, und der zentrale Weg dorthin, der funktioniert in unseren Gesellschaften über Bildung. Das heißt, im Bildungsbereich werden die Chancen verteilt, die Wege geebnet, dass Kinder und Jugendliche dann später in der Gesellschaft, am Arbeitsmarkt Erfolg haben können. Insofern ist der große Hebel, der Königsweg für gelingende Integration eine gute Bildung.
    Heinlein: Nun wissen wir, weltweit sind Millionen Menschen auf der Flucht, vor allem viele Kinder. Sie gehen oft jahrelang nicht zur Schule. Wir haben es gerade gehört in dem Bericht. Ist das eine tickende Zeitbombe?
    Kober: Ja, das ist zumindest das, was dann verzweifelte Eltern auf den Weg in die weitere Flucht treibt. Das ist ja gerade der Fall gewesen, den wir auch in Deutschland erlebt haben, dass syrische Familien teilweise jahrelang in Jordanien, im Libanon, in der Türkei unter schwierigen Verhältnissen ausgeharrt haben, keinen wirklichen Zugang hatten dann in die Bildungssysteme für ihre Kinder, und sich natürlich zunehmend Sorgen gemacht haben, dass hier eine ganze Generation ihrer Kinder den Anschluss verpasst. Das war auch der Grund, warum dann viele sich auf den Weg gemacht haben nach Europa.
    Zugang zu Bildung nicht die Regel
    Heinlein: Kann man auch sagen, dass in entwickelten Ländern in Europa, bei uns in Deutschland Flüchtlinge, Migranten eine bessere Chance auf Integration durch Bildung haben als in Entwicklungsländern, wenn sie etwa in Syrien oder in Libyen oder in anderen Ländern Schwarzafrikas bleiben?
    Kober: Ja, das ist absolut der Fall. Tatsächlich in diesen Ländern, die Flüchtlinge unmittelbar aufnehmen, sind die Infrastrukturen natürlich noch viel weniger ausgearbeitet und ausgebaut wie bei uns, und da ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass die Kinder unmittelbaren Zugang zur Schule haben. Das geht sogar so weit: In manchen Kämpfen Afrikas, weil der UNHCR sich um die Flüchtlinge dort kümmert, haben diese Kinder sogar in den Lagern eine gewisse Basisversorgung im Bereich Bildung, während die einheimischen Kinder das nicht haben, weil die Länder gar nicht diese Infrastrukturen haben.
    Das ist ein weiterer komplizierender Effekt. Aber es ist völlig klar, dass natürlich hier in unseren Ländern, in Europa sich alle Staaten darum bemühen, dass Kinder möglichst schnell Zugang haben. Das ist überhaupt nicht die Regel in anderen Ländern.
    Heinlein: Ist Integration durch Bildung letztendlich eine Frage des Geldes?
    Kober: Es hat immer mit Geld zu tun. Aber Geld ist natürlich nicht alles. Es hat was damit zu tun, dass da genügend Lehrkräfte sind. Es hat damit was zu tun, dass da Schulen sind, die über den ganzen Tag Bildungsangebote machen. Es hat natürlich auch den Geldaspekt, das ist völlig klar, aber es hat natürlich auch die Frage der politischen Relevanz. Wir haben Länder, wo Mädchen systematisch von Bildungsinstitutionen ferngehalten werden. Es sind auch kulturelle Aspekte, die da reinspielen. Das hat auch ökonomische Hintergründe, dass Länder, die jetzt nicht so entwickelte Wissensgesellschaften sind, dem Faktor Bildung nicht diese Rolle zuspielen. Aber natürlich hat es sehr viel damit zu tun, was ein Staat bereit ist, was eine Gesellschaft bereit ist, in Bildung zu investieren.
    Heinlein: Ist deshalb, Herr Kober, die These richtig, wenn man sagt, eine Gesellschaft profitiert langfristig von Zuwanderung, wenn Integration durch Bildung gelingt, weil dann vielleicht neue Ideen, neue Denkweisen Einzug halten in die Gesellschaft?
    Kober: Ja. Ich glaube, entscheidend ist einfach, dass Kinder dann wirklich Bildungserfolge haben, weil das wirkt sich auch volkswirtschaftlich sehr positiv aus, weil diese Kinder können dann wirklich am Arbeitsmarkt in Jobs, die gut bezahlt sind, hineinkommen. Sie zahlen Steuern. Diese Effekte sind für eine Volkswirtschaft ganz zentral. Insofern lohnen sich natürlich eigentlich auch Investitionen in Bildung extrem und je früher, desto besser.
    Heinlein: Und hier lobt ja die UNESCO ausdrücklich Deutschland für die gelungene Integration von Flüchtlingen und Migranten in das deutsche Bildungssystem. Ist aus Ihrer Sicht, Herr Kober, dieses Lob berechtigt?
    Kober: Weltweit sicherlich, weil wir uns wie gesagt ja bewegen in einer Welt, wo viele Flüchtlinge und ihre Kinder gar keine Chance haben auf Zugang zur Bildung. Bei uns wird dafür Sorge getragen, dass die Kinder möglichst schnell in Schulen kommen, in Kindergärten kommen, in Ausbildungssysteme kommen. Da haben wir zwar auch ein bildungsföderalistisches Thema, dass das nicht in allen Bundesländern gleich schnell passiert, aber es geben sich doch alle Mühe und das ist gemacht worden.
