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Venezuela vor der Parlamentswahl
Das Land des Mangels

Nach 16 Jahren könnte in Venezuela Schluss sein mit dem "sozialistischen Experiment" von Staatschef Hugo Chávez, der 2013 starb. Die harte Hand seines Nachfolgers Nicolás Maduro rächt sich. Die Stimmung im Land ist aufgeheizt, auch wegen der Wirtschaftskrise, die an der Würde der Menschen nagt. Der Oppositionspolitiker Henrique Capriles spricht von einer "Zeitbombe". Am Sonntag wird ein neues Parlament gewählt.

Von Anne-Katrin Mellmann | 04.12.2015
    Kunden stehen im Supermarkt in Caracas, Venezuela, vor leeren Regalen.
    Kunden stehen im Supermarkt in Caracas, Venezuela, vor leeren Regalen. (picture alliance / dpa)
    Nur ein kleiner Funken reicht: Nur die Frage an die Wartenden vor einem Supermarkt mit subventionierten Lebensmitteln in Caracas, seit wann sie in der endlosen Schlange stehen, und schon bricht sich die Wut über die Misere Bahn. Aufgebrachte ältere Frauen streiten mit einem Mann, der die Regierung verteidigt.
    Es sei nicht verwunderlich, dass die Menschen die Beherrschung verlieren, erklärt Lisbeth, eine energische 41-Jährige mit strengem Zopf. In dem ärmlichen Stadtviertel "23. Januar" arbeitet sie für eine der Basisorganisationen, die "colectivos", die eigentlich als Unterstützer der regierenden sozialistischen Partei Venezuelas gelten.
    "Du spürst die ganze Nacht lang den Hunger"
    "Die Hitze, die Müdigkeit. Wenn die Leute die ganze Nacht hier verbracht haben, sind sie müde. Wenn Du leer ausgehst, was dann? Oder du spürst die ganze Nacht lang den Hunger, bist müde, und dann kommst du rein, und es gibt kein Huhn mehr. Das kommt vor. Du hast die ganze Nacht in der Hoffnung verbracht, ein Huhn, Mehl oder Milch und Zucker zu ergattern, und wenn du dann reinkommst, gibt es nichts. Das ist doch Wahnsinn!"
    Die ärmeren Bevölkerungsschichten im venezolanischen Caracas leben in Stadtvierteln wie dem "23. Januar"
    Die ärmeren Bevölkerungsschichten im venezolanischen Caracas leben in Stadtvierteln wie dem "23. Januar" (Deutschlandradio / Anne-Katrin Mellmann)
    Lisbeth ist wütend über den immer extremer werdenden Mangel. Mit ihrem "colectivo" betreibt sie ein Stadtteil-Radio, gleich neben dem Lebensmittel-Laden. Bis auf weiteres sendet sie nur Musik. So läuft sie nicht Gefahr, sich mit ihrer kritischen Haltung den Mund zu verbrennen.
    200 Prozent Inflation
    Seit einigen Monaten sieht Lisbeth täglich, wie nebenan schon mittags die ersten kommen und eine Schlange bilden. Sie verbringen Nachmittag, Abend und Nacht am Straßenrand, damit sie am nächsten Morgen etwas ergattern können. Jeder darf nur einmal in der Woche hinein – je nach Personalausweisnummer. Es ist reine Glückssache, ob an dem Tag das verkauft wird, was man braucht. Bier und Coca Cola gibt es immer, Maismehl und Milch immer seltener. Medikamente fehlen. Dazu kommt eine Inflation von etwa 200 Prozent. Die ohnehin niedrigen Einkommen sind täglich weniger wert.
    Der Mangel verletzt die Würde der Menschen: Es gibt keine Hygieneartikel für Frauen, keine Windeln, auch nicht für Alte, was Lisbeth besonders schmerzt, denn sie pflegt ihre bettlägerige Mutter. In der Schlange stehen müssen die ganze Nacht – dafür habe sie nicht die Revolution unterstützt, schimpft sie. Der Begriff "Revolution" gehört zum Sprachgebrauch der Anhänger des verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez, der Chavisten. Obwohl in Venezuela nie eine Revolution stattfand, Chávez wurde mehrfach demokratisch gewählt.
