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Vater, Sohn und ein Mythos über die Résistance

Sorj Chalandon verarbeitet in seinen Büchern Erfahrungen aus seinem eigenen Leben. "Die Legende unserer Väter" erzählt von einem Vater, der erfundende Geschichte über sich als Widerstandskämpfer an seinen Sohn weitergibt. Auch sein Vater war Teil der Widerstandsbewegung.

Von Cornelius Wüllenkemper | 19.09.2012
    Neun Personen und drei Fahnen, schlappe, abgenutzte Standarten, Nieselregen – so beschreibt Pierre Frémaux, der Erzähler von Sorj Chalandons Roman, die Beerdigung seines Vaters. Ein Résistancekämpfer, der unter dem Decknamen "Brumaire" einer der wichtigsten Widerstandstruppen in Nordfrankreich angehört hatte. Seine Erinnerungen daran behielt er für sich, und mit nur 66 Jahren verstarb er fast unbemerkt, wie ein Relikt aus der Vergangenheit.

    "Mein Buch ist eine Hommage an die echte, wahre Résistance. Heute wissen viele Jugendliche gar nicht mehr, wem oder wessen wir da gedenken. Neulich hat eine Umfrage ergeben, dass viele Schüler in Frankreich nicht einmal mehr wissen, was wir eigentlich am 8. Mai feiern. Ich beginne meinen Roman mit der Beerdigung, bei der nur wenige Leute anwesend sind, bei der nicht viele Worte verloren werden. Der wahre Held der Résistance wird von einem kleinen Grüppchen von Übriggebliebenen begraben, von ein paar Freunden und Verwandten."

    Der Heldenmythos vom "Frankreich im Widerstand", den de Gaulle nach dem Krieg proklamierte, ist längst korrigiert und politisch, literarisch und geschichtlich vielfach neu erzählt. Was bleibt heute von den Legenden der französischen Vergangenheit, von der Idee des Widerstandes? Der Sohn des vergessenen Résistancekämpfers, Pierre Frémaux, ehemaliger Journalist, verdient sein Geld als Auftragsbiograf. Er fasst die Lebensgeschichten Anderer in schöne Worte. Für seinen neuen Auftrag soll er die Geschichte eines ehemaligen Widerstandskämpfers aufschreiben. Tescelin Beuzaboc begeht bald seinen 84. Geburtstag, und seine Tochter Lupuline möchte ihrem Vater ein Geschenk machen: seine eigene Geschichte als Résistancekämpfer, aufgeschrieben von einem professionellen Biografen. Pierre Frémaux trifft sich ein Mal wöchentlich mit dem alten Mann, stellt Fragen über seine Zeit im Widerstand, hübscht die historischen Fakten auf, damit es später schöner zu lesen sei. Frémaux will seinen neuen Auftrag auch dazu nutzen, die Geschichte des eigenen Vaters aufzuarbeiten. Doch nur widerwillig lässt sich Beuzaboc auf die Gespräche über seine Zeit im Widerstand ein, antwortet einsilbig, oft ungenau, teils widersprüchlich. Bald ahnt Frémaux, dass sein Gegenüber nicht die Wahrheit sagt, hakt nach, bedrängt den 84-jährigen Beuzaboc, und tauscht bald die Rolle des Biografen gegen die des Ermittlers.