    Ich glaube schon, Deutschland hat eine große Anstrengung unternommen. Die Politik hat auch sehr kurzfristig großzügig reagiert. Es war schon die Rede davon, wie viele Millionen in die Hand genommen worden sind. Und wir hatten da wirklich große Herausforderungen. Im Jahr 2015/16 sind 300.000 Kinder und Jugendliche im schulfähigen Alter nach Deutschland gekommen, und die in den Schulen aufzunehmen, das ist wirklich eine Aufgabe gewesen, die sehr herausfordernd war, und man muss einfach auch mal stolz sagen, Deutschland hat auch in diesem Feld entgegen natürlich immer diesen Unkenrufen, das hätte alles nicht geklappt, großartige Arbeit geleistet. Und das ist ein Lob, das geht an die Lehrkräfte, die oft sich persönlich bis an die Belastbarkeitsgrenzen eingesetzt haben, an die Schulleitungen, an die Administratoren, an die Bildungspolitiker. Man muss sagen, das war wirklich ein Ruck, der noch mal durchs Land ging, um hier diese Extrameile zu gehen.
    "Willkommensklassen führen ein starkes Eigenleben"
    Heinlein: Wie berechtigt ist in diesem Zusammenhang, Herr Kober, der Vorwurf, dass deutsche Kinder, einheimische Kinder bei ihrem Lerntempo, vielleicht auch bei ihrem Lernerfolg gebremst werden von Flüchtlingskindern, wenn man gemeinsam unterrichtet wird? Denn diese Flüchtlingskinder, die lernen ja gerade erst Deutsch, oder bringen ganz andere Voraussetzungen mit als Kinder, die bei uns in den Kindergarten gegangen sind und vielleicht in die Grundschule.
    Kober: Ja, aber so läuft es ja nicht. Ich glaube, das ist einfach ein empirisch nicht haltbarer Vorwurf. Es läuft ja so: Die Rede war im Beitrag auch von den Willkommensklassen. Erst mal kommen die Kinder, die ja auch altersmäßig sehr unterschiedlich sind, in Klassen unter sich und dann wird geschaut, dass sie möglichst schnell so Deutsch lernen, dass sie dann in den Regelunterricht eintauchen können. Es gibt sogar eine Obergrenze, das darf nicht länger als zwei Jahre dauern. Es ist ja nicht so, dass die sofort in die Klassen gesteckt werden, und das ist das erste. Insofern wird das Tempo dann nicht verlangsamt.
    Es ist eher die Gefahr, dass die Kinder mit dem Fluchthintergrund dann zu lange in diesen separaten Settings bleiben und dass es zu wenig gelingt, auch durch die Alltagsbegegnung in den Schulen mit den Kindern, die jetzt keine Fluchtgeschichte haben, noch mal Dinge zu lernen. Faktisch ist es so, an vielen Schulen gibt es die Willkommensklassen. Die führen aber ein starkes Eigenleben, auch ziemlich lange, und die anderen Schüler haben eigentlich gar nichts damit zu tun. Da sagt der Bericht ja zu Recht, da muss man sorgfältig sein, dass wirklich daran festgehalten wird, dass die Kinder möglichst schnell in die Regelklassen kommen. Aber auch da muss man sagen, das geht auch nur, wenn die entsprechende pädagogische Unterstützung da ist. Sonst wird es schwierig.
    "Werte, Routinen, Ethos unserer Gesellschaft"
    Heinlein: Wie gut funktioniert es denn, einem erwachsenen afghanischen, syrischen Analphabeten in Deutschland Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen? Funktioniert das überhaupt?
    Kober: Ja. Jeder Mensch kann lernen, kann Schreiben lernen. Das ist völlig unabhängig vom Alter. Aber das sind natürlich riesige Herausforderungen. Das muss man ganz deutlich sagen. Ich glaube, wir haben in Deutschland wirklich das Plus des dualen Ausbildungssystems und mittlerweile ja auch ein Übergangssystem in dieses Ausbildungssystem, wo es viele Möglichkeiten gibt, noch mal sehr speziell auf diese Menschen zuzugehen. Es gibt die assistierte Ausbildung, wo dann auch noch mal große Hilfen während des Ausbildungsprozesses da sind.
    Es sind auch wunderbare Initiativen aus der Zivilgesellschaft entstanden, um genau diese jungen Menschen zu begleiten. Es gibt eine Stiftung, die bemüht sich darum, dass tatsächlich die Jugendlichen, die jungen Erwachsenen, muss man sagen, spezielle Trainings im Bereich Sprache, aber auch Sozialkompetenzen bekommen und diesen Weg in die Ausbildung finden können. Da ist sehr viel passiert und ich glaube, da bewährt sich auch wieder, dass wir mit dem dualen System einen wirklichen Integrationsmotor im Land haben.
    Heinlein: Bleibt es dabei unter dem Strich, Herr Kober: Sprache ist die Voraussetzung für Integration, egal ob Jung oder Alt, für die Integration im Bildungssystem hier in Deutschland?
    Kober: Absolut! Sprache ist der Schlüssel. Aber Sprache ist nicht nur Sprache; Sprache transportiert natürlich auch kulturelle Vorstellungen. Wir müssen natürlich auch daran arbeiten, dass diese jungen Menschen hier ankommen in der Gesellschaft, mental ankommen, dass sie die Werte, die Routinen, den Ethos, der in unserer Gesellschaft herrscht, auch lernen. Sie kommen aus Gesellschaften mit ganz anderen Vorstellungen im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit, patriarchalischer Strukturen etc. Auch diese Dinge müssen mit Sprache gelernt werden. Sprache ist die notwendige Bedingung, ist aber nicht die hinreichende Bedingung.
    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Mittag der Bildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung, Ulrich Kober. Herr Kober, ganz herzlichen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Kober: Ja, sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.