    "Uns geht es so schlecht, dass die Leute sogar ihre kranken Angehörigen in den Supermarkt bringen müssen. Man verkauft nur denen etwas, die persönlich erscheinen. Sie schieben sie manchmal sogar in Rollstühlen hierher. Andere Kranke müssen eine Stunde Fußmarsch von ihrem Haus bis zum Supermarkt zurücklegen."
    Maduro setzt auf Rückhalt der Armen
    Zu der Versorgungskrise geführt haben Misswirtschaft, Enteignung privater Unternehmen, Preiskontrollen, Inflation und die starke Importabhängigkeit. Dabei hat Venezuela die größten Erdölreserven der Welt. Wie ihre Vorgänger aus der reichen Oberschicht hat sich auch die sozialistische Regierung in ihren fast 17 Amtsjahren auf die Devisen-Einnahmen aus dem sprudelnden Erdöl-Geschäft verlassen. Sowohl Hugo Chávez als auch nach seinem Tod 2013 der unpopuläre Nachfolger Nicolas Maduro haben mit dem Ölexport ihre Sozialprogramme finanziert und - die Lebensmittelimporte. Seit dem Preisverfall für Öl ist die Staatskasse leer. Präsident Maduro spricht von Wirtschaftskrieg. Er gibt der Bourgeoisie die Schuld am Mangel. Jetzt, kurz vor der Parlamentswahl, setzt seine Partei auf den Rückhalt der ärmeren Bevölkerungsschichten, die in Stadtvierteln wie dem "23. Januar" leben. Menschen, deren beschwerlichen Alltag Hugo Chávez verbessern wollte.
    Menschen wie Lisbeth. Sie glaubt nicht an einen weiteren Wahlsieg der Chavisten. Das Vertrauen sei zerstört:
    "Unsere Misere ist dem Chavismus zu verdanken, der Umgestaltung der Gesellschaft. Der Staat ist dafür verantwortlich. Sie können mir nicht die Schuld anhängen, wenn ich gegen sie stimme oder nicht zur Wahl gehe, denn sie sind verantwortlich für ihre schlechte Politik, für ihre Korruption. Sie haben unsere Hoffnung zerstört. Damit ist ein Prozess zu Ende gegangen, der eine Referenz für ganz Lateinamerika und die Welt hätte sein können. Wir hätten ein Land sein können mit einem Sozialismus, in dem die Menschen würdevoll leben. Wir hätten bessere Bedingungen schaffen können, mehr Lebensqualität, aber sie haben alles zunichte gemacht."
    Ein junger Mann sitzt vor einem Graffiti von Hugo Chávez
    Ein junger Mann sitzt vor einem Graffiti von Hugo Chávez (Deutschlandradio / Anne-Katrin Mellmann)
    Am anderen Ende der Stadt, in einem Bezirk der gehobenen Mittelschicht: Nach einem Englisch-Seminar an der Privatuniversität UNE plaudert Tourismusstudent José Luis Alarcón noch kurz mit seinen Kommilitonen. Eine Studentin berichtet von ihrer USA-Reise. Zum Einkaufen sei die dort gewesen. Seife und Shampoo habe sie mitgebracht. Auch das ist zu Hause Mangelware, für alle, auch für die Reichen – von Präsident Maduro Bourgeoisie genannt. José Luis, ein gutaussehender 28-Jähriger, hört aufmerksam zu. Er liebt das Reisen. Seine Diplomarbeit schreibt er über Rucksacktourismus. Es kommen aber kaum noch Backpacker nach Venezuela. Würden sie Geld zum offiziellen Kurs tauschen, wäre das Reisen unbezahlbar. Würden sie auf dem Schwarzmarkt tauschen, wäre ein extra Rucksack für die vielen Scheine nötig. Hundert Bolívares ist der größte Schein. Dabei kostet ein Essen im Restaurant schon etwa viertausend.
    José Luis kommt kaum raus aus dem Land. Auch Devisen sind Mangelware. Was man fürs Reisen braucht, gibt es, wenn überhaupt, nur auf Zuteilung.
