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Verdammt lang her

Die 70er Jahre waren verdammt lang. Wie lang, daran erinnern uns die 600 Seiten von Erasmus Schöfers letztem Roman Zwielicht. Und man wäre nicht traurig, wenn das eigentümlich aufregende Buch noch ein paar hundert Seiten mehr hätte. Die 70er Jahre waren nicht nur lang, sie liegen auch so weit zurück – das lässt sich kaum in Jahreszahlen ausdrücken. Wenn Schöfers Romanhelden im DKW über die Autobahn von Köln nach Wyhl brausen, um gegen die Errichtung eines Atomkraftwerks zu demonstrieren, dann glaubt man zu spüren, dass die Sonne damals ein anderes Licht verströmte und die Strommasten anders surrten. Doch kein Missverständnis: Zwielicht ist kein Nostalgiebuch, es ist auch kein Geschichtsveranschaulichungsroman.

Von Walter van Rossum | 19.08.2004
    "An epic is a poem including history", hatte Ezra Pound geschrieben. Und diese Einsicht setzt Schöfer dem Roman als Programm voran: Erzählendes ist ein Gedicht, das Geschichte einschließt. Schöfer gelingt es, diese Poetik in einen großartigen Roman umzusetzen.

    Die 70er Jahre sind auch deshalb so entrückt, weil es in der Zwischenzeit gelungen ist, die nicht nur politischen Aufbruchsträume jener Zeit weitgehend zu kriminalisieren. Wer damals die Bestialitäten des Vietnam-Krieges für eine gerechte Sache hielt, muß sich bis heute weder vor einem Gericht noch vor seinem Gewissen rechtfertigen. Wer hingegen diesen Krieg entschieden ablehnte, konnte damals mit einem Berufsverbot rechnen und muß sich bis heute manchmal abstruse Vorwürfe anhören.

    Kurz, es gäbe vieles zu korrigieren und umzuwerten. Doch genau dies tut Erasmus Schöfer nicht. Es wird zwar viel diskutiert in seinem Roman, aