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Vater Staat zieht sich zurück

Der alte Wohlfahrtsstaat ist passé, seine Leistungen können wir uns nicht mehr leisten. Deshalb findet seit Jahren ein Umbau des Sozialstaats statt. Diesen Wandel untersuchten Sozial- und Politikwissenschaftler bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel.

Von Peter Leusch | 13.10.2011
    "Wir können beobachten, dass viele Kommunen ihre Krankenhäuser privatisieren - aufgrund von Überschuldungssituationen in den Kommunen, und dass wir einen sehr stark gestiegenen Anteil privater Krankenhäuser haben."

    Tanja Klenk, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Potsdam, erforscht den Wandel des Wohlfahrtsstaates im Gesundheitswesen, speziell auf dem Krankhaussektor. Die goldenen Zeiten des Wohlfahrtsstaates sind vorbei. In den letzten 20 Jahren hat Deutschland schneller und stärker Krankenhäuser privatisiert als jedes andere Land in Europa. Zunächst mit durchaus positiven Folgen, denn in den privatwirtschaftlich geführten Häusern gab es höhere Investitionen als in den öffentlichen. Private Investoren kämen, so Tanja Klenk, leichter an frisches Kapital auf dem Kreditmarkt. Dennoch besteht für die Zukunft Anlass zur Sorge:

    "Aus der Perspektive der Politikwissenschaft, die sich für Staatlichkeitswandel interessiert, ist diese Situation prekär deswegen, weil man Investitionsverhalten von privaten Investoren nicht kontrollieren oder steuern kann – sie investieren heute, aber ob sie das morgen immer noch so tun, ob unsere Krankenhausversorgung immer noch so besteht, das liegt in der Entscheidungsverantwortung der privaten Investoren, und das betrachte ich als Politikwissenschaftlerin mit Sorge."

    Politische Entscheidungen, Krankenhäuser zu privatisieren, sind meist umstritten und führen zu öffentlichen Protesten. Zuletzt kam es zu einem Bürgerentscheid in Hamburg, wo die Mehrheit gegen die Privatisierung stimmte. Ist die Privatisierung jedoch einmal erfolgt, so sei der Grad an Zufriedenheit in öffentlichen wie in privat geführten Häusern in etwa gleich hoch das ergaben wissenschaftliche Befragungen, ja, es gibt demnach sogar ein kleines Plus zugunsten der privatisierten Krankenhäuser aufgrund moderner Instrumente und besser ausgestatteter Zimmer.

    "Wer tatsächlich unter der Privatisierung leidet, das sind die Beschäftigten, und innerhalb der Beschäftigung wiederum das Pflegepersonal. Die privatisierten Krankenhäuser werden dadurch wirtschaftlich, dass sie Arbeitsverdichtung betreiben, dass sie vor allem auf Leiharbeitskräfte setzen, dass sie die Küche oder die Wäscherei auslagern, und damit Betriebsvereinbarungen in Bezug auf Lohn und Arbeitszeit umgehen et cetera"

    Auch in den öffentlichen Institutionen regiert inzwischen betriebswirtschaftliches Denken. Überall sind die Kassen knapp, werden Ausgaben budgetiert. Ökonomische Prinzipien können auch in sozialen Fragen durchaus hilfreich sein. Kosten-Nutzen-Kalküle haben dazu geführt, dass die unsinnige Verlängerung von Krankenhausaufenthalten beendet wurde. Früher behielt man Patienten gerne eine Woche länger im Krankenhaus, weil jeder weitere Tag bezahlt wurde, heute sorgen Fallpauschalen für eine effiziente Kliniknutzung. Auf der anderen Seite hat die strenge ökonomische Ausgabendeckelung dazu geführt, dass im Sozialbereich gekürzt wird – bis dahin, dass sogar angeratene Maßnahmen unterbleiben, erklärt Christoph Strünck, Professor für Sozialpolitik an der Universität Siegen.

    "Zum Beispiel beim Kinderschutz, wo man sehen kann, dass die Kommunen weniger Geld haben um die Kinder zu schützen, um den Jugendämtern Geld zu geben, und das muss dann intern umgesetzt werden. Dann wird eine Maßnahme auch mal nicht bewilligt, und zwar nicht aus fachlichen, sondern aus finanziellen Gründen. Belege gibt es keine offiziellen, da hält man dicht, aber es gibt ganz viele Hinweise von Profis aus der Szene, dass sie Dinge einfach nicht machen können, weil ihnen das Geld fehlt."

