Donnerstag, 18. April 2024

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Vagabund der Poesie

Man muss ja nicht so weit gehen und diesem Dichter den Ehrentitel "Hölderlin aus Halle" zusprechen. Sicher aber ist, dass er mit seinem Formbewusstsein und seiner vitalistischen Dynamik viele seiner Kollegen hinter sich lässt. Wilhelm Bartsch, der lyrische Grenzgänger und "Zeitumsegler" aus Halle an der Saale, ist wieder auf poetische Weltreise gegangen. Für seine neuerliche Expedition durch die Schicksalsstätten der germanischen Mythologie und die Urszenen deutscher Geschichte hat er sich zehn Jahre Zeit gelassen.

Von Michael Braun | 19.08.2004
    1994 erschien sein letzter größerer Gedichtband im Mitteldeutschen Verlag – seither ist die Verskunst des Wilhelm Bartsch, seither sind seine Balanceakte zwischen klassischer Form und plebejischer Schnoddrigkeit den nervösen Matadoren des Literaturbetriebs ein wenig aus dem Blickfeld geraten. Das ist zunächst eine Spätfolge der Wende, in deren Verlauf die ostdeutsche Verlagslandschaft etliche Verluste erlitten hat und so mancher Lyriker vorschnell als DDR-Altlast verbucht worden ist. Den Mitteldeutschen Verlag, die Heimstätte so bedeutender Dichter wie Karl Mickel oder eben Wilhelm Bartsch, gibt es nicht mehr.

    Der neue Gedichtband von Wilhelm Bartsch erscheint nun in der Lyrikedition 2000, dem von Heinz Ludwig Arnold mit großem Engagement betriebenen Books-on-demand-Verlag, der zum wichtigen Auffangbecken für all jene avancierten Lyrik-Bücher geworden ist, die im bestseller-fixierten Verlagsgeschäft keinen Platz mehr finden.

    Dass ein Gedichtband von Wilhelm Bartsch nicht gleich als literarisches Ereignis registriert wird, hat paradoxerweise mit der Virtuosität des Autors zu tun, mit seiner Begeisterung für die Vermischung von hohem Ton und plebejischem Witz. Der Autor verwendet sein poetisches Kalkül darauf, als eine Art hochgelehrter Vagabund durch nordisch-germanische Mythologien und durch Sagen und Legenden der Frühgeschichte zu streifen und dieses Material in Berührung mit der hallensischen Alltagswelt zu bringen. Ein anspruchsvolles Konzept, das sehr sperrig wirkt inmitten der Flüchtigkeit und Ich-Bezogenheit vieler Gegenwartsdichter.

    Es ist jedenfalls an der Zeit, die widerborstigen Edda- und Nibelungenlieder dieses zutiefst ironischen Balladen-Dichters aus Halle genau anzuschauen. Zunächst begibt er sich in seinem neuen Band auf die Spuren des heiligen Brendan, eines irischen Abtes aus dem Frühmittelalter, segelt mit ihm an den "Inselscherben" Irlands vorbei – und gerät, assistiert von keltischen Mythen, unversehens auf "strikte Irrfahrt durch das Holozän". Ein paar Zeitsprünge und Weltenwechsel weiter landet er dann wieder in der "Händelstraße" in Halle, wo er dereinst neben Sarah Kirsch wohnte.

    Ausgangspunkt ist hier, wie schon in den vorangegangenen Büchern, die unendliche Fahrt nach Norden zu Sehnsuchtsorten am Rand der Welt: eine Reise zum sagenhaften "Ultima Thule" und hinein in "die Anderswelt", und durch Höllenpforten ins Reich der Geister. So unterirdisch und sagenhaft sehen sie aus - die poetischen Heimstätten und Gnadenorte, die Wilhelm Bartsch in seinem neuen Gedichtband aufsucht.

    Wann geht das nächste Schiff aus Eis nach Irrland?
    Wo fußt der Regenbogen, wie denn strandet
    ein Zeitumsegler? – Ich, der gleich und nie fand
    die Insel Brendans, bin an ihr verlandet

    und steh versunken.


    Wohin die Reise in seinen Gedichten geht, hatte Bartsch schon im kryptischen Titel seines letzten Lyrikbands angedeutet: "Gen Ginnungagap". Diesen seltsamen Ort wird man auf der Landkarte kaum finden können. Erst beim Blättern in Werken zur nordischen Mythologie erhält man Hinweise auf den Ort des Geschehens: "Ginnungagap", so wird man hier belehrt, ist der geheimnisvolle Ort des Schöpfungsrätsels schlechthin, die "Kluft der Klüfte", der "gähnende Abgrund", wo in der Urzeit die Weichen für die Schöpfung gestellt wurden. "Ginnungagap" so heißt es weiter, ist der geographische Knotenpunkt zwischen dem eisigen "Niflheim" im Norden und dem südlich gelegenen "Muspelheim", das die Eisströme aus dem Norden zum Schmelzen bringt.

    In dieser "elementaren Geographie" treibt sich auch das lyrische Ich des neuen Bandes Gnadenorte Eiszeitwerften herum. Hier wölben sich erneut die "Gnadenorte" zwischen Nisplheim und Muspelheim auf. Hier gehts zu irischen Kliffs und zu Ostseeinseln, hier gehts nach Amsterdam zum Leidseplein, um schließlich wieder bei den Uranabraumhalden in Ronneburg und bei "Schorschens Kiosk" in Halle zu landen.

    Der Weltenerkunder Wilhelm Bartsch wird weiter auf mythische Tuchfühlung mit dem Stoff der Geschichte gehen – begleitet von seinen keltischen Engeln. Und es sind ihm viele Leser zu wünschen, die ihn auf seiner unendlichen Fahrt begleiten.

    Wilhelm Bartsch
    Gnadenorte, Eiszeitwerften. Gedichte
    Lyrikedition, 122 S., EUR 22,90