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Van Eyck - Urvater der modernen Künstler

Jan van Eyck gilt als Erfinder des Gemäldes. Der Brügger Maler erkundete in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts einen völlig neuen Bildraum, der sich von den mittelalterlichen Wandmalereien in den Kirchen, der italienischen Tafelmalerei und den Ikonen wesentlich unterscheidet.

Von Klaus Englert | 21.03.2011
    Nimmt man Hans Beltings neues Buch "Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden" zur Hand, drängt sich zwangsläufig die Frage auf: Schon wieder ein weiteres Buch über die niederländischen Maler um Jan van Eyck? Weiß man nicht schon genug von diesen Künstlern an der Epochenschwelle zur Neuzeit, seitdem Erwin Panofsky 1953 sein voluminöses Standardwerk über die altniederländische Malerei veröffentlichte? Offenbar ist das nicht der Fall.

    Zu Beginn des Buches verdeutlicht der Karlsruher Kunsthistoriker Hans Belting den Begriff der Schwellenzeit, die im frühen 15. Jahrhundert im niederländischen Brügge und im italienischen Florenz zu einem bislang unbekannten Aufschwung der Kunst geführt hat. Er meint, dass es nicht zufällig war, dass es in der damals reichen Handelsstadt Brügge außerordentlich bedeutsame Kunstateliers gab, die sich mit neuen bildnerischen Möglichkeiten auseinandersetzten. Außerdem entstand damals ein reger Austausch mit dem Kunstzentrum in Florenz, das ebenso wichtig für die Entwicklung der modernen Malerei war:

    "Es gab zwischen den Kaufleuten in Brügge und Florenz engste persönliche Beziehungen. Es gab Künstlerreisen zwischen beiden Zentren. Van Eyck wurde in Neapel gehandelt und verehrt. Der Austausch war so eng, wie sich das nur ermöglichen kann. Und beide Kulturzonen haben sich gegenseitig bewundert."

    Das ist der historische Ausgangspunkt von Hans Beltings Buch, das einen relativ neuen Zugang zu dieser Epoche erprobt:

    "Dieses Buch ist im Gegensatz zu meinen früheren Veröffentlichungen kein Buch zur niederländischen Malerei, überhaupt nicht. Sondern es ist ganz klar eine Phänomenologie als Medium. Das ist mir allein wichtig. In meinen früheren Veröffentlichungen ging es um niederländische Malerei."

    Hans Belting fragt in seinem Buch danach, welche Rolle das Bild im ausgehenden Mittelalter einnahm. Für die Bildwissenschaft, die Belting vertritt, stehen folgende Fragen im Vordergrund: Wie kam es, dass die Gemälde die höfischen Wappenschilde und ihre Bildnisse ablösten? Wie muss ein Gemälde beschaffen sein, wenn es in der bürgerlichen Gesellschaft ein egalitäres Menschenbild propagiert und nicht mehr das ständische der höfischen Ordnung? Und wie kam es, dass ein Porträt in der beginnenden bürgerlichen Gesellschaft als juristische Beglaubigung angesehen werden konnte?

    Hans Belting beschäftigt sich mit all diesen Fragen, die weit über die traditionell ikonografischen Betrachtungen hinausreichen. Bei der Einordnung des Brügger Malers Jan van Eyck, der die Kunstgeschichte um 1430 revolutionierte, kommt ein weiterer Aspekt hinzu. Die Rede ist – wie es im Untertitel von Beltings Buch heißt - von der "Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden". Van Eyck erkundete nämlich einen völlig neuen Bildraum, der sich von den mittelalterlichen Wandmalereien in den Kirchen, der italienischen Tafelmalerei und den Ikonen wesentlich unterscheidet. Zusammen mit seinen Künstlerkollegen Rogier van der Weyden, Hugo van der Goes und Hans Memling buchstabierte van Eyck in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Gesetze der Malerei völlig neu. Belting spricht vom "Privatbild", das die Chance zu einem "radikal neuen Kunstentwurf" bot. Darin liegt der Grund, weshalb die frühen niederländischen Maler einen ganz anderen Weg als die italienischen Renaissancekünstler beschritten:

    "Es war für mich sehr wichtig, dass das Gemälde, als es erfunden wurde, in den Niederlanden und in Italien in dieser Form unbekannt war. Bei der Einführung hat man dann gesagt: Es ist wie ein Spiegel, es ist wie ein Fenster. Die Italiener hatten die mathematische Perspektive, aber beide Zonen – die niederländische sowohl wie die italienische – haben das zustande gebracht, was das Gemälde im modernen Sinn ist, das Gemälde, das die Welt in einer unerhört neuen Art darstellt."