    Wo sich der Staat und Kommunen partiell zurückziehen und bittere Lücken hinterlassen, dort sollen andere Akteure einspringen, sollen sich Wirtschaft und Zivilgesellschaft engagieren. Natürlich gab es gerade im sozialen Bereich immer schon eine hohe Zahl an ehrenamtlich Tätigen. Die Freiwilligenagenturen, die in großer Zahl gegründet wurden, sollten diesen Freiwilligenmarkt noch weiter abschöpfen. Doch darin seien sie, bilanziert die Soziologin Daniela Neumann, weitgehend gescheitert.

    Inzwischen macht ein anderes Schlagwort die Runde: das sogenannte Social Entrepreneurship, wörtlich übersetzt: soziales Unternehmertum. Nach angelsächsischen Vorbild sind damit Unternehmer gemeint, die auf sozialem Feld neue Wege gehen, Initiativen ergreifen und dabei nicht an Profit denken. Aber es ist ein schillernder Begriff, um dessen Definition die Wissenschaftler noch streiten. Und noch mehr über seinen Realitätsgehalt. Katrin Schneiders von der Universität Bochum und Stephan Grohs von der Universität Konstanz haben sich in Deutschland in den Bereichen Altenpflege und Jugendhilfe umgeschaut, wie viel von diesem Social Entrepreneurship hierzulande zu finden ist.

    "Wir haben beispielsweise ein Projekt in NRW, in Halver, wo schulische Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund angeboten wird, und zwar handelt es sich um ein Projekt von einer Schulleitung im Grundschulbereich, die arbeitet zusammen mit einem Gymnasium und dort werden gute Gymnasiasten geworben, die dann Kindern mit Migrationshintergrund eine Einführung geben in kulturelle Dinge Deutschlands. Die spielen mit denen, lesen mit ihnen in Büchern, die Gymnasiasten bekommen eine kleine Aufwandsentschädigung für ihre Mühe und finanziert wird das Ganze vom Rotarier-Club. ... die Institution, die es angestoßen hat, ist eine klassisch-bürokratische Institution, eine Schule, .... das unternehmerische Element ist in diesem Fall die Finanzierung durch die Rotarier und keine klassische öffentliche Finanzierung."

    Die beiden Wissenschaftler haben das hehre Bild vom Social Entrepreneur, vom edlen Unternehmer als sozial engagiertem Einzelkämpfer tiefer gehängt. Sie interpretieren Social Entrepreneurship wie im Beispiel als eine Komponente, als Teil einer Mischfigur. Und das Zwischenfazit der beiden Wissenschaftler regiert Skepsis. Stephan Grohs:

    "Auch wenn unsere Arbeit kritisch rüber kommt, denke ich, dass Innovationsimpulse gesetzt werden, wenn man auf die lokale Ebene guckt, und dadurch geraten andere Bereiche in Bewegung und die klassischen Wohlfahrtsverbände überlegen, ob sie ähnliche Initiativen starten, ob sie kooperieren, ob sie es besser machen können: wir sind skeptisch, dass Social Entrepreneurship die Zukunft des deutschen Wohlfahrtsstaates ist, das kann man ganz klar sagen - es ist ein erwünschter Effekt, dessen Nachhaltigkeit ich eher mit einem Fragezeichen versehen würde."

    Der Wohlfahrtsstaat alter Prägung zieht sich immer mehr aus der direkten und vollen Verantwortung zurück in die Rolle des sogenannten Gewährleistungsstaates, der weite Bereiche der sozialen Daseinsfürsorge nicht mehr selber leistet, sondern an den Markt delegiert. Was das konkret bedeutet in den Bereichen Gesundheit, Altenpflege, Jugendhilfe und Arbeitssuche, das diskutierte die Jahrestagung der Soziologen aus der Sektion Sozialpolitik. Sie nahm die Einrichtungen des Wohlfahrstaats unter die Lupe, schaute was sich in seinem Innenleben wandelt. Und Ingo Bode, Soziologe an der Universität Kassel und Leiter der Tagung, ermuntert seine Zunft zu weiteren Inspektionen.

    "Und das bedeutet, dass Forschungen – und das ist eine Kompetenz der Sozialwissenschaften und der Soziologie, denke ich – hineinschauen in Organisationen, hineinschauen in Arbeitszusammenhänge, in Leistungen vor Ort, und sich nicht darauf beschränken, Gesetzesveränderungen nachzuverfolgen ... eine Aufforderung an die Zunft ist tatsächlich: "Rein gehen ins Terrain", das haben einige schon getan, aber angesichts der Veränderungen, über die wir heute sprechen, ist da noch viel mehr zu tun."