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Verblasster Glanz im russischen Wyborg

Die Hafenstadt Wyborg, gelegen im Finnischen Meerbusen, hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich: rund 400 Jahre unter schwedischer Herrschaft, Teil des Zarenreichs, zweitgrößte Stadt im unabhängigen Finnland, Sowjetzeit. Vor allem letztere hat Wyborg arg zugesetzt. Dennoch ist der alte Glanz der Stadt hier und da noch zu erkennen.

Von Stefan Tschirpke | 15.11.2009
    Das Wahrzeichen der Stadt: die Wyborger Burg.
    Das Wahrzeichen der Stadt: die Wyborger Burg. (Stefan Tschirpke)
    Sonntagmorgen im Hafen von Lappeenranta, Süd-Ostfinnland. Stille Uferpromenaden, verlassene Segelboote. Am azurblauen Himmel ein paar luftige Federwölkchen. Und bis zum fernen Horizont Wasser, die Ausläufer der Saimaa-Seenregion. Nur am Passagierkai bewegt sich etwas. Soeben hat ein Schiff abgelegt, der Ausflugsdampfer M/S Carelia, knapp 40 Meter lang, am Heck Finnlands Flagge, das blaue Kreuz auf weißem Grund.

    ""Verehrte Reisende! Im Namen von Kapitän Karhu heiße ich Sie herzlich auf der Carelia nach Wyborg willkommen.”"

    Täglich pendelt die Carelia zwischen dem finnischen Lappeenranta und Wyborg in Russisch-Karelien. Wyborg war einst eine finnische Stadt. Die Finnen nennen es deshalb Viipuri. Aber der Zweite Weltkrieg schuf veränderte Tatsachen. Im Sommer 1944 marschierte die Rote Armee in ein verlassenes Viipuri ein, seine finnische Bevölkerung war bereits aus der Stadt geflüchtet. Heute zieht es viele Finnen wieder nach Wyborg, einst Finnlands zweitgrößte Stadt und wichtiger Handelsknotenpunkt. Für viele ist die Reise weitaus mehr als ein Sonntagsausflug. Zum Beispiel für vier Damen, die sich auf dem Sonnendeck niederlassen. Mirja, Liisa, Terttu und Leena - vier Geschwister, zwischen Ende 30 und Mitte 60, adrett, gut aufgelegt.

    ""Unsere Eltern stammen aus Viipuri. Die Älteste von uns ist noch in Viipuri geboren. Wir wollen nach alten Straßennamen und Adressen suchen, wo unsere Eltern und Verwandten gewohnt haben. Kurz vor seinem Tod hatte unser Vater noch die genaue Adresse unserer Familie auf der Karte vermerkt.”"

    Während die Geschwister den Stadtplan von Wyborg studieren, nippt Seppo Laaksonen an seinem Keskiolut, finnischem Weizenbier. Nostalgie oder familiäre Bindungen lockten ihn nicht nach Wyborg, sagt Laaksonen, etwa Mitte 50, braun gebrannt, Unternehmer aus Helsinki. Ihn fasziniere besonders die Architektur aus den Jahren 1917 bis 1940, in denen Wyborg zum unabhängigen Finnland gehörte.

    ""Die meisten Bürger- und Handelshäuser sind sehr heruntergekommen, aber die ursprünglichen Fassaden mit ihren Details sind erhalten. Wenn sich doch jemand finden würde, der die Häuser wieder in Ordnung bringt! Ich war schon einmal in Viipuri, aber per Bus. Mal sehen, was die Schiffstour zu bieten hat.”"

    Das imposante Panorama eines Zellstoff- und Papierwerks: hohe Fabrikschlote, in weißen Rauch gehüllte Sägemehlberge, angeflößte Rohholzbündel. Dann schwenken wir in den Saimaa-Kanal ein, den 43 Kilometer langen künstlichen Wasserweg, der Lappeenranta und Wyborg verbindet. Mit dem Schweiß von rund 3000 Knechten, Sträflingen und Soldaten gebaut. Das war Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Baubefehl kam aus Sankt Petersburg, Finnland war damals autonomes Großfürstentum des Zarenreichs. Bis heute ist der Saimaa-Kanal das größte jemals in Finnland verwirklichte Bauvorhaben, sagt Reiseführerin Irma Kainulainen.

    ""Es ging vor allem um Handelsinteressen. Man wollte das finnische Binnenland, also die Saimaa-Region, mit dem Finnischen Meerbusen verbinden. Aber auch der Tourismus profitierte. Für Aristokratenfamilien aus Sankt Petersburg war ein Ausflug auf dem Kanal eine echte Attraktion.”"

