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Utopische Lehre vom befreiten Leben

Einzelgänger, Sonderlinge und Randfiguren, die in kein Schema passen - für diese Menschen hegte der Ausstellungsmacher Harald Szeemann eine besondere Symphatie. Sein Blick auf die Kunst verlor nie die Randgebiete oder Hinterhofgeschichten aus den Augen. Hans-Joachim Müller zieht gekonnt Bilanz in seiner Biographie des verstorbenen Schweizer Ausstellungsmachers.

Von Norbert Jocks | 21.09.2006
    Die mit dem Tod von Harald Szeemann entstandene Lücke im Kunstbetrieb ist noch lange nicht geschlossen. Wer einmal das Glück hatte, mit diesem Mann, der den Beruf des Ausstellungsmachers quasi erfunden hat, noch vor Ankunft der Kunstwerke in der Lagunenstadt über das sich weit dehnende Gelände der 49. Biennale, übrigens der ersten im neuen Jahrhundert, zu schlendern, der hatte das Gefühl, der Geburt eines großen Ereignisses beizuwohnen. Den Gang durch die leeren Hallen schien er dabei so verinnerlicht und die erwarteten Werke in seiner Fantasie bereits da abgestellt oder aufgehängt zu haben, wo sich deren Energieströme am intensivsten entfalten konnten.

    Ja, Harald Szeemann, 1930 in Bern geboren, war ein Phänomen, vor dem selbst seine vehementesten Kritiker respektvoll den Hut zogen. Dass er mit seinem aus dem Vollen geschöpften Leben den wahren Stoff liefert, der mehr als "nur" ein Buch füllt, ist angesichts dessen, wie er die Dinge sah und mit Kunst umging, was er dachte, sagte und tat, nicht weiter verwunderlich. Von vornherein legte er es darauf an, kein durchschnittliches, sondern ein unangepasstes Leben im Widerstand gegen gesellschaftliche Normen zu führen. So, wie er selbst ein vom Wind der Freiheit durchlüftetes Leben post Sartre geradezu herausforderte und dabei auf die Gunst der Einzigartigkeit pochte, so war er auch zeitlebens auf der permanenten Suche nach Künstlern, die sich ihren gegengängigen Weg außerhalb der herrschenden Kultur bahnten.

    Die utopische Lehre vom befreiten Leben, an der er sich bis zuletzt orientierte, teilte er mit vielen Künstlern wie Joseph Beuys. Große Sympathien hegte er dabei für Einzelgänger, Sonderlinge oder Randfiguren, die in kein Schema passen. Was diese in seinen Augen hervorbrachten und worauf er so neugierig war, dass er nächtelange Diskussionen mit Künstlern der einsamen Lektüre von Büchern den Vorzug gab, das waren von Obsessionen getragene "Individuelle Mythologien". Sie versammelte er zu einer privaten, wie er es einmal formulierte, "Kunstgeschichte der Intensität".

    "Ich lese kaum noch was. Ich lese noch den Spiegel, und auch den schaffe ich kaum mehr in der Woche. Verstehen Sie, ich gehe lieber unterwegs und unterhalte mich jetzt in Sarajewo mit den Leuten, die jetzt was machen wollen und wie sie es machen wollen, das interessiert mich viel mehr als jetzt meine Lektüre. Ja, es gab eine Zeit, wo ich sehr viel gelesen habe, und dann war ich in Paris und habe da studiert. Da musste ich ja auch viel lesen. Aber seitdem ich Ausstellungen mache, lese ich nicht mehr wahnsinnig viel, weil mir es viel wichtiger ist.

    Verstehen Sie? Jeder Künstler ist eine andere Geschichte, die erzählt wird. Und manchmal sind Sie nur ganz kurz in einem Atelier und haben sie mitbekommen und müssen die verdauen. Bevor Sie zum nächsten gehen, und manchmal kann es sein, dass Sie von morgens acht bis Mitternacht, dann lesen Sie nicht mehr. Dann lesen Sie gezielt, wenn Sie dann schreiben müssen über einen Künstler, dann gucken Sie ja alles von ihm an und dass Sie versuchen, von ihm einen neuen Aspekt zu unterstreichen, den die anderen nicht gesehen haben."

