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Vacances. Die letzten großen Ferien

Eigentlich ist alles nur ein Spiel. Jeden Nachmittag treffen sich Thérèse, Françoise, Jean, Luc, Raymond und Daniel im Café Diable au Corps und verlieren sich in weitschweifigen Diskussionen. Gide, Nietzsche und Apollinaire müssen als Stichwortgeber herhalten, philosophische Weltentwürfe werden ausgebreitet und mit geliehenen Gesten untermalt, hochfliegende Pläne geschmiedet, was die Kunst und das Leben überhaupt angeht. Die sechs Freunde tun so, als seien sie längst erwachsen. Dabei jagt ihnen nichts größere Angst ein. Doch wenigstens ihre Jugend gehört ihnen und hält die Hoffnung auf etwas Größeres wach.

Maike Albath | 25.07.2002
    Schauplatz des Romanfragments Vacances von Madeleine Bourdouxhe ist eine namenlose französischsprachige Kleinstadt kurz nach dem Ersten Weltkrieg; im Mittelpunkt steht eine Gruppe junger Studenten und Schüler. Inspiriert von ihrer eigenen Studienzeit in Brüssel schrieb Bourdouxhe zwischen 1934 und 1935 die Geschichte nieder. Es war ihre erste literarische Arbeit, und in Auszügen wurde das Manuskript der knapp 30jährigen Debütantin in einer belgischen Anarchistenzeitschrift abgedruckt. Kaum hatte die Autorin Vacances beendet, verstaute sie die Blätter in einer Schublade und wandte sich einem neuen Stoff zu. Der Roman Gilles Frau entstand. Die großartige Chronik einer demütigenden Liebe erschien 1937 bei Gallimard und brachte ihr ungeteiltes Lob ein. Simone de Beauvoir bescheinigte der Kollegin großes Gespür für die Darstellung weiblicher Sexualität; Bourdouxhe galt als Hoffnung der französischen Literatur und verkehrte in den einschlägigen Pariser Kreisen. Durch die deutsche Besatzung verlor die im Widerstand aktive Autorin ihren Verleger, veröffentlichte nur noch in Belgien und geriet in Vergessenheit.

    Nach dem Krieg hatte sich Madeleine Bourdouxhes literarische Inspiration erschöpft - ihre schriftstellerische Karriere schien beendet, noch bevor sie ins Bewusstsein der Literaturkritik gedrungen wäre oder ein breiteres Publikum erreicht hätte. Sie blieb dann ein Leben lang dass, wovor sich ihre Heldinnen fürchten: die Gattin eines angesehenen Lehrers. Doch noch zehn Jahre vor ihrem Tod 1996 erlebte die einst so vielversprechende Nachwuchsautorin eine Renaissance: ihre Bücher wurden neu aufgelegt, begeistert rezensiert und sogar übersetzt. Ihr widerfuhr ein ähnliches Schicksal wie Emanuel Bove - ihre klare, prägnante Stimme passte nicht in die politisierte Atmosphäre der Nachkriegszeit, ihre Geschichten schienen viel zu privat, aber Ende der 80er Jahre war man für jenen Ton plötzlich wieder empfänglich. Im Zuge der Wiederentdeckung kam zwischen verstaubten Unterlagen auch Bourdouxhes erstes Manuskript zum Vorschein, einige Seiten waren im Verlauf der Jahrzehnte irgendwo verloren gegangen. Die deutsche Übersetzung, die jetzt bei Piper als Abschluss der Bourdouxhe-Reihe heraus kommt, ist die Erstausgabe des frühen Fragments.

    Ehrgeizig, ängstlich, sehnsüchtig und verzweifelt schwanken Madeleine Bourdouxhes Helden hin und her, probieren sich aus, lassen sich treiben oder versuchen mit allen Kräften, ihrem Leben eine Richtung zu geben. Der belgischen Schriftstellerin gelingt in Vacances eine bezwingendes Psychogramm von Heranwachsenden. Bourdouxhe zeichnet gerade kein pastellfarbenes, sehnsuchtsdurchwirktes Bild jener Zeit am Scheitelpunkt zwischen den Lebensaltern; eher ist es ein Holzschnitt mit starken Kontrasten und scharfen Konturen. Sie benennt die Dinge ohne Scheu, schreibt freimütig über sexuelle Phantasien, Macht und vor allem Einsamkeit. Françoise, Luc, Jean und die anderen besitzen noch gar keine Sprache für das, was sie fühlen oder sein wollen. Die scheinbar engen Beziehungen sind eher eine Pose, denn jeder ist viel zu sehr mit den eigenen inneren Dunkelheiten beschäftigt, als dass er einen fremden Menschen tatsächlich wahrnehmen könnte.