    Erste Station, die Schleuse in Mälkiä. Die Motoren werden gedrosselt, behutsam gleiten wir in das Becken. Die gewaltigen Schotts schließen sich, das Wasser fließt ab und wir sinken langsam 12 Meter nach unten. Insgesamt acht Schleusen gleichen einen Höhenunterschied von 76 Meter zwischen dem Saimaa und dem Finnischen Meerbusen aus. Heute sei der Schleusenbetrieb voll automatisiert, sagt Kapitän Heikki Karhu, ein Urgestein, seit 30 Jahren in der Region unterwegs. Karhu steht am Steuerrad und blickt über die Bugspitze in die Ferne.

    ""Auf dem Kanal geht es ruhig zu. An den Schleusen gibt es kein Personal mehr. Nur noch Kameras. Alles wird von der Zentrale an der Mälkiä-Schleuse gesteuert.”"

    Von wegen ruhig. Ein überraschend großes Frachtschiff kommt uns entgegen und zwingt die Carelia zum Ausweichen. An seinem Heck die holländische Flagge, geladen hat es Birkenholz.

    ""Der Frachtverkehr ist lebhafter als der Passagierverkehr. Gestern begegneten wir 15 Frachtschiffen. Transportiert werden vor allem Holz, Sägewaren, aber auch Granit. Verglichen mit der Straße ist der Wasserweg kostengünstig. Kilometerlange Staus wie an den finnisch-russischen Grenzübergängen gibt es hier nicht.”"

    Auf beiden Seiten des Kanals karelische Landschaft: Fichtenwälder so weit das Auge reicht, mit Moos bewachsene Granitfelsen, hier und dort Bauernhöfe. Mitunter taucht im Dickicht ein zweiter, schmalerer Kanal auf. Irma Kainulainen:

    ""Das sind die Überreste des alten Kanals. Nachdem Finnland die Karelische Landenge an die Sowjetunion abtreten musste, lag etwa die Hälfte des Saimaa-Kanals auf sowjetischer Seite. Das führte dazu, dass der Kanal für den Schiffsverkehr jahrelang gesperrt war, veraltete und zuwucherte. Erst Mitte der 60er-Jahre konnte Finnland mit der Sowjetunion einen Pachtvertrag für den Kanalabschnitt auf sowjetischer Seite aushandeln. Danach wurde gründlich erweitert und modernisiert. Im August 1968 wurde der Kanal, so wie er heute ist, feierlich eingeweiht.”"

    Fast hätten wir die finnisch-russische Grenze übersehen. Der Kanal geht plötzlich in einen See über, auf dem die Grenze nur durch eine unscheinbare Boje markiert ist. Nirgends ein Boot der Grenzwache, auch kein Wachturm in Sicht. Wir sind jetzt in Russland, aber auf von Finnland gepachtetem Kanalgebiet. Unter Deck stimmt ein Akkordeon allmählich auf Wyborg ein. Und es gibt Tipps für den Aufenthalt. Vielen geht es um´s Shopping.

    ""Leinenstoff kaufen lohnt! Die Auswahl ist groß und viel billiger als in Finnland. Zwei Euro der Meter!”"
    ""Unbedingt die alte Markthalle aufsuchen! Dort kommt man sogar auf Finnisch zurecht, denn die Verkäufer sind an finnische Besucher gewöhnt.”"

    Wir legen im Passagierhafen an, in Sichtweite das Wahrzeichen der Stadt - die Wyborger Burg. Die Festung liegt mitten in einem Arm der Wyborger Bucht. Lustig wirkt die zierliche grüne Kupferhaube, die den massiven Hauptturm bedeckt.

    In der Krepostnaja Ulitza, für Finnen die Linnankatu, zu Deutsch die Burgstraße, erwartet uns ein Bus. Erste Tuchfühlung mit Wyborg aus der Busfensterperspektive. Zunächst machen wir mit dem Gründer der Wyborger Burg Bekanntschaft. Direkt am Hafen steht das Denkmal von Torkel Knutson, einem schwedischen Heerführer, der Ende des 12. Jahrhunderts die Region um Wyborg besetzte und rund 400 Jahre schwedische Herrschaft einleitete.

    ""Das Denkmal stand jahrzehntelang irgendwo im Abseits. Torkel Knutson passte nicht in das Bild der Sowjetunion. Erst 1993, als Wyborg sein 700-jähriges Jubiläum feierte, kehrte Knutson an seinen alten Platz zurück.”"

    Zu seiner Rechten eines der wohl am besten restaurierten Gebäude in Wyborg, der einstige Sitz der schwedischstämmigen Kaufmannsfamilie Weckroot.

