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Vaterunser
"Ein guter Vater hält Anklagen aus"

"Und führe uns nicht in Versuchung" - diese Zeile des Vaterunsers findet Papst Franziskus falsch. In Frankreich wurde das Gebet schon verändert, kommt das auch auf Deutschland zu? Der Jesuit Klaus Mertes möchte die Zeile behalten. Gott müsse auch für Böses verantwortlich gemacht werden können.

Klaus Mertes im Gespräch mit Christiane Florin | 08.12.2017
    Mt 6,9-13: Das Vaterunser in mehreren Sprachen an der Wand der Ökumenischen Kapelle im Olympiastadion Berlin anlässlich der Einweihung 2006
    Mt 6,9-13: Das Vaterunser in mehreren Sprachen an der Wand der Ökumenischen Kapelle im Olympiastadion Berlin anlässlich der Einweihung 2006 (imago stock&people)
    Christiane Florin: Seit einigen Tagen beten Frankreichs Katholiken das Vaterunser anders als gewohnt. Bisher hieß es: "Und unterwerfe uns nicht der Versuchung." Nun heißt die Zeile: Und lasse uns nicht in die Versuchung eintreten. Klingt nach einer Petitesse, aber dahinter steht Großes: von der Tradition bis zur Theodizeefrage.
    Auch im deutschsprachigen Raum könnte es mit der oft dahingeleierten Zeile "und führe uns nicht in Versuchung" vorbei sein. Papst Franziskus hat vorgestern just diese Passage des deutschsprachigen Vaterunsers öffentlich kritisiert. Zu seiner Vorstellung eines guten Vaters passe das nicht, hat er wissen lassen. Vaterunser, Heiliger Vater, unheiliger Vater – die Sache hat also eine gewisse Fallhöhe, hierarchisch wie theologisch. Um zu klären, wer wen wohin führen oder wozu verführen soll, habe ich vor dieser Sendung mit Klaus Mertes telefoniert.
    Er ist Jesuit, Schulleiter in Sankt Blasien und hat gerade in der Zeitschrift Herder-Korrespondenz die neue Einheitsübersetzung der Bibel kritisiert. Ich wollte zunächst von Klaus Mertes wissen: Ist die Zeile aus dem deutschen Vaterunser "Und führe uns nicht Versuchung" eine gute Übersetzung?
    Klaus Mertes: Das ist die richtige Übersetzung. Und deswegen auch eine gute.
    Florin: Was ist daran richtig, was ist daran gut?
    Mertes: Weil sie dem griechischen Text entspricht. Führe uns nicht in Versuchung und nicht: "Führe uns in der Versuchung" oder "Lass uns nicht eintreten in die Versuchung". Das wären sinnverfremdende Übersetzungen. Es kommt noch etwas hinzu: Es entspricht vollkommen einer Linie im Neuen Testament...
    Florin: ... es ist eher eine theologische Frage als eine Übersetzungsfrage.
    Mertes: Ja. Man wird das Problem nicht los, wenn man die Vaterunser-Bitte verändert. Nur ein Beispiel: Jesus wird vom Geist in die Wüste geführt, damit er dort versucht wird. Gemeint ist der Geist Gottes, also dass Gott das Subjekt des Schickens in die Wüste ist, wo der Ort der Versuchung ist, ist ein biblisches Motiv. Unbestreitbar.
    Florin: Der Papst hat vor wenigen Tagen in einem Fernsehinterview gesagt, dass das nicht seinem Bild von Gottvater entspreche. Er sagt wörtlich: "Ein Vater tut so etwas nicht. Ein Vater hilft sofort wiederaufzustehen und wer dich in Versuchung führt, ist Satan." Er ist Jesuit wie Sie. Hat er nicht Recht?
