James Gordon Farrell: "Singapur im Würgegriff“

Lesegenuss und Geschichtserkenntnis

Cover von James Gordon Farrells "Singapur im Würgegriff" vor dem Hintergrund einer Kriegszene von 1942: Britische Soldaten in Singapur in japanischer Kriegsgefangenschaft
Cover von James Gordon Farrells "Singapur im Würgegriff" vor dem Hintergrund einer Kriegszene von 1942: Britische Soldaten in Singapur in japanischer Kriegsgefangenschaft © dpa / UPPA
Von Marko Martin · 29.04.2017
Matthes & Seitz hat James Gorden Farrells Triologie aus den 70er-Jahren über die dramatischen Augenblicke des British Empire nun neu aufgelegt. "Singapur im Würgegriff" erzählt dabei die Story dieses kleinen Inselstaats. Eine großartige Geschichte mit historischem Tiefgang.
Mit seinem voluminösen Weltkriegs-Roman "Singapur im Würgegriff" beweist der britische Autor James Gordon Farrell, dass Literatur auch gelungene Geschichtsschreibung sein kann - und vice versa.
Funktioniert soetwas - ein Roman als Geschichtsbuch? Die Tradition ist immerhin ehrwürdig: Frühere Generationen Heranwachsender erfuhren über die "Letzten Tage von Pompeji" aus Edward Bulwer-Lyttons gleichnamigem Roman, lernten die Details der antirömischen Aufstände aus Lion Feuchtwangers einst vielgelesener Flavius-Josephus-Trilogie oder lasen die Romane von Norman Mailer und James Mitchener, um die Pazifik-Kämpfe im Zweiten Weltkrieg zu verstehen. Fiktionalisierung innerhalb eines historischen Rahmens - das ist mitnichten die Produktion von "fake news", sondern die Individualisierung eines Geschehens, das sonst abstrakt und blass geblieben wäre.

Eine editorische Großtat

1978 erschien der Roman "Singapur im Würgegriff" des britischen Autors James Gordon Farrell. Farrell, der an Kinderlähmung litt und bereits 1979 im Alter von nur 44 Jahren bei einem Angelunfall ums Leben kam, hatte schon zuvor in zwei Romanen dramatische Augenblicke des britischen Empire beschrieben - den irischen Unabhängigkeitskampf und den sogenannten "Sepoy-Aufstand" im Indien des Jahres 1857. Dank einer editorischen Großtat des Matthes &Seitz-Verlages ist nun die gesamte, vielfach preisgekrönte Trilogie in deutscher Übersetzung erhältlich. Und siehe da: Es funktioniert.
Anhand des (fiktiven) britischen Familienunternehmens Blackett-Webb wird die Geschichte Singapurs erzählt, das 1942 von den Japanern erobert, drei Jahre gehalten und schließlich von den zurückgekehrten Briten im Jahre 1959 in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Dieses literarische Verfahren erweist sich als komplexer und dazu spannender, lesbarer als manch rein historische Darstellung, die uns kaum etwas ahnen ließe vom faszinierenden Charakter Singapurs. Denn auch das wirkungsmächtige "It's the economy, stupid" lässt sich hervorragend illustrieren anhand der Generations-Geschichten eines Unternehmens, das vom Kautschuk-Abbau im malayischen und burmesischen Hinterland, das heißt, von jenem Rohstoff, der dann besonders im Krieg gefragt ist, lebt. (Der Roman beginnt 1937.)

British fair play? Nur für die eigenen Landsleute

Japan, das bereits vor 1942 in China und Südost-Asien wütet, wird vom Geschäftshaus Blackett-Webb vorerst eher als wirtschaftlicher Konkurrent denn als politischer Gegner wahrgenommen. Was nicht bedeutet, dass die Empire-Briten überhaupt keine Werte gehabt hätten - ihr Sinn für fair play existierte sehr wohl, galt aber vor allem für das Verhalten untereinander. Das Schicksal der Kautschukarbeiter und Millionen anderer einheimischer Rohstoffzulieferer war weniger wichtig. Gegen etwaige Skrupel half Adam Smith' noch heute von neoliberalen Gläubigen nachgebetete These vom Egoismus als sicherster Reichtumsquelle für alle.
Doch dann kamen die Truppen des japanischen Kaisers, und aus war's mit einer Gesellschaft, die - ganz ähnlich wie heute - alle Konflikte auf ökonomische Fragen zurückführte und deshalb für lösbar hielt. Dem neo-rassistischen Japan aber war in jener Weltgegend schließlich ebenso wenig Erfolg beschieden wie dem oberflächen-toleranten Empire.

Gesellschaftskritik ohne Ideologie

Die Schlussszene dieses außergewöhnlichen Romans führt ins Jahr 1976: Die letzte Unternehmensnachfahrin sitzt an einem Londoner Küchentisch, während ihr inzwischen ebenso greiser Gatte in der Times blättert. Liest er dabei womöglich vom sagenhaften Aufstieg des Stadtstaates Singapurs aus dem autoritär-modernistischen Geist eines sozial einigermaßen abgefederten Kapitalismus? James Gordon Farrell, der für dieses Buch in Singapur recherchiert und unzählige Historienwerke gewälzt hatte, lässt diese ironische Pointe in der Schwebe. So wie sein gesellschaftskritisches Epos ohnehin ein Panorama zeigt, keine Ideologie. Welch ein Erkenntnis spendender Lesegenuss!

James Gordon Farrell: "Singapur im Würgegriff"
Aus dem Englischen von Manfred Allié
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017, 829 Seiten, 30 Euro

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