    ""Die Weckroots waren sehr reich. Sogar Katarina die Große machte auf ihrer Reise zu den Stromschnellen in Imatra hier Station. Bei den Weckroots soll es so fein zugegangen sein, dass die Dielen mit Weißwein gereinigt und mit Brot getrocknet wurden.”"

    Weiter geht es durch die Altstadt. Die einst prachtvolle Fassade eines Handelshauses ist von einem Netz umhüllt. Einsturzgefahr! Über dem Eingang liest man die Jahreszahl 1907. Ähnlich sieht es an vielen Ecken in Wyborg aus. Verfallener Glanz, architektonische Erinnerungen an eine ferne reichere Zeit, die in einer wahren Blüte der Stadt in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts gipfelte. Heute ist diese Blütezeit untergegangen, aber dennoch bei genauerem Hinschauen allgegenwärtig: Bürgerhäuser mit ausgefallenen Fensterformen, verspielten Bögen und Türmchen, Treppenhäuser, geschmückt mit aus Natur entlehnten Ornamenten, aus rotem Granit gebaute Bankhäuser, Schulen in klassizistischem Ambiente. Aber alles sehnt sich aber nach frischer Farbe, neuem Putz, vieles ruft schlicht nach Rettung. Ähnlich, sogar schlimmer, ist es um die alten Kirchen bestellt. Ein Beispiel:

    ""Links diese Mauern, das sind die Ruinen der Kirche des Landkreises Wyborg. Zu Zeiten der Sowjetunion arbeitete in der Kirche ein Elektrogerätewerk, das jedoch irgendwann abbrannte. Nur der Glockenturm der Kirche ist noch erhalten.”"

    Die Rundfahrt geht weiter, vorbei an einem weitläufigen Park, dahinter ein Platz, der von einem Monument dominiert wird - ein kahlköpfiger Mann in bekannter Pose.

    ""Wir befinden uns am Platz der roten Quelle. Hier steht er also noch, der Herr Lenin. In Russland haben solche Denkmäler allmählich Seltenheitswert.”"

    Zum Ende der Rundfahrt ermuntert uns die Stadtführerin zu einem Spaziergang auf eigene Faust durch die Altstadt. Und so soll es sein.

    Beobachtungen am Leningradski Prospekt: Viel Verkehr, viel Abgase, und einige aufgeklappte Motorhauben. Meist sind es alte Ladas. Gibt es Probleme?

    Nein! Keine Probleme, behauptet ein stämmiger Russe und wischt sich mit der verölten Hand den Schweiß von der Stirn. Gegenüber Wyborger bei einer täglichen Routine, dem Zeitunglesen an langen Schautafeln. Im Schatten alter Laubbäume schlängelt sich eine lange Tischreihe. Alte Mütterchen bieten hier feil, was der eigene Garten hergibt oder was man in den Wäldern gesammelt hat: Blumen, Äpfel, Gurken, Zwiebeln, Blaubeeren, sorgfältig gesäuberte Steinpilze, kräftig duftende Pfefferlinge.

    Nächster Punkt: Ein herrlicher Park, begrenzt von zwei Hauptstraßen mit alten Handelshäusern, eine breite Promenade unter majestätischen alten Bäumen, in einer Lichtung ein schlichtes weißes Gebäude. Die Stadtbibliothek, entworfen nach Plänen des finnischen Architekten Alvar Aalto, gebaut Mitte der 30er-Jahre. Funktionalität in bestem Aalto-Stil: Durch große runde Dachfenster flutet Tageslicht in den Lesesaal.
    Hier begegne ich Bibliothekarin Marina Jerimejewa, gebürtige Grusinierin, zurückhaltend, freundlich. Ein paar Brocken Deutsch sind ihr aus der Studienzeit noch geläufig.

    ""Ich arbeite in Bibliothek. 40 Jahre. In Grusinien, dort habe ich im Institut gelernt. Fünf Jahre: Russistik, Germanistik.”"

    Etwas betrübt zeigt sie auf riesige Wasserflecken und den weitflächig abgebröckelten Putz an der Decke des Lesesaals. Immerhin: Mit finnischer Hilfe bekam die Bibliothek ein neues Dach und ihr weiterer Verfall konnte damit gestoppt werden. Viel Anstrengungen sind jedoch noch nötig, um hier den Geist von Alvar Aalto wieder aufleben zu lassen.

    Beim Durchstreifen der Stadt fällt auf: Nicht alle Kirchen sind überwucherte Ruinen. Im Sonnenlicht funkeln die sorgfältig restaurierten Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen Kirche. Und unweit davon eine weitere Kirche in gutem Zustand. Drinnen begrüßt mich ein junger Pfarrer, und sogar in fließendem Finnisch:

    ""Unsere Kirche, gebaut bereits 1779, blieb erhalten, weil sie der sowjetischen Flotte als Offiziersclub, Kinotheater und Tanzstätte diente. Deshalb hielt die Armee das Haus einigermaßen in Ordnung.”"