    Den Einstieg von Vacances bildet eine Szene im Café "Diable au Corps". Ein auktorialer Erzähler pendelt von Figur zu Figur: Jean schwingt große Reden, die anderen pflichten ihm bei oder kommentieren seine Phrasen ironisch, Daniel widerspricht ihm mit verzweifeltem Ernst, schließlich gemahnt jemand zum Aufbruch. Wie bei einem weiträumigen Kameraschwenk gleitet der Blick von den beiden Freundinnen Thérèse und Françoise, die noch Schülerinnen sind, zu dem Mathematikstudenten Jean, dem künstlerisch ambitionierten Büroangestellten Luc, zu Thérèse und wieder zu Françoise zurück, bis jeder noch einmal kurz vor dem Einschlafen porträtiert wird. Nach diesen simultanen Momentaufnahmen widmet sich die Erzählerstimme vor allem Françoise und Thérèse und schildert die Geschehnisse über weite Strecken aus der Perspektive der beiden Mädchen. Die Abiturientinnen kultivieren eine schwärmerische Freundschaft und tauschen sich augenscheinlich über jede intime Regung aus, tiefere Empfindungen bleiben dennoch sorgfältig verborgen. Eine Art frei flottierender Erotik ergreift sie, manchmal fühlen sie sich zueinander hingezogen, dann wieder sind es die Studenten, die ihre Sehnsüchte beherrschen. Thérèse steckt in einer halbherzigen Liebesbeziehung mit Raymond, der ihr treu ergeben ist. Die selbstbewusste Schülerin kostet ihre Macht aus, manipuliert den Freund, verachtet ihn und malt sich mehrfach aus, wie sie ihn verlassen würde, ohne es je zu wagen. Françoise, die immer wieder von einem tiefen Lebensekel ergriffen wird, fängt an, mit Jean zu schlafen. Aus der körperlichen Erfahrung erwächst für sie eine Bindung. Sie beginnt, Jean tatsächlich zu lieben, tut es erst auf eine unterwürfige Weise, wodurch sie seinen Sadismus herausfordert, um später den Spieß umzudrehen.

    Vacances besitzt noch nicht die Konzentration der späteren Romane, die in ihrer Prägnanz wie Kammerspiele wirken. Auch ihren Ton scheint Bourdouxhe gerade erst vorsichtig auszuprobieren. Doch schon hier deuten sich ihre zentralen Themen an: Sexualität, Bindung, Abhängigkeit zwischen Frauen und Männern. Diffuse Gefühlsströmungen sind das, was sie am meisten faszinieren - die unaufhörlichen Wellenbewegungen der Liebe und des Begehrens. Mit großer Offenheit schildert die belgische Autorin weibliche Lust und Gier: für Thérèse und Françoise ist die Entdeckung des eigenen Körpers im Wechselspiel des Geschlechtsaktes der erste Schritt zur Selbsterkenntnis. Ausgerechnet die Initialszene zwischen Françoise und Jean, auf die man nach vielversprechenden Anbahnungen schon lauert, zählt zu den verloren gegangenen Seiten. Kann das ein Zufall sein? Freudianischer ginge es kaum, und fast verdächtigt man die gealterte Madeleine Bourdouxhe einer gewissen Prüderie. Ihre Sprache ist einfach, schlicht, metaphernlos, nur manchmal neigt sie zu blumigen Beschreibungen, was mitunter betulich daher kommt. Aber sie unterscheidet sich wohltuend von der inzwischen zum Mode-Tonfall avancierten Lakonie, und vielleicht ist auch dies ein Grund für Bourdouxhes Erfolg. Sie besitzt einen warmen Erzählstil, macht das Innere ihrer Figuren zum Ort des Geschehens und weiß seelische Regungen sprachlich zu fassen.

    Es geht natürlich noch weiter mit den sechs Freunden, so wie es im Leben immer weiter geht, mit derselben grausamen Einfallslosigkeit. Abitur, ein lustloses Studium, verschobene Trennungen, eine misslungene Abtreibung und schließlich eine Fehlgeburt. Jean und Françoise heiraten, und Vacances endet mit vermeintlich beschaulichen Szenen der jungen Ehe. Aber Bourdouxhe zieht die Spannkraft ihrer Texte aus der emotionalen Entwicklung ihrer Helden, die Handlung bestimmt lediglich die Oberfläche. Obwohl den Konventionen vordergründig Rechnung getragen wird, birgt der Schluss ihres Romans einen Hoffnungsschimmer: die beiden Mädchen sind zu Frauen heran gewachsen und haben sich selbst kennen gelernt. Und das ist immerhin ein Anfang.