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"Venedig ist eine Art Legende"
Polnisch-venezianische Novelle von Artur Becker

Der polnisch-deutsche Autor Artur Becker gehört zu jenen Erzählern, die am liebsten aus der eigenen Biografie schöpfen. Nicht anders verhält es sich mit seiner Novelle "Sieben Tage mit Lidia", die in Venedig spielt: ein schönes und lebendiges Porträt der italienischen Lagunenstadt.

Von Marta Kijowska | 04.02.2015
    Venedig im Regen
    Venedig kennenlernen: Für einen Dichter ein absolutes Muss, findet der Schriftsteller Artur Becker. (Christoph Schmitz)
    Der Campo Santa Maria Mater Domini, auf dem seine beiden Gastgeber zu Hause waren, sah an diesem frühen Dezembermorgen, einem kaltfeuchten und vernebelten Sonntag, spiegelglatt und reingewaschen aus: Andrzej hatte den Eindruck, als hätte sich Venedig für die Ankunft von Lidia einer gründlichen Reinigung unterzogen.
    Das ist einer der ersten Sätze in Artur Beckers Novelle, doch der Eindruck, den er erweckt, ist falsch: Der polnische Schriftsteller Andrzej Olsztynski,die Hauptfigur des Buches, wartet nicht etwa auf die Ankunft seiner Geliebten oder einer alten guten Freundin. Genaugenommen, er kennt diese Frau nicht einmal richtig. Lidia ist die Tochter seines Freundes und Gastgebers, die er das letzte Mal vor Jahren als einen Teenager gesehen hat und die er nun vom Bahnhof abholen soll.
    Er selbst ist auch erst seit einigen Tagen in Venedig: Sein Freund ist Komponist und will einen Zyklus seiner Gedichte vertonen. So ist Andrzej vor wenigen Tagen aus Polen gekommen, um mit ihm zu arbeiten und die Stadt endlich kennenzulernen – nach Artur Beckers Ansicht für einen Dichter ein absolutes Muss.
    "Venedig ist eine Art Atlantis"
    "Also ich finde erst einmal, dass jeder Schriftsteller oder Künstler immer noch, wenn er, sagen wir mal, Mitte dreißig ist, spätestens, nach Italien fahren sollte, weil dort rein ästhetisch, was die Architektur und Kunst angeht, nach wie vor eine wunderschöne Harmonie herrscht. Ich wusste das immer, ich wusste aber nicht, ob sich das tatsächlich in meinem Leben ergeben würde. Und dann ergab sich die erste Reise, ermöglicht auch durch das Stipendienprogramm der deutschen Bundesregierung nach Olevano Romano – 2005 war das. Und da entstand praktisch schon die erste Liebe, sodass ich dann auch privat in die Toskana hingefahren bin. Aber Venedig ist eine andere Stadt, Venedig ist eine Art Atlantis oder eine Art Legende. Insofern war die Begegnung mit Venedig noch einmal eine Art Beschleunigung oder, sagen wir mal, ein Wechsel der Perspektive, was meinen Blick auf Italien angeht."
    Auch Andrzej empfindet Venedig als etwas Einmaliges. Allerdings nicht allein wegen der Schönheit dieser Stadt, sondern auch wegen der Umstände. Der trübe Sonntag, an dem er Lidia abholt, ist nämlich ein besonderer Tag: Es ist der 13. Dezember 1981, in Polen wird der Kriegszustand verhängt, und die gerade noch so bewunderte Lagunenstadt erscheint ihm auf einmal wieder fremd und gleichgültig.
    Es war immer noch still in Venedig, die grauen Wolken aber begannen sich langsam zu verziehen, sie wollten der Sonne Platz machen, doch nirgendwo traf man einen Polen, den man hätte befragen können, um ein paar Neuigkeiten zu ergattern, oder wenigstens einen kleinen Jungen mit einem Stapel Il Gazzettino, der in die Menge "La guerra in Polonia!" schreien würde. Venedig war still, und wie immer schien diese Stadt in ihrem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit unbesiegbar zu sein, während auf dem Festland neue Kriege tobten.
    Dass Andrzej die Vorzüge Venedigs bald wieder genießt, ist allein Lidia zu verdanken: Die junge Frau, die aus London kommt, verwirrt ihn vom ersten Augenblick an. Sie ist schön, selbstsicher, weltgewandt, so ganz anders als ihre Altersgenossinnen in Polen. Ungeachtet des großen Altersunterschieds und der Tatsache, dass in der Heimat seine Familie auf ihn wartet, verliebt er sich in das Mädchen.
    Von jetzt an sind sie unzertrennlich und verbringen die Tage in den Straßen Venedigs, in Restaurants und Cafés und vor allem in ihrem Liebesnest im Hotel "Canada" am Campo San Lio. All das lässt Andrzej aber sein Dilemma nicht vergessen. Und dieses lautet: Soll er nach Polen zurückkehren oder alles Dortige hinter sich lassen, in Italien Asyl beantragen und ein neues Leben beginnen – ein Konflikt, den Artur Becker übrigens in seinen Büchern immer wieder thematisiert.
    "Dieser Konflikt hat mich noch einmal deshalb interessiert, weil wir das in Deutschland, also deutschsprachige Autoren, die einen Emigrantenhintergrund haben, viel zu oft auf ganz andere Dinge reduzieren und über eine ganz andere Problematik sprechen als eben über diese Ursprünge: Was eigentlich dazu führt, dass man überhaupt gezwungen wird oder selber entscheidet, dass man seine Sprache verlässt. Und was das bedeutet."
    "Wer ein Dichter ist, darf sein Vaterland nicht verlassen", schreibt Artur Becker, der sich selbst dennoch anders entschieden hat: Mitte der 80er-Jahre ist er nach Deutschland emigriert. Da war er allerdings erst achtzehn und hatte sein ganzes Leben noch vor sich. Sein Protagonist hingegen ist bereits sechsunddreißig und nicht gerade erfolgsverwöhnt, denn die kommunistischen Behörden in Polen haben ihn schon vor längerer Zeit mit Publikationsverbot belegt.
    Literarisches Spiel mit Manns "Tod in Venedig"
    "In diesem speziellen Fall, was Andrzej Olsztynski, den Haupthelden der Novelle angeht, ist die Biografie so aufgebaut, dass er in Warschau studiert hat, dass er in Polen nicht publizieren darf, weil er solche Texte schreibt, die der kommunistischen Regierung gar nicht gefallen, und dann ist er noch – im Prinzip hat er eine klassische Biografie – Jurist, das heißt, er hat ein abgeschlossenes Studium. Wir wissen, das sind auch historische Fakten, wenn man vor 89 in der Volksrepublik Polen regimekritisch war, durfte man gar nicht nach dem Jurastudium arbeiten, das war eigentlich völlig unmöglich, man konnte keinen Job finden. Das heißt, in dieser Novelle passiert auch etwas sehr Seltsames: Er wird verbannt in die masurische Heimat, wie man das einmal mit einem anderen großen polnischen Dichter gemacht hat, nämlich Galczynski, aber zu Zeiten des Stalinismus."

