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Vandana Shiva und Lionel Astruc
"Eine andere Welt ist möglich"

Vandana Shiva ist Physikerin, Trägerin des Alternativen Nobelpreises und Ikone der Globalisierungskritik. In ihrer Heimat Indien hat sie gentechnisch veränderten Lebensmitteln den Kampf angesagt. Gemeinsam mit dem französischen Journalisten Lionel Astruc hat sie nun ihre Visionen niedergeschrieben.

Von Sonja Ernst | 05.08.2019
Roggensamen
Saatgut gehöre der Menschheit. Es stehe für das Recht auf Ernährung, für Teilen, für Demokratie und Frieden. (imago stock&people / Oekom Verlag)
Vandana Shiva ist zu einem Symbol geworden im Kampf für freies Saatgut und für gentechnikfreie Lebensmittel. Damit ist die 66-Jährige zugleich zu einer Gegenspielerin der mächtigen Agrarkonzerne avanciert, was ihr viel zivilgesellschaftliche Bewunderung eingebracht hat: in ihrem Heimatland Indien wie auch international.
Der französische Journalist Lionel Astruc hat mit der Wissenschaftlerin und Aktivistin in den vergangenen knapp zehn Jahren immer wieder lange Gespräche geführt; sie zu Prozessen und Demonstrationen begleitet. Daraus entstanden ist das gemeinsame Buch "Eine andere Welt ist möglich. Aufforderung zum zivilen Ungehorsam". Kritiker kommen darin nicht zu Wort – darum geht es auch nicht. Gleich in der Einleitung macht Astruc deutlich, dass er fasziniert ist von der Aktivistin.
Das Buch erzählt thematisch gebündelt von dem seit den 80er Jahren anhaltenden Kampf der Inderin. Dazu sagt sie im Gespräch:
"Es gibt zwei Dinge, die wir überwinden müssen: Den Mythos und die Illusion, dass die industrielle Landwirtschaft die Welt ernährt. Als zweites eine trügerische Wirtschaft, die schlechte Lebensmittel subventioniert und dadurch eine teure Produktion später im Supermarktregal billig aussehen lässt."
Agrarkonzerne bestimmen, was auf den Teller kommt
Diese Kritik durchzieht das Buch. Außerdem verlören die Gesellschaften zunehmend die Macht über die Nahrung auf ihrem Teller an die Agrarkonzerne. Die setzten auf Monokulturen, was die Artenvielfalt bedrohe. Angebaut werde unabhängig von den natürlichen lokalen Gegebenheiten – verbunden mit intensiver Pestizid-Nutzung. Mit Folgen für die Böden, das Grundwasser, das Klima. Für die beiden Autoren sind die nächsten zehn Jahre entscheidend, um die Umwelt- und Klimakatastrophe einzudämmen. Ein Kurswechsel sei möglich:
"Gleichzeitig ist ein völlig anderes Szenario absolut möglich: ein Wandel, basierend auf Solidarität zwischen Menschen, die sowohl die Grenzen des Systems erkennen als auch die Dringlichkeit der gegenwärtigen Situation. Wir stehen am Scheideweg."
Dass Teile der Zivilgesellschaft einen anderen Kurs wollen, zeigen die vielen Beispiele im Buch. Etwa der erfolgreiche, gewaltfreie Widerstand von Frauen der Chipko-Bewegung in Indien: Sie kämpften 1973 gegen Waldrodungen und inspirierten Vandana Shiva. Oder der anhaltende Widerstand gegen Monsanto – heute Bayer –, eine gentechnisch veränderte Aubergine in Indien einzuführen: Hier spielte Shiva eine zentrale Rolle. Ebenso werden viele Beispiele aus dem Rest der Welt genannt.
Manches mag bekannt sein, aber der Überblick über die vergangenen Jahrzehnte ist spannend. Es ist eine Zeitreise durch die globalisierungskritische Bewegung – ohne den Fokus zu verlieren: Das Buch kehrt immer wieder zurück zu Nahrung, Saatgut und Freiheit des Saatguts. Das ist das zentrale Thema Vandana Shivas. Und diese Freiheit sei bedroht, so Shiva:
"Das Saatgut selbst ist verbunden mit der Freiheit. Es kann sich erneuern, fortpflanzen, multiplizieren. Und diese Freiheit will die Industrie auslöschen. Damit alle jedes Jahr Saatgut kaufen müssen. Deshalb will die Industrie unbedingt Saatgut patentieren."
Saatgut als Symbol für das Recht auf Ernährung
Im Buch unterstreichen die Autoren, dass Saatgut der Menschheit gehöre: Es stehe für das Recht auf Ernährung, für Teilen, für Demokratie und Frieden. Bei gentechnisch verändertem Saatgut komme hinzu, dass die gesundheitlichen Risiken weiterhin unklar seien. Außerdem bringe es die Landwirte in eine teuflische Abhängigkeit: Sie dürfen patentiertes Saatgut nicht bewahren, wieder nutzen und teilen. So werde freies Saatgut zu einem teuren Industrieprodukt.
Diese Kritik an der Agrarwirtschaft wird mit reichlich Zahlen und Quellen im Buch belegt. Doch ärgerlich ist, dass diese teils älteren Datums sind. Zum Beispiel, wenn es um die steigende Zahl der Selbstmorde indischer Bauern geht. Im Buch ist 2012 das aktuellste Jahr, doch es liegen neuere Zahlen vor, die den furchtbaren Trend – leider – sogar stärker belegen würden.
Aber das Buch will nicht allein Missstände beschreiben, sondern ruft zum zivilen Widerstand auf. Jeder und jede entscheide mit beim Einkauf, bei der Esskultur. Es gehe um Solidarität mit den Kleinbauern, aber auch um friedvollen Protest. Hierfür spielt Mahatma Gandhi eine wichtige Rolle. Das Symbol des indischen Freiheitskämpfers ist das Spinnrad und das selbst gesponnene Garn. Dazu Vandana Shiva:
"Wenn uns ein Spinnrad Freiheit bringen kann, dann ist das Spinnrad von heute das Saatgut. Das ist Gandhis Inspiration."
Das Saatgut als Symbol durchzieht das Buch. Und das bietet auch Lösungen. Zugleich macht es – gerade auch durch den Überblick – deutlich, wie machtvoll die Agrarwirtschaft geworden ist und wie wichtig der Protest.
Vandana Shiva, Lionel Astruc: "Eine andere Welt ist möglich. Aufforderung zum zivilen Ungehorsam",
Oekom Verlag, 189 Seiten, 20 Euro.