    Jesuitenpater und Autor Klaus Mertes
    Jesuitenpater und Autor Klaus Mertes (picture alliance / dpa / Foto: Karlheinz Schindler)
    Mertes (lacht): Das Jesuitsein hat nichts zu tun mit dem Pachten der Wahrheit. Auch der Heilige Ignatius sagt in seinen Exerzitien in der Unterscheidung der Regeln, dass es zwei mögliche Ursachen dafür gibt, dass man sich in der Trostlosigkeit findet, nämlich: weil man nicht genug sorgfältig ist im Beobachten der geistlichen Übung. Und weil Gott einen in die Trostlosigkeit schickt, um einen auf die Probe zu stellen. Also Ignatius befindet sich da in gut jesuitischer Tradition. Ich verstehe ja, dass dieses Bild sich reibt mit der Vorstellung von einem gütigen Vater. Ich kann aber nicht deswegen, weil es sich reibt, es einfach verändern.
    "Versuchung ist keine Strafe"
    Florin: Franziskus hat auch einmal gesagt, ein guter Vater könne seinem Kind durchaus einen Klaps geben...
    Mertes: Es geht aber nicht um Strafe, ganz wichtig. Die Versuchung ist keine Strafe. Dann wäre der Mensch, der sich in einer Versuchungssituation findet, selbst daran schuld, dass er sich darin vorfindet. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Nicht jede Not, in der ich mich befindet, nicht die schwere Krankheit, nicht der Krieg, nicht die Depression, die mein Vertrauen auf Gott auf die Probe stellt - und das wäre eine Übersetzung für Versuchung - ist deswegen gegeben, weil ich daran schuld bin. Gott in die Verantwortung zu nehmen - das hat eine ganz wesentliche entlastetende Funktion, um aus diesem moralisierenden Diskurs über Gott herauszukommen.
    Florin: Aber noch einmal: Der Papst sagt: Wer dich in Versuchung führt, ist Satan, damit nicht Gott.
    Mertes: Ja. Die biblische Tradition hat immer schon dieses Problem gespürt. Nehmen Sie das Alte Testament, da stellt Gott Abraham auf diese entsetzliche Probe, bei der hätte ich auch gesagt: Ich würde meinen Sohn Isaak nicht Opfern. Das haben die Menschen gespürt und dann ist die Figur des Satan eingeführt worden. Das kennen Sie aus der Hiobsgeschichte zum Beispiel. Goethe hat das als Vorlage für den "Faust" genommen. Es geht darum, Gott zu entlasten. Aber im Kern ist Satan nicht zu verstehen als eine Art Gegengott, der jetzt die gesamte Verantwortung für das Negative aufgebürdet bekommt. Am Ende ist Gott der Herr über die Geschichte und der Satan ist, wenn es ihn gibt, auch nur ein Geschöpf und nicht die letzte Macht. Deshalb gibt es eine Verantwortung Gottes für den Gesamtverlauf der Geschichte, die ihm niemand nehmen kann. Deswegen bleibt es eine Spannung.
    Florin: Sie entlassen Gott nicht aus der Verantwortung...
    Mertes: Nein.
    "Ich kann nicht mein gesamtes Beten der letzten 60 Jahre an den Nagel hängen"
    Florin: Aber diejenigen, die für eine Veränderung des Textes sind, schon?
    Mertes: Nein. Ich unterstelle denen eher, dass sie leiden an dieser Formulierung, weil sich das im Widerspruch befindet zur Vorstellung vom gütigen Vaters. Aber ich bleibe dabei: Ich halte lieber diese Spannung aus, als dass ich Gott aus der Verantwortung entlasse. Nehmen Sie das andere große Beispiel: Jesus ruft am Kreuz: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?". Bedeutet das, dass er sich täuscht, dass Gott ihn gar nicht verlassen hat? Gibt es nicht doch ein Element von Fremdheit in der Beziehung zwischen Mensch und Gott, die wir einfach offen lassen müssen, weil Gott nicht Mensch ist. Weil wir Gott auch einige Frage stellen dürfen, weil er der Herr der Geschichte und - davon bin ich fest überzeugt - das auch aushält. Ein guter Vater hält Anklagen aus.
