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Uwe Rada: "Die Adria"
Die Gräben Istriens

Von Kersten Knipp | 23.10.2015
    Am Anfang zweifelt der Autor. Was wird er sehen? Die wirkliche Adria? Oder nur das, was er über sie zu wissen meint sowie jene Bilder, die die Erinnerung in ihm weckt? Allein das wäre nicht wenig. "Für Else Rada, dir mir das Meer gezeigt hat": So lautet die Widmung dieses Buches, gerichtet an die Mutter vermutlich, der der Taz-Redakteur und Schriftsteller Uwe Rada für jene sommerlichen Reisen nach Italien und Kroatien dankt, die ihn in frühen Jahren offenbar auf immer mit der Adria verbunden haben. Und wirklich evoziert Rada immer wieder kurze Familienszenen unbeschwerter Sommerwochen im Grenzland zwischen Triest und Pula auf der Halbinsel Istrien.
    "Wie viele Klischees habe ich im Gepäck auf dieser Reise an die Adria?", fragt sich Uwe Rada also zu Beginn seiner Reise. Nach der Lektüre kann der Leser den Autor beruhigen: keine. Dabei bietet sich eine so zentrale europäische Wasser- und Uferlandschaft für Klischees hochgradig an. Die Adria ist Mythos ebenso wie Realität, Speicher legendärer genauso wie realer Geschichten – deren Grenzen jeweils fließend sind.
    Auf seinen Reisen quer über den gewaltigen Bogen von Otranto in Apulien über Venedig, die Insel Krk, Dubrovnik bis ins albanische Durrës und das griechische Igoumenitsa kommt es Rada auf eines an: die politische und soziale Gegenwart der Region vor dem Hintergrund ihrer Geschichte zu erfassen, der ältesten ebenso wie der jüngsten, der Zeitgeschichte. Geschichte, das sind aber nicht nur die harten Fakten, das sind auch die auf ihnen beruhenden Erzählungen und Deutungen. Und an Deutungen ist diese Region mindestens ebenso reich wie an Fakten.
    So umspannt Radas Buch nicht nur eine über viele hunderte Kilometer sich streckende Meereslandschaft, sondern durchmisst auch gewaltige historische Tiefen, die sich vom ersten halben Jahrtausend vor Christus, als Homer seine Odyssee schrieb, bis in die Gegenwart spannt: der Massenflucht zehntausender Albaner über das Mittelmeer nach Italien etwa; oder dem Beginn der Kriege im auseinanderbrechenden Jugoslawien im gleichen Jahr. Aber auch den Versuchen, die Jahre der Gewalt hinter sich zu lassen.
    Die Lektüre des Buches ist faszinierend. Denn Rada ist mit dem historischen Material ebenso vertraut wie den literarischen und philosophischen Quellen. Denn auch sie gibt es ja: eine Philosophie der Adria. Ein "Meer der intimen Nähe" hat der kroatische Schriftsteller Predrag Matvejević die Adria genannt und damit ihren verbindenden Charakter hervorgehoben. Das Wasser als Straße, als Wasserstraße. Aber das Mittelmeer war immer wieder auch ein Graben, ein Abgrund, der den Westen vom Osten, den Norden vom Süden trennte, und nicht wenige, die ihn in welcher Richtung auch immer zu überqueren versuchten, in die Tiefe riss. "Wann aber sind aus Okzident und Orient unüberwindbare Gegensätze geworden", fragt Rada. Und weiter: "Gibt es gar einen Faden, der vor dem ´grundlegenden Einschnitt', hin zur späteren Trennung Europas in einen ´Westblock' und einen ´Ostblock' reicht? Oder hat die Trennung schon früher begonnen?"
    Ja, sie hat früher begonnen, zeigt Rada. Die Adria occidentale und die Adria orientale drifteten während der Osmanischen Eroberungen auseinander, als "Ost" und West" auch zu konfessionell aufgeladenen Begriffen wurden: hier das Reich der Christen, dort das Reich der Muslime; hier Zivilisation, dort Barbarei. Das sind Klischees, natürlich. Allerdings solche, die Rada nicht im Gepäck hat, sondern gegen die er anschreibt. Oder besser, er zeigt, warum das Trennende nur der eine Aspekt dieses Meeres ist. Denn es hat immer auch die Gegenbewegung gegeben. Auch sie spannt sich quer durch die Zeiten.