    "Es ist sehr schwierig. Als ich zuletzt in Trinidad und Tobago war, war ich finanziell von meiner Freundin abhängig, die ein Bankkonto im Ausland und dadurch Zugang zu Devisen hat. Eine Europareise konnte ich unternehmen, weil ich Glück hatte und mein Devisenantrag genehmigt wurde. Der Staat gibt dir – wenn du Glück hast - Devisen zum günstigen Umtauschkurs. Sie haben mir den Kauf von 3.000 Dollar genehmigt. Du bekommst von der Bank 500 in bar, 2500 werden auf einer Kreditkarte gut geschrieben. Du kannst aber nicht alles am Bankautomaten ziehen. Du musst das Geld von der Kreditkarte für Einkäufe ausgeben. Das schränkt dich ein, denn man bekommt eben nur 500 Dollar Bargeld."
    Trinkgeld höher als der monatliche Mindestlohn
    Er müsse um etwas betteln, was ihm eigentlich zustehe, sagt José Luis, steigt in sein Auto und macht sich auf den Heimweg.
    Einen Dollar für 6,2 Bolívares – das ist der offizielle Umtauschkurs. Auf dem Schwarzmarkt kostet ein Dollar derzeit aber mehr als 700 Bolívares. Wenn José Luis jemanden vom Flughafen abholt und dafür 20 Dollar Trinkgeld bekommt, hat er also 14.000 Bolívares verdient. Das ist weit mehr als der Mindestlohn. Der liegt bei 9.500 - im Monat.
    Zerstörtes Vertrauen
    Es gibt noch zwei weitere offizielle Umtauschkurse, die den Schwarzmarktwert eigentlich senken sollen. Aber das Gegenteil ist eingetreten. Die Finanzpolitik, die den Wert des Bolívar künstlich hoch hält, hat den Venezolanern nicht geholfen, sondern geschadet.
    Junge Menschen wie José Luis sehen pessimistisch in die Zukunft, können in Zeiten der Inflation nichts aufbauen. Das Vertrauen in die Fähigkeiten der Regierung ist zerstört. Viele von José Luis Freunden sind deshalb schon ins Ausland gegangen.
    "Die Bevölkerung wird verspottet. So hat es sich entwickelt. Leider ist der Alltag in Venezuela traurig und trostlos. Wir müssen auf die Straße gehen und etwas unternehmen."
    Tote bei Protesten gegen Maduro
    Das ist im vergangenen Jahr oft passiert – mit blutigem Ende: Bei Straßenprotesten starben mehr als 40 Menschen. Jetzt herrscht gespannte Ruhe. Die Menschen warten auf die Wahl. Es ist zwar nur eine Parlamentswahl, aber die könnte das Ende des Sozialismus einläuten. Dieser venezolanische Sozialismus, dem Hugo Chávez seinen Namen gab, erlebt einen kritischen Moment. Denn die Verbesserungen für die arme Bevölkerung, wie mehr Teilhabe an der Demokratie, bessere Gesundheitsversorgung und subventionierte Lebensmittel nutzen wenig, wenn die Wirtschaft am Boden liegt. Eine Wirtschaft, die keineswegs sozialistisch, sondern weiterhin marktwirtschaftlich funktioniert.
    Die bestimmenden Themen aller Bevölkerungsschichten, egal ob arm oder reich, sind die hohe Inflation und die Versorgungskrise. Die Machtbasis der Chavisten bröckelt. Abgehoben von den Problemen der einfachen Leute reagiert die Regierung von Nicolás Maduro hilflos. In die ohnehin stark polarisierte Gesellschaft treibt sie den Keil noch tiefer.
    Ein Mitglied der venezolanischen Nationalpolizei schießt einen Tränengaskanister mit einem Gewehr ab, um regierungskritische Demonstranten zu vertreiben.
    Ein Mitglied der venezolanischen Nationalpolizei schießt einen Tränengaskanister mit einem Gewehr ab, um regierungskritische Demonstranten zu vertreiben. (dpa picture alliance / Miguel Gutierrez)
    Allabendlich schlägt die Stunde der Fernseh-Demagogen. Die linientreuen Kanäle - und das sind inzwischen fast alle - preisen die Errungenschaften der Revolution. Oder sie ziehen angebliche Konterrevolutionäre durch den Dreck. Die Sendung mit jugendlich anmutenden Moderatoren, mit Gitarrenmusik unterlegt, soll jüngere Venezolaner indoktrinieren. Die Moderatoren zeigen das Foto eines inhaftierten Oppositionspolitikers. Mit darauf: ein zweiter, der ihn im Gefängnis besucht. Fazit des Moderatorenduos: Die müssen homosexuell sein. (Gelächter)
    Man klopft sich auf die Schenkel. Schwule beleidigen – das gehört zum Staatsfernsehen im Jahr 2015.