    Florin: Der Vatikan hat die geänderte Fassung, die in Frankreich gilt, approbiert. Das heißt der Vatikan ist für einen milden, lieben Gott?
    Mertes: Ich kann bei dieser Approbation nicht mit. Aber das ist ja nicht das erste Mal, dass ich eine andere Auffassung vertrete als die, die von vatikanischer Seite vertreten wird. Ich kann nicht einfach mein gesamtes Beten der letzten 60 Jahre, einschließlich des theologischen Ringens um diese Frage, an den Nagel hängen, weil sich der Vatikan für eine andere Übersetzung entschieden hat.
    Florin: In Frankreich hieß es bisher: "Und unterwerfe uns nicht der Versuchung", jetzt heißt es: "Und lasse uns nicht in Versuchung geraten" oder "in die Versuchung eintreten". In Frankreich hat sich eine Diskussion auch am Wort Unterwerfung entzündet, also am Verhältnis Mensch-Gott. Da sagten die Befürworter einer Veränderung: Wir sind doch keine Unterwürfigen, die sich im Staub wälzen.
    Mertes: Das ist richtig, ich verstehe auch diesen Punkt. "Ne me soumet pas à la tentation" - da steckt die Unterwerfung drin. Aber die Formulierung lautet - um sie aus einem anderen Kontext zu nehmen: "Der Geist Gottes führte Jesus in die Wüste." Das "Führen" ist die angemessene Übersetzung des griechischen Wortes. Das bürdet Gott auf, sich den Fragen der Menschen zu stellen: Warum bin ich krank? Warum fühle ich mich gottverlassen? Warum ist meine Ehe geschieden? Alle diese Fragen führen mich in eine Vertrauensfrage an Gott und das ist eine schwere Prüfung für jeden Menschen, der gläubig ist. Und das einfach damit zu lösen, dass man sagt: Gott hat damit gar nichts zu tun, das finde ich, ist eine zu leichte Lösung.
    Florin: Nehmen wir mal die Situation beim Tischgebet: Das besteht gemeinhin daraus, dass man Gott für das Essen auf dem Teller dankt. Das heißt: Sie machen Gott auch dafür verantwortlich, dass anderswo auf der Welt Kinder und Erwachsene nichts zu essen haben?
    "Irgendwelche naseweisen Leute"
    Mertes: Letztverantwortlich. Ich könnte sonst nicht daran glauben, dass Gott am Ende der GEschichte alles zum Guten führen wird.
    Florin: Was meinen Sie: Wie geht diese Debatte in Deutschland aus? In Frankreich ist sie entschieden, da wird seit dem ersten Advent das Vaterunser anders gebetet. Wie wird das in Deutschland ausgehen?
    Mertes: Ich kann mir nicht vorstellen, dass man autoritär von oben über einen seit Jahrhunderten gewachsenen Text mit der auch richtigen Formulierung per ordre de mufti einfach das verändern kann. Ich verstehe Menschen, die für sich persönlich sagen: Ich kann das nicht beten und bete lieber "Und führe mich in DER Versuchung".
    Florin: Gott, der einen in der Versuchung führt - das heißt, er führt einen auch wieder raus.
    Mertes: Ja. Bei Ignatius ist es so: In der Situation der Trostlosigkeit, der Traurigkeit, der Depression geduldig bleiben, in der Gewissheit, dass Gott uns auch in der Versuchung führt und dann auch wieder herausführen wird.
    Florin: Aber manchmal lässt er einen auch sitzen...
    Mertes: Ziemlich lange. Manchmal ganz schrecklich lange. Und diejenigen, die klagen und unter der Wucht dieser Erfahrung leiden, dürfen sich vor Gott erheben und ihn anklagen. Das ist das Gebet der Psalmen, das ist das Gebet der Bibel und das möchte ich auch weiterhin beten dürfen und mir nicht von irgendwelchen naseweisen Leuten - ich meine jetzt nicht den Papst - sagen lassen: Gott hat damit gar nichts zu tun.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.