    Es gibt noch andere polnische Autoren, auf die Artur Becker in seinem Buch anspielt: Marek Hlasko etwa oder Czeslaw Miłosz, mit dem er sich immer wieder auseinandersetzt. Diese polnischen Einlagen gehören zu Beckers schriftstellerischen Eigenarten, und es scheint ihn nicht sonderlich zu bekümmern, dass ihr Sinn dem Leser manchmal verborgen bleibt. Auch diesmal ist es nicht anders, zumal sein Held, der nun oft mit der venezianischen Kunstszene in Berührung kommt, seinen polnischen Dichterkollegen selbst wenig Beachtung schenkt. Seine neuen Freunde sind Musiker, Maler, Fotografen und Bühnenbildner, heißen Gaston Salvatore, Toni Murano oder Eduardo Tirolo, laden ihn zu ihren Partys und Vernissagen ein und zeigen ihm immer wieder Orte, die außerhalb der Touristenpfade liegen.
    Das macht seine Tage in Venedig um so reizvoller, zumal er durch die gemeinsame Arbeit mit seinem Freund – sie bereiten einen Liederabend für das Teatro La Fenice vor – das Gefühl hat, bald selbst Teil dieser Künstlergemeinde zu sein. Und dennoch: Würde er sich hier auf Dauer auch wirklich heimisch fühlen? Wohl eher nicht. Das wird ihm auf einmal schmerzlich bewusst, als er bei einer dieser Partys seine Gedichte vortragen soll.
    Seine Gedanken waren wirr, und er hatte das Gefühl, dass er keinen einzigen Satz vom Anfang bis zum Ende würde logisch formulieren können, spräche ihn jetzt jemand an. Und er hatte das Gefühl, er sei ins 19. Jahrhundert katapultiert worden, die Möbel und die Gemälde und selbst die Kleidung der Menschen erinnerten ihn an "Krieg und Frieden", den alten Film aus den Fünfzigern. Wo bin ich hier nur hineingeraten?, fragte er sich.
    Wie sich Andrzej im Endeffekt entscheidet, ob er als Exildichter in Italien bleibt oder nach Polen zurückkehrt, darf natürlich nicht verraten werden. Wer Artur Beckers Buch liest, wird aber nicht nur mit der Antwort auf diese Frage belohnt.Er wird sich auch an der Leichtigkeit, Eleganzund Frische der Novelle erfreuen. Er wird verfolgen können, wie der Autor mit Thomas Manns "Tod in Venedig"ein kleines literarisches Spiel treibt – denn natürlich ist die sehr erotische Verbindung des polnischen Dichters Andrzej Olsztynski mit der viel jüngeren, vitalen Lidia eine scherzhafte Umkehrung der platonischen Liebe, die der deutsche Schriftsteller Gustav von Aschenbach für den kränklichen Tadzio empfindet. Und nicht zuletzt: Er wird ein schönes und lebendiges Porträt der italienischen Lagunenstadt finden.

    Artur Becker: "Sieben Tage mit Lidia"
    Weissbooks Verlag, Frankfurt am Main 2014. 197 Seiten, 17,90 Euro.