    Pfarrer Wladimir Dorodnij, untersetzt, Mitte 30, stammt aus Archangelsk und erlernte zunächst den Beruf des Hubschraubermechanikers. Anfang der 90er-Jahre kam er nach Wyborg, lernte hier die lutherische Gemeinde kennen und begann sich für den lutherischen Glauben zu interessieren. Bibel-Kurse folgten in Finnland, wo er schnell Finnisch lernte. Die lutherische Gemeinde, so Dorodnij, gibt es hier wieder seit 1990. Ein Jahr später bezog man den alten Stammsitz, der daraufhin mit großzügiger finnischer Hilfe restauriert wurde.

    ""Sie war ursprünglich die Kirche der schwedischen und deutschen Gemeinden der Stadt. Bis zum Krieg war Wyborg sehr international. Neben der finnischsprachigen Hauptbevölkerung gab es auch eine schwedische und eine deutsche Minderheit. Der letzte Gottesdienst wurde im Sommer '44 abgehalten. Dann rückte die Rote Armee ein.”"

    Heute zählt die lutherische Gemeinde rund 300 Mitglieder. Man sei in Wyborg bekannt und arbeite auch gut mit der orthodoxen Kirche zusammen, berichtet Dorodnij.

    Sein Handy klingelt. Ein Bürger bittet um eine Auskunft. Beim Verlassen der Kirche fällt mein Blick noch auf die Rückwand. Irgendetwas fehlt hier. Gibt es denn keine Orgel? Doch, sagt Dorodnij, und zeigt auf ein Mini-Orgel.

    ""Über das Schicksal der großen Orgel kursieren nur Gerüchte. Ein Offizier soll irgendwann befohlen haben, sie abzureißen und ihre Pfeifen als Gartenzaunmaterial zu verwenden. Bis wir das Geld für eine neue Orgel zusammen haben, behelfen wir uns mit diesem Instrument. Auch ein Geschenk aus Finnland.” "

    Besonderer Anziehungspunkt für finnische Touristen: die alte Markthalle. Gewühl, Gedränge und Debatten an den Verkaufstischen, die sich unter der Last der Waren biegen. Berge mit glitzernden Bonbons, kräftiger Gewürzduft, Leinenstoffe. Eine finnische Touristin probiert genüsslich Sauerkraut. Immer, wenn sie in Wyborg sei, kaufe sie gleich mehrere Pfund davon.

    ""Ist ganz unterschiedlich zubereitet. Das können die Russen wirklich. Gehört zu ihrer Esskultur. Aber auch sonst findet man hier einfach alles. Für uns Finnen symbolisiert die Markthalle irgendwie das alte Viipuri.”"

    Über die Krepostnaja komme ich allmählich zurück in die Gegend der Bucht und des Passagierhafens, wo die Carelia bereits wartet. In einer Seitenstraße begegne ich noch einem jungen Mann. Er sitzt auf einem Camping-Stuhl, auf seinen Knien ein Papierbogen, in der Hand einen Bleistift, gegenüber eine Hausfassade, die er aufmerksam betrachtet. Anton Artega ist Architekturstudent aus Moskau. Für das Praktikum kam für ihn nur Wyborg in Frage.

    ""Es gibt so viele einmalige Gebäude hier. Schauen sie sich dieses Haus an, finnische Periode, vermutlich ein früheres Fabrikkontor, jetzt leer. Diese herrliche Färbung des Granits, diese kräftigen Konturen. Alles das versuche ich in meinen Skizzen festzuhalten. Noch ist Wyborg so erhalten, aber ich befürchte, dass in einigen Jahren diese Gebäude verschwunden sind.”"

    Optimistischer klingt Tapio Suonio, Steward auf dem Ausflugsdampfer Carelia, der uns mittlerweile wieder ins finnische Lappeenranta bringt.

    ""Wyborg hatte in den Nachkriegsjahrzehnten sehr gelitten. Noch vor zehn Jahren war ein Besuch sehr deprimierend. Aber in letzter Zeit ist es besser geworden. Selbst die Behörden beginnen sich für Wyborgs reiche Geschichte zu interessieren. Es ist bereits viel passiert.”"

    Unter Deck gibt es wieder Akkordeonklänge. Lieder über Karelien, Lieder über Viipuri. Alles singt, Erinnerungen schwingen mit. Die ausgeteilten Texte werden natürlich nicht gebraucht.