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Utopien und herrliche Obsessionen

Mit einem neuen Literaturfestival am Monte Verità sollte der Wahrheitsberg im Westen Asconas als Ort der Freigeister und Utopisten neu belebt werden. Vier Tage lang frönten Schriftsteller, Künstler und Philosophen den freien Gedanken. Den frischesten Wind brachte dabei ein Architekt aus Afrika.

Von Katrin Hillgruber | 25.03.2013
    Den Monte Verità als Bodenstation hochfliegender Gedanken erprobten Claudio Magris aus Triest und Wladimir Sorokin aus Moskau, die italienische Lyrikerin Patrizia Cavalli, der afrikanische Architekt Diébédo Francis Kéré sowie Peter Sloterdijk und Hans Magnus Enzensberger. Der 83-Jährige las an der einstigen Wiege der Lebensreform-Bewegung aus seinem Buch "Meine Lieblingsflops" und sah die Sache gewohnt entspannt.

    "Und nun haben diese Utopien aber eben die Eigenschaft, je nach Format zu scheitern. Das heißt also, im groβen Stil ist das oft eine blutige Angelegenheit. Nun gibt es aber auch harmlose Utopien, und ich finde, das ist das Wunderbare am Monte Verità, es ist ja eigentlich kein Blut geflossen. Das hatte auch zur Folge, dass nach der Beendigung dieses Experiments, nachdem es sozusagen eingegangen war, blieb es ja nicht ganz folgenlos. Es gab den Ausdruckstanz, es gab Mühsam in München, die Räterepublik und so weiter. Es gab ja Folgen!"

    Thematisch am besten passte auf den sogenannten Berg der Wahrheit, dessen magnetische Strahlung verbürgt ist, der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht. Er las im Nebenprogramm "Youtopia" aus seinem Roman "Imperium". Darin geht es um eine gescheiterte Kolonie deutscher Kokosnuss-Esser und Nudisten in der Südsee. Der Frage, ob sich an den Mythos des Monte Verità anknüpfen lässt, begegnet er skeptisch.

    "Der unheilige Geist der Esoterik, der hier weht, ist meines Erachtens überlagert worden von dieser doch schon sehr abstoβenden Architektur des Tessins. Ich war noch nie im Tessin, und es ist fast erschreckend hässlich. Gleichwohl freue ich mich natürlich hier zu sein, an diesem historisch gewachsenen Ort, nur nackt kann man nicht sein, es hat, glaube ich, ungefähr zwei Grad."

    Das Hotel im Bauhaus-Stil, das der Baron Eduard von der Heydt Ende der zwanziger Jahre auf dem Monte Verità errichten lieβ, meinte Kracht damit natürlich nicht. Mit dem Baron hielt damals der Jet Set in Ascona Einzug, die idealistischen Pioniere waren längst weitergezogen. Von einem "Palimpsest der Möglichkeiten" sprach der Mailänder Philosoph Salvatore Veca. Und so wie man sich hier früher im Licht-Luft-Bad alle fünfzehn Minuten umdrehte, so wechselten jetzt die Darbietungen und Diskurse. Das hatte etwas Beliebiges an sich, aber schlieβlich handelte es sich um eine Festival-Premiere.
    Als die konkretesten Utopisten erwiesen sich die Architekten. Der berühmte Tessiner Mario Botta stellte seinen Kollegen Francis Kéré aus Burkina Faso vor, den Erbauer des von Christoph Schlingensief geplanten Operndorfes.

    "Francis Kéré führt das utopische Zeichen zu seinem Ursprung zurück. Er arbeitet in Berlin, kennt also die globale Entwicklung. Zugleich verfügt er über die Demut, in seine Heimat zurückzukehren und dafür zu sorgen, dass ein Stück Utopie auch für seine Landsleute realisierbar wird. Ich halte das für eine gute Lehre für uns hier in Europa, ganz abgesehen von Kérés architektonischem Können. Aber darüber hinaus gibt es eben diesen ethischen und gesellschaftlichen Mehrwert."

    Kéré verarbeitet die Materialien seiner Heimat wie Lehm und Sand und bezieht die Dorfbewohner in seine Projekte mit ein, zu denen Schulen und Bibliotheken gehören. Und er war es, der nach viertägiger Debatte auf dem Monte Verità die Fenster öffnen lieβ – für frische Luft und neue Gedanken.

    "Wenn ich darüber nachdenke, dass ich gerade an einer Utopie weiterarbeite, der Vision von Christoph Schlingensief, eine Oper in Afrika zu bauen, dann ist es natürlich toll zu sehen, dass es schon Pioniere gegeben hat, die an Utopien gearbeitet haben. Und das ist für mich eine Quelle, wo man sieht: Ideen können auch Wirklichkeit werden."