    "Beuzaboc schüttelte den Kopf. Nicht aggressiv oder respektlos, nur müde. Das kam von der Erschöpfung und der Affenhitze. Er trank ein Glas Wasser und zündete sich seine Zigarette an. Noch einmal schüttelte er den Kopf und betrachtete den Ventilator.
    'Sie sollen mir keine Ehre erweisen. Sondern Respekt vor mir haben.'
    'Ich respektiere Sie.'
    'Dann hören Sie mir zu.'
    'Ich höre Ihnen zu.'
    'Ich war nicht organisiert, so wie Sie das verstehen.'
    'Sie haben alleine Widerstand geleistet?'
    'Mehr oder weniger. Mit meinen Freunden.'
    'Trompette? Fives? Meinen Sie die?'
    'Genau. Sie und andere.'
    'Eisenbahner?'
    'Eisenbahner.'
    'Können Sie Namen nennen?'
    'Nein!'
    Ich zuckte zusammen. Legte einen Finger auf meine Lippen und entschuldigte mich. Sein deutsches 'Nein' war eine Ohrfeige.
    Seit beginn der Sitzung empfand ich mich als aggressiv. Mein Ton war schärfer als gewöhnlich. Nicht hart, aber rau. Es war ein Verhör."


    Je tiefer Frémaux gräbt, um so mehr Gewissheit hat er: das Attentat auf einen deutschen Soldaten, die blutige Vergeltungsaktion der Besatzer an Zivilisten, ein mysteriöser Sprengstoffanschlag und die Rettung eines englischen Fliegers – die Heldengeschichten, die Beuzaboc seiner Tochter Lupuline schon als Kind erzählte, kann er nicht selbst erlebt haben. Der Auftragsschreiber Frémaux entdeckt in Beuzaboc einen Geschichtsfälscher, der sich eine Vergangenheit andichtet, wie Frémaux’ verstorbener Vater sie als wahrer Held der Résistance erlebte. Frémaux’ Kunde, der alte Beuzaboc, hat für seine Tochter Lupuline seine Heldengeschichte des Résistance erfunden, nicht um sich zu brüsten, sondern damit die wahren Helden nicht in Vergessenheit geraten. Nicht die Lüge über die Vergangenheit steht im Mittelpunkt von Chalandons Roman, sondern die Liebe zwischen Vater und Kind, die auf einem erfundenen Heldenmythos aufbaut. Es ist, so verrät der Autor, die Geschichte von ihm selbst und seinem eigenen Vater.

    "Ich habe Lupuline als Maske benutzt. Mein Vater ist noch am Leben und ich möchte ihn nicht verletzen. Als er mein Buch gelesen hat, hat er mich allen Ernstes gefragt, ob ich glaube, dass es solche Lügner wirklich gibt, das sei ja schrecklich! Dabei weiß ich heute, dass die Geschichten, die er mir über sich als Widerstandskämpfer erzählt hat, erfunden sind. Es geht mir nicht um die Lügen über die Résistance, sondern um die Lügen, die ein Vater seinem Sohn erzählt. Wie gibt man seine Erinnerungen weiter? Hat man das Recht, sein Kind ohne festes Fundament aufwachsen zu lassen? Wie entlässt man ein Kind mit einer Lüge ins Leben?"

    Chalandon spiegelt das Verhältnis zum eigenen Vater am Mythos über die französische Résistance. Und ebenso wie die Legende des überall widerständigen Frankreichs eine Erfindung ist, ist auch Chalandon mit der Lüge seines Vaters aufgewachsen, ganz so wie seine Romanfigur Lupuline.

    "Dieser Vater ähnelt meinem Vater, genauso wie das Zimmer von Lupuline auch meinem Jugendzimmer ähnelt, und auch das, was ihr Vater ihr erzählt, ähnelt dem, was mein Vater mir früher erzählt hat. Lupuline empfindet die gleiche Angst, dass ihr Vater ihr Lügen erzählt, wie ich sie bei meinem Vater empfunden habe."

    Chalandons Erzähler, der Familienbiograf Pierre Frémaux, endet in "Die Legende unserer Väter" als selbstgerechter Schnüffler und einsamer Moralist, der dort verbissen nach Wahrheit sucht, wo er nur eine Geschichte aufschreiben soll. Der alte Beuzaboc wiederum findet schließlich, als er seine fertiggestellte, erfundene Résistancebiografie in den Händen hält, die Kraft, seine Lüge öffentlich zu machen.