    Auf einem anderen Kanal monologisiert Präsident Maduro vor Publikum stundenlang über die Verfehlungen der Bourgeoisie, die das Volk ausraube. Der Zögling von Hugo Chávez gibt sich wie ein Grundschullehrer. Das Publikum pariert artig. Parasiten des Kapitalismus seien alle, die nicht auf Seiten der Regierung stehen. Nach wie vor tut in Venezuela niemand etwas gegen die Polarisierung. Auch die Opposition nicht.
    Niederlage könnte heilsam sein
    Einer der wenigen gemäßigten Journalisten und Politiker ist Vladimir Villegas. In seiner Sendung "Vladimir um Eins" des Kanals Globovision kommen Vertreter aller Seiten zu Wort. Villegas war einst Chavist, arbeitete für die Regierung von Hugo Chávez, wandte sich jedoch ab, so wie viele andere, und gründete eine eigene, linke Partei. Die Parlamentswahl zu verlieren könnte aus seiner Sicht heilsam für die sozialistische Partei sein.
    "Es müsste dann eine Veränderung in der Führung der Partei PSUV geben. Sie hat schwere Fehler gemacht, vor allem wirtschaftliche. Egal, ob sie gewinnt oder verliert – die größte Herausforderung für die sozialistische Partei in Venezuela heißt: sich selbst zu verändern, die Art zu regieren, die Art, mit dem Rest der Gesellschaft und auch mit den eigenen Anhängern umzugehen. Das Problem ist immer: Siege fördern den Willen zur Veränderung nicht."
    Die Warnsignale hat die PSUV schon bei den letzten Wahlen nicht sehen wollen, weil sie immer die Mehrheit bekam – wenn auch eine immer knappere.
    Mehrheit für die "ninis"
    Noch ist unklar, was die Parlamentswahl ergeben wird. Eine Mehrheit zeichnet sich derzeit für die "ninis" ab, Abkürzung für "Ni gobierno, ni oposicion", Menschen, die weder der Regierung noch der Opposition ihre Stimme geben wollen. Sollte das Oppositionsbündnis, das sich den Namen "Tisch der demokratischen Union" gegeben hat, gewinnen, wäre das noch nicht das Ende der Sozialisten, höchstens der Anfang vom Ende. Denn bis zur Präsidentenwahl dauert es noch fast vier Jahre. Aber die Opposition könnte den Prozess beschleunigen, indem sie mit einer Parlamentsmehrheit ein Referendum zur Neuwahl des Präsidenten beschließt. Das wäre schon 2016 möglich. Wenn sich die Oppositionellen nicht selber im Weg stehen, schränkt Benjamin Reichenbach ein. Er leitet das Venezuela-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung:
    "Das Kernproblem der venezolanischen Opposition ist, dass sie eben keine klaren Konzepte hat und dass ihr Programm erst einmal im Regierungswechsel besteht. Was dann genau passiert, ist nicht klar. Natürlich würde die Opposition die Wirtschaft flexibilisieren und mehr auf Marktöffnung drängen. Ich sehe da sehr, sehr viele Fragezeichen. Das ist natürlich auch eine Befürchtung oder Unsicherheit gegenüber der Opposition. Die Opposition hat in der Bevölkerung nicht das Vertrauen, die Probleme auch lösen zu können."
    Hinzu kommt, dass der Opposition einige charismatische Köpfe fehlen: weil sie nicht zur Wahl zugelassen wurden oder weil sie im Gefängnis sitzen, wie der Chef der Partei Voluntad Popular, Leopoldo López. Er wurde zu mehr als 13 Jahren Haft verurteilt, weil er für die Toten bei den Protesten im vergangenen Jahr verantwortlich sei. Dieses Urteil sei ein Verstoß gegen alle rechtsstaatlichen Prinzipien, meint Benjamin Reichenbach.
    Der venezolanische Präsident Nicolas Maduro winkt am 13. Februar 2015 seinen Anhängern zu. Er trägt eine Jacke in den Nationalfarben Venezuelas.