    Das albanische Durrës, von wo Anfang der 1990er Jahre zehntausende Menschen zum Sprung über das Meer ansetzten, hieß in antiken Zeiten Epidamnos. Von hier aus trieben die Illyrer Handel mit den Städten der Po-Ebene, vor allem mit der Hafenstadt Atria, später Adria, die dem Meer seinen Namen gab. Wie aber steht es um die Vereinigungsphantasien eines Mannes, der zweitausend Jahre später über das Meer setze, um auch die andere Hälfte in Besitz zu nehmen? Im frühen 20. Jahrhundert wurde Albanien abhängig vom Italien Mussolinis. Auch daran erinnern sich die Albaner. Aber inzwischen schauen sie viel mehr in Richtung Zukunft, knüpfen Hoffnungen auf neue Beziehung zu Italien und Europa, irgendwann vielleicht sogar im Rahmen der Europäischen Union.
    Noch eines zeigt Uwe Rada: Die Risse in der Region verlaufen nicht nur zwischen den einzelnen Nationalstaaten. Ebenso ziehen sie sich durch diese selber: Da ist die Kluft, die den italienischen Norden vom Süden trennt. Da sind die vielen Gräben, die sich durch das politische Jugoslawien und die heutigen Staaten Ex-Jugoslawiens ziehen. Rada weist sogar auf die Spaltungen innerhalb einzelner Orte hin: In Dubrovnik, der ehemaligen Hauptstadt der "Republica Ragusa". In den am Meer gelegenen Vierteln siedelten einst romanische Bürger, dahinter die slawischen. Der Gegensatz prägt die Architektur der Stadt bis heute.
    Als einen Ort, der zur Avantgarde eines neuen Zusammenwachsens lokaler, regionaler und nationaler Verwerfungen werden könnte, macht Rada Istrien aus, die Halbinsel im nördlichen Kroatien. Pula, die Staat an der Südspitze der Insel, hieß auf griechisch früher Polai, "Stadt der Gestrandeten". Und auf dem alten Stadttor von Rovinj konnte man früher die Inschrift "Il riposo dei deserti" lesen, "Zuflucht der Verfolgten, Einsamen und Verloren". Von diesen Verlorenen, könnten die Impulse zum neuen Miteinander ausgehen, zu Begegnungen frei von großen und kleinen Chauvinismen übersteigerter Heimats- und Identitätsgefühle.
    "An der Adria", schreibt Rada, "trafen im 19. Jahrhundert Europas Peripherien ungebremst aufeinander, hier könnten sie aber auch, wie in jüngster Zeit, zusammenwachsen."
    Uwe Rada hat viel Bildung im Gepäck. Aber vor allem hat er ein wunderbares Reisebuch geschrieben. Zu verdanken ist das nicht zuletzt seiner scharfen Beobachtungsgabe. Rada schaut genau hin, entdeckt im Kleinen das Große und umgekehrt. Zahllos die kleinen Szenen und Begegnungen, die in diesem Buch aufschimmern: Details nicht nur des politischen, sondern eben auch des sinnlichen Lebens. Rada hat einen ausgeprägten Sinn für die Schönheit der Landschaften. Und ganz nebenbei zeigt dieses Buch einmal mehr, wie anregend das Genre des Reisebuchs sein kann, wenn es Kenntnisse und Erfahrungen in nahezu literarischer Form präsentiert. Mühelos knüpft Uwe Rada an die Stilkunst eines Cees Nooteboom, Claudio Magris, Karl Schlögel an. "Die Adria" ist ein Buch über das Meer. Fast möchte man sagen, dass auch die magischen Fotos von Inka Schwand dazu beitragen, dass durch jede dieser Seiten die Sonne scheint.
    Uwe Rada: "Die Adria. Die Wiederentdeckung eines Sehnsuchtortes"
    Pantheon 2014, 336 Seiten, 14,99 Euro.