    "Mein Roman gibt einem Mann seine Ehre zurück. Denn als er zugibt, dass er gelogen hat, wird er zu einem echten Résistant. Durch die Tatsache, dass er zu seiner Lüge steht, nimmt er endlich seine Rolle als Vater an."

    Die biografische Nähe des Autors zu seinen Figuren ist dem Roman nicht immer zuträglich. So manche Handlungswendung in "Die Legende unserer Väter" wirkt konstruiert und unwahrscheinlich, so als würde hier allzu offensichtlich ein absehbares Ziel verfolgt. Es ist Chalandons Versuch der Versöhnung mit den Lügen des eigenen Vaters, eine literarische Beschäftigung mit der Instabilität des eigenen Fundaments, als Sohn und auch als Franzose. Bei Chalandon siegt die Liebe zum Vater über die Lebenslüge, die Liebe zum Vaterland über einen zweifelhaften Mythos.

    "Ein Familienbiograf ist nicht dazu da, um die Geschichten zu überprüfen. Er soll sie aufschreiben, ja sogar aufbauschen. Selbst wenn ihm sein Auftraggeber sagt, dass dies nicht seine wahre Geschichte ist, sondern die Geschichte, die er an seine Kinder weitergeben will. Frémaux geht allerdings viel weiter, er will endlich die wahre Heldengeschichte seines eigenen Vaters erfahren. Er erträgt diese Hochstapelei nicht, sie macht ihn richtig wütend. Aber was hat dieser Hochstapler schon verbrochen? Er ist mit seiner Geschichte nicht hausieren gegangen. Er hat seine kleine Tochter mit erfundenen Heldengeschichten in den Schlaf gewiegt - das ist alles, was er getan hat."

    Keine Frage, Chalandon kann Geschichten erzählen. Aber auch wenn sein Roman vielschichtige Bedeutungsebenen vereint, verliert sich sein Erzähler Frémaux, und auch der Autor Chalandon, zwischen den unterschiedlichen Perspektiven als Journalist, Biograf, Autor, stolzer Franzose und liebender Sohn. Eine mächtige Transferleistung des Journalisten und Autoren Chalandon, doch der Mythos der Résistance, die Faktengeschichte, die Aussöhnung mit seinem Vater, die persönliche und nationale Erinnerungskultur und eine fiktive Handlung über falsche und wahre Helden der Résistance – all das will nicht recht auf 200 Romanseiten passen.

    "Mich interessiert nicht speziell der französische Widerstand, sondern der Widerstand als solcher, die Idee, die dahinter steht. Der Widerstand, zum Beispiel gegen Respektlosigkeit, das ist für mich eine Sache, um die es jeden Tag geht. Die alten Résistancekämpfer wie Jean Moulin und Guy Moquet - das sind heute nur noch Straßennamen und Gedenktafeln. Manchmal werden sie noch von Politikern hervorgekramt, weil sie sich etwas davon versprechen. Der 20. Februar, der Tag, an dem die Mitglieder der Widerstandsgruppe 'L’affiche rouge' erschossen wurden, berührt mich bis heute und gibt mir Kraft. Aber ich glaube, ich bin einer der wenigen, denen es so geht."

    Ob Sorj Chalandon mit dem Roman über seinen Vater wirklich dem Andenken an die Résistance dient, darf zumindest bezweifelt werden. Denn einen Mythos, der sich an Lügen klammern muss, ist nicht viel wert. Ganz unbewusst erlaubt "Die Legende unserer Väter" dem Leser allerdings, einen geradezu entlarvenden Blick hinter die Kulissen einer der großen nationalen Mythen der Franzosen zu werfen. Und das ist allemal die Lektüre dieses Romans wert.

    Sorj Chalandon: "Die Legende unserer Väter", Deutscher Taschenbuchverlag, 197 Seiten, aus dem Französischen von Brigitte Große