Donnerstag, 18. April 2024

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Vater prominenter Skulpturen

Die monumentalen Skulpturen Henry Moores sind weltweit an prominenten Orten zu finden, in Deutschland beispielsweise vor dem Berliner Haus der Kulturen oder dem Bonner Bundeskanzleramt. Henry Moores Formensprache ist heute allgegenwärtig und seine Bedeutung ist kaum zu überschätzen. Das belegt auch eine neue Monografie von Christa Lichtenstern.

Rezensiert von Martina Wehlte-Höschele | 27.04.2009
    Ein Jahrhundertbildhauer war Henry Spencer Moore zweifellos. 1898 in Yorkshire geboren, konnte er bis zu seinem Tode 1986 den wachsenden Erfolg und die internationale Anerkennung seines Lebenswerkes erfahren. Der Durchbruch war ihm 1946 mit der New Yorker Retrospektive im Museum of Modern Art gelungen. Zwei Jahre später erhielt er den Internationalen Preis für Skulptur auf der Biennale in Venedig.

    Sowohl vom Surrealismus wie von der Klassik inspiriert, bewusst eingebunden in die Bildhauertraditionen vergangener Jahrhunderte und doch immer auf die unmittelbare Naturanschauung rückbezogen, hat Henry Moore eine staunenswerte Entwicklung gemacht. Ob es die ruhigen, abstrahierend zusammengefassten figürlichen "Reclining Figures" der 30er- und 40er- Jahre sind; ob es die statuarischen "Upright Motives" von 1955/56 vor der Tate Gallery sind, aus denen er ein stelenartiges Ensemble figurativer Formen komponiert hat; ob es später die lebendige, malerische Oberflächenbehandlung in der Art Rodins ist oder schließlich die massig lagernden Figuren der siebziger Jahre mit ihrer amorphen, weich fließenden Körperlichkeit: Immer ist ihre Urheberschaft unverkennbar. Immer sind sie nicht nur als Formenrepertoire Henry Moores in unserem Bewusstsein abgespeichert sondern als gültige Formensprache des zwanzigsten Jahrhunderts schlechthin.

    Wie kommt das? Nicht nur die Qualität und Verbreitung von Henry Moores Werken ist dafür verantwortlich, zumal der Brite testamentarisch Nachgüsse und postume Grafikauflagen untersagt hatte. Es ist auch die allgegenwärtige Präsenz seiner Künstlerschaft durch seine Wirkungsgeschichte. Kein Bildhauer des zwanzigsten Jahrhunderts, der den berühmten Kollegen hätte ignorieren können; kaum einer, der nicht mittel- oder unmittelbar von ihm beeinflusst worden wäre. Wie viele sich an ihm orientierten und durch ihn zum eigenen Stil fanden, das hat Christa Lichtenstern erstmals stringent herausgearbeitet und mit überzeugenden Bildbeispielen belegt.

    Die Aspekte der Wirkungsgeschichte sind denn auch das wichtigste Kapitel in ihrer fulminanten Darstellung "Henry Moore: Werk - Theorie - Wirkung". Sie bespiegelt sowohl die internationale Präsenz des Briten als auch - und das ist neu und erkenntnisreich - seine Rezeption in West und Ost. Für Westdeutschland werden Vergleiche gezogen mit Karl Hartung, Bernhard Heiliger, Brigitte Matschinsky-Denninghoff, Toni Stadler und Wilhelm Loth, für Ostdeutschland mit Fritz Cremer, Theo Balden, Wieland Förster und anderen. Es folgen Bezüge zu Amerika, Japan, Russland und Polen.

    Neben diesem Teil des fast fünfhundert Seiten starken Buches gibt es den Werk-Teil, der thematische Gruppen von verwandten Skulpturen chronologisch abhandelt und den frühen Orientierungen Henry Moores in Einzelvergleichen mit Paul Cézanne, Aristide Maillol, Constantin Brancusi oder Picasso nachgeht. Dabei spielte das surrealistische Bild und Gedankengut eine große Rolle, ebenso wie der Dialog mit Giacometti oder eine dem objet trouvé analoge Arbeitsweise.

    Im Spätwerk kam es zu einer neuen Phänomenologie der geteilten Figurenkomposition und zu einer stärkeren Berücksichtigung der Wechselwirkung von Architektur und umgebender Natur mit der Skulptur im öffentlichen Raum. Schließlich legt die Autorin in einem speziellen Teil Henry Moores theoretische Leitbegriffe und deren ästhetikgeschichtlichen Kontext dar, seine Auffassung von der Geistigkeit der Skulptur und ihrem organischen Ganzen. Ferner geht es um die These einer phänomenologischen "Englishness" und Moores ideengeschichtliche Verortung zwischen deutschem Idealismus und englischer Romantik.

    Christa Lichtensterns Monografie ist aus einem profunden Wissens- und Erfahrungsschatz heraus geschrieben und ein Stück Lebenswerk der emeritierten Ordinaria, die sich durch zahlreiche Publikationen als Kennerin der Kunst des achtzehnten bis zwanzigsten Jahrhunderts und speziell der neueren Skulpturgeschichte ausgewiesen hat. Aus den vielen Regalmetern Sekundärliteratur zu Henry Moore wird ihre Monografie als unverzichtbares Standardwerk herausragen.

    Christa Lichtenstern: Henry Moore. Werk - Theorie - Wirkung. 471 S., Preis: 68,00 Euro. Deutscher Kunstverlag.