    Betrachtet man Jan van Eycks überdimensionale "Madonna in der Kirche" oder auch die berühmte Rolin-Madonna, dann wird deutlich: Der reale Ort der Anschauung wird zum symbolischen Ort, das natürliche Licht wandelt sich in inneres Licht. Hans Belting argumentiert in seinem Buch sehr anschaulich, dass durch das Motiv des Fensters die Innenschau in die sinnliche Welt hineintritt. Van Eycks weltberühmter Genter Altar mache Bilder sichtbar, die es im Diesseits gar nicht gibt. Das Gemälde als "Spiegel der Welt" erlaube es dem Betrachter, sich mit der porträtierten Person zu identifizieren. Denn der Betrachter schaue auf das Bild wie durch das "Fenster der Seele":

    "Mit der frühen niederländischen Malerei verändert sich Charakter und Reichweite der Ähnlichkeit. Ähnlichkeit wie im Spiegel – das war früher nur metaphorisch. Aber nun konnte es jeder nachprüfen. Es gab Gemälde schon früher. Aber als Spiegel der Welt ist es eine absolute Neuerfindung, die das Mittelalter weit hinter sich lässt."

    Die Revolution um 1430 ist – wie Hans Belting – detailliert ausführt, nicht nur ein künstlerisches Phänomen. Gekoppelt ist sie an eine soziale Umwälzung, denn die höfische Malerei wandelte sich im Ausgang der Ständeordnung zur bürgerlichen Auftragskunst. Belting verweist dabei auf den italienischen Kaufmann Giovanni Arnolfini, der van Eyck den Auftrag zu dem berühmten Hochzeitsbild gab. Das Gemälde, das die beiden frisch Vermählten vor ihrem Schlafzimmer zeigt, wurde seinerzeit als Rechtsakt angesehen, der die eheliche Verbindung besiegelt. Die neue Porträtkunst eines van Eyck oder van der Weyden diente zur Erinnerung, sie bewahrte das Gedächtnis an einen Menschen über seinen Tod hinaus. Selbstverständlich übt das Gemälde nicht allein diese pragmatische Funktion aus. Denn schließlich ist Jan van Eyck auch der Begründer einer ästhetischen Revolution, ja er ist gleichsam der Urvater der modernen Künstler, und seine Malerei erreicht erstmals den Rang einer autonomen Bildsprache. Bei Jan van Eyck blicken wir durch die reale Welt und erschauen die symbolische und ideale Welt. Anders verhält es sich mit Hieronymos Bosch, der nach van Eycks Tod, auf der Schwelle zur Neuzeit, eine gänzlich neue Bildauffassung in die Kunst einführt:

    "Was van Eyck darstellt, ist in jeder Konsequenz die reale Welt. In erster Sicht kommt die lupengenaue Reproduktion dessen, was das physische Auge sieht. Hieronymos Bosch ist als literarisch gebildeter Maler ganz andere Wege gegangen und hat gesagt: In diesem Spiegel sieht man auch die Banalität, die Dinge, die mehr sind als das, was man sehen kann. Jan van Eyck ist ein Fanatiker des Sehens, Hieronymos Bosch ist ein großer Moralist."

    Hans Belting zeigt am Ende seines Buches sehr schön, dass das Gemälde als Spiegel der Welt in eine Krise gerät. Und zwar weniger als hundert Jahre nach Erfindung des Gemäldes. Hieronymos Bosch ist eine Schwellenfigur, denn für den Maler aus 's-Hertogenbosch offenbart der Spiegel keinen Zugang mehr zu einer makellosen Innerlichkeit. Anders als bei van Eyck bleibt der Blick in eine ideale Welt versperrt. Und das mache diesen Maler – so Hans Belting – zum unumstrittenen Vorläufer moderner Kunst. Denn Bosch malt die diesseitige Welt als tue sich in ihr ein riesiger Höllenschlund auf:

    "Hieronymos Bosch ist der erste, der einen Kommentar zur sozialen Welt lieferte. Er hat weder die Welt noch den Himmel abgebildet, sondern einen Kommentar zur Welt abgegeben, den es vorher nicht gegeben hat. Zur Gesellschaft, zu ihrer Verkommenheit und Bosheit. Das Wichtigste bei Hieronymos Bosch ist, dass er gesagt hat: Die Hölle ist nicht irgendwo, sondern sie ist hier."

    Bei Hieronymos Bosch gibt es nicht mehr die wahre Welt hinter den Erscheinungen. Wer der Welt den Spiegel vorhält, erblickt letztendlich nur ihre Fratzenhaftigkeit, ihre Bosheit. Auch das ist zweifellos ein Signum moderner Kunst:

    "Bosch malt die Welt in ihrer Ambivalenz, in ihrem trügerischen Glanz. Er hat sehr genau in die Malerei eingeführt, was die Literaten vor ihm gemacht haben – der Welt einen moralischen Spiegel vorhalten. Es geht dabei um die Ambivalenz von Schönheit und Hässlichkeit, um Glanz und Täuschung."

    Hans Belting: "Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden". Verlag C.H. Beck, München 2010, 293 S., 18,95 Euro.