    Szeemann, der die Kunst als eine der letzten Bastionen gegen die Entfremdung feierte, war ein Meister der kleinen wie der großen Form. Er beherrschte die emphatische Inszenierung von Großereignissen wie der Documenta in Kassel ebenso wie die unspektakuläre Erinnerung in seiner Berner Wohnung an das Friseurleben seines Großvaters. Danach befragt, weshalb er sich mit dessen Geschichte befasst habe, gab Szeemann zur Antwort:

    "Ich habe jetzt mal den Versuch gemacht, mit einem sogenannten Laien diese Evokation so zu machen, dass das Ganze irgendwie, wenn es auch mein Arrangement war, wie der interpretiert wurde, die ihn kannten, als Evokation seiner selbst. Wenn man das mit einer Ausstellung kann, so ist das ja nicht schlecht. Mein Großvater hat ja eine irrsinnige Habe an Objekten hinterlassen. Und ich sah schon, dass, wenn ich das jetzt in einen anderen Raum mache, muss ich schon irgendwie eine Ordnung reinbringen. Natürlich habe ich dann angefangen da bei seiner ungarisch-österreichischen Abstammung, und wie er sich dann durchmausert als Friseur durchs Leben, und habe dann auch alle Leute gefragt, was sie vom Großvater denken.

    Ja, wo es nicht mehr darum ging, zu dokumentieren, sondern wieder zu evozieren, da habe ich schon dann über dem Schreibtisch seine Fernwehbilder, die Indianer in Brasilien und die Schiffe. Über dem Bett die religiöse Imagerie. Über der Nähmaschine die jungen Mädchen. Über diese Souvenirkästchen eine Art Jungegesellenmaschine, wenn man so will. Und dann im Nebenraum eben diesen ersten Dauerwellenapparat, der eher ein Folterapparat war, es gibt ja die Beschreibung der ersten Dauerwelle, die er durchgeführt hat, wo die Frau Löcher im Kopf hatte und er selber fast keine Haut mehr an den Fingern. Dann habe ich das alles gepflastert mit den Friseuren, die er entworfen hat. Im Grunde war es wieder über die Tortur zur Schönheit, das war eben der Beruf in der Pionierzeit."

    Über dieses breite gedankliche Spektrum eines in assoziativen Bildern Vertieften, der wie ein Besessener arbeitete, zu schreiben, ist kein leichtes Unterfangen. Hans-Joachim Müller hat es gleichwohl versucht und gekonnt Bilanz gezogen. Wenn er da eine Ausstellung nach der anderen Revue passieren lässt, so nicht, ohne den roten Faden aufzugreifen, der die unterschiedlichsten Konzepte miteinander verbindet. Dabei spielt die für den Weltenbummler, der die Eröffnung seiner letzten Schau "Belgique visionnaire" im Palais des Beaux-Arts in Brüssel selbst nicht mehr erleben konnte, so wichtige Verführung durch das Magische in der Kunst keine Nebenrolle.

    Dass der Biograph bei aller Distanz, die er da walten lässt, voller Bewunderung für diesen Künstler unter den Ausstellungsmachern ist, klang bereits in seiner Hommage in der Basler Zeitung anlässlich des Todes am 18.Februar 2005 in Locarno an. Bezeichnenderweise beginnt sein Versuch über den Nomaden mit festem Wohnsitz im Tessin mit einem Rückblick auf die inzwischen legendäre, damals heftige Polemik auslösende Berner Ausstellung "When Attitudes Become Form". Mit Hilfe von 69 Künstlern hatte Szeemann damals, 1969 die Kunsthalle in einen Werkplatz zur Entfesselung kreativer Ströme verwandelt. Darunter die "Fettecke" von Beuys oder der "Iglu" von Mario Merz.

    Lauter Einzelstücke, die, deutlich voneinander abgegrenzt, den Nimbus des Anti-Autoritären ausstrahlten. Für den Schweizer, der "die Erlebnisintensität ohne Energieverslust" ins Museale transportieren wollte, war die Schau so etwas wie eine "Addition von Erzählungen in Ich-Form". Was ihn daran mehr und mehr reizte, das waren der Geist der Utopie und der damit verbundene Entwurf eines Ichs, das sich seiner Vergesellschaftung durch Erschaffung seiner eigenen Mythologie widersetzt.