    Der venezolanische Präsident Nicolas Maduro will im Wahlkampf wie ein einfacher Mann wirken - im Trainingsanzug in den Nationalfarben Venezuelas. (picture alliance / dpa - Miraflores Palace)
    Die Probleme des Landes zu lösen – das traut auch der Regierung kaum noch jemand zu. Es ist zu offensichtlich, dass sie kein wirtschaftspolitisches Konzept hat. Auch innerhalb des chavistischen Lagers macht sich Misstrauen breit.
    Die Eltern des Tourismus-Studenten José Luis sind Kolumbianer. Sie kochen gerade, als ihr Sohn nach Hause kommt. Nach mehr als 25 Jahren in Venezuela essen sie immer noch am liebsten kolumbianisch. Aber es ist kaum noch möglich die Zutaten, wie zum Beispiel Bohnen, zu bekommen: Auch ihr Alltag ist bestimmt durch Mangel und Inflation. Die Geldentwertung erschwert José Luis Senior die Arbeit. Sein kleines Unternehmen stellt Putzmittel her, die Chemikalien dafür muss er aus Kolumbien importieren. Seit Venezuela die Grenze geschlossen und in großen Teilen der Region den Ausnahmezustand verhängt hat, sei das noch schwieriger und teurer geworden:
    "Militärs verlangen für alles Schmiergeld"
    "Die Behörden lassen die Waren nicht mehr frei passieren. Die venezolanischen Militärs im Grenzgebiet verlangen für alles Schmiergeld - und das ist in letzter Zeit immer mehr geworden. Gib mir Geld oder ich nehme dich fest, sagen sie dir. Ihnen bringt der Konflikt nur Vorteile, weil sie nun viel mehr Geld dafür verlangen können, Produkte über die Grenze zu lassen."
    Die offizielle Erklärung, den Schmuggel einzudämmen und den Wirtschaftskrieg gegen Venezuela zu beenden, hält José Luis Alarcón für großes Theater, das von der Unfähigkeit der Regierung ablenken solle. Die Probleme Venezuelas seien hausgemacht. Schließlich habe sich die Versorgungslage seit die Grenze dicht ist ja weiter verschlechtert. José Luis ist einer von mehr als fünf Millionen Kolumbianern in Venezuela, und er hat Angst, dass es ihm so ergehen könnte wie den 1.500 Landsleuten, die deportiert wurden. Die Alarcons haben zwar gültige Aufenthaltspapiere, fühlten sich aber trotzdem nicht mehr sicher, erzählt der Familienvater:
    "Ich glaube nicht, dass sie die Leute in Ruhe lassen, die Pässe und gültige Papiere haben. In unserem Stadtviertel weiß ich von vielen, die freiwillig zurück nach Kolumbien gegangen sind. Sie haben viele Sachen hier gelassen, nicht nur ihre Arbeit. Ganze Familien sind gegangen. Es sagt einem ja keiner vor einer Deportation Bescheid. Dann hat man keine Chance mehr, Besitz mitzunehmen oder Geld von der Bank zu holen. Sie wollten nicht auf die böse Überraschung warten."
    Hoffnung und Angst vor politischem Wechsel
    20.000 sind schon freiwillig gegangen, schätzen die Vereinten Nationen. Familie Alarcón will erst einmal bleiben. Sie hält die Hoffnung auf sich bald ändernde politische Verhältnisse. Ihr Sohn José Luis hofft auf einen baldigen Machtwechsel und lässt bis dahin keine Protestveranstaltung aus. Obwohl er mit der Politik nicht einverstanden ist, erkennt er die Verdienste des Chavismus an.
    Lisbeth ist überzeugt davon, dass niemand in ihrem Viertel – sollte die Regierung die Wahl verlieren – die so genannten "Errungenschaften" des Sozialismus verteidigen würde, selbst die bewaffneten "colectivos" nicht. Venezuela wird nicht um wirtschaftliche Reformen herum kommen. Allen politischen Akteuren ist klar, dass der Preis hoch sein wird: Eine Währungsreform zum Beispiel wäre vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten sehr schmerzhaft. Das ist auch der venezolanischen Opposition bewusst. Es wird vielleicht ein Venezuela ohne Maduro geben, aber nicht mehr ohne eine Kraft, die den sozialen Ausgleich sucht – ob die sich dann noch Chavismus nennt oder nicht.