    "Ich kann immer nur von mir ausgehen. Ich habe ja mal gesagt, ich bin ein atmosphärischer Arbeiter. Der kreiert sich wirklich seine eigene Atmosphäre. Ja, ich habe auch in den "Individueller Mythologien" gesagt, wo man im Grunde genommen ein neues Menschenrecht postuliert. Jeder Mensch hat seinen Mythos selber zu kreieren, wobei das Wort "Mythos" dann wieder diese Dimension hat, von der die Menschen meistens keine Ahnung haben. Aber jeder weiß, dass es in grauen Vorzeiten entstanden ist, und es hat sich dann so und so manifestiert. Und heute gesteht man eigentlich den Menschen die ganze graue Urzeit bis heute und bis nach vorne einfach zu als Menschenrecht. Nur eben die ganze Gesellschaft ist dagegen.

    Im Grunde genommen ist alles auf diesen Herrschaftsstrukturen aufgebaut, und auf der Intrige. Wenn Sie dem nicht so die Bedeutung beimessen und eben die Zeitbegriffe sowieso nicht in der Form akzeptieren, sondern eben so als Fluidum. Sie wissen zwar ganz genau, heute bin ich so alt und morgen so alt, aber dass es keine Rolle mehr spielt, im Grunde genommen. Sie brauchen nicht die Dinge ums Verrecken zu erreichen. Sie können ja auch verzichten, verstehen Sie? Es gibt die Zeit der Eifersucht und die Zeit des Machtwillens. Aber dass das alles keine Rolle mehr spielt, das ist doch das Wichtigste, wenn man dahin gekommen ist. Im Grunde genommen ist es so, dass wir dieses Leben haben, um die Zeit so zu nutzen, dass uns die Zeit gar nicht so bewusst ist."

    Laut Hans-Joachim Müller drückt sich dieses kritische Bewusstsein eines Widerständlers, der gegen die Wirtschafts- und Währungsunion seine Hoffnung auf die Vereinigung aller Künste setzte, am stärksten in dem romantischen Projekt namens "Monte Verità" aus. Diesem ging Szeemann sein Leben lang nach. Dahinter stand der rettende Traum all derer, die unter dem Verlust des Paradieses litten und sich ein neues ersehnten. Dazu zählten Anarchisten, Nudisten, Feministen, Dadaisten, Pazifisten, Freimaurer, Vegetarier, Theosophen, Selbstsucher und Sebstverwirklicher.

    Die auratische Wirkung, die der Berg der Wahrheit als Teil der Landschaft des oberen Lago Maggiore auf die gesellschaftskritische Bohemien, auf Frei- und Antibürger ausübte, ist in ihrem ganzen Ausmaß, wie der Autor des komprimierten Paperbackbuches konstatiert, erst durch die Recherchen von Harald Szeemann ans Tageslicht befördert worden. Für ihn war der Monte Verità ein Zauberberg der Projektionen wie der utopischen Projekte und damit auch ein urpoetischer Ort, an dem sich ein neues Mitteleuropa der Alternativen ankündigte. Das Schöne für Szeemann war jedoch das Scheitern aller Utopien, denn dieses entsprach in seinen Augen einer poetischen Dimension in der Kunst.

    Doch damit war für ihn die Idee einer idealen Gesellschaft keineswegs gestorben. Entsprechend wachsam war er denn auch angesichts der aktuellen politischen Ereignisse in der ganzen Welt, die er bis zum Ende seine Lebens mit offenen Augen bereiste. Sein Blick auf die Kunst, der alles andere als hermetisch war, verlor weder das Leben noch die Randgebiete oder die Hinterhofgeschichte aus den Augen.

    "Bis diese Balkanvölker eines Tages ein Gleichgewicht finden, das dauert noch ewig. Ich habe in Belgrad Vorträge gehalten, und wenn man diese Jugend gesehen hat, das war so etwas von Energie strotzend. Und was von ihnen kommt an Emotionen, da findet man es einfach grauenhaft schade, dass sie sich derartig... Aber sie können es einfach nicht lassen Vor 25 Jahren haben die Albaner die Serben rausgeschmissen, und dann wollten die Serben die Albaner rausschmeißen. Dann kommen diese wieder zurück und bringen wieder die um. So geht es ewig weiter. Man sieht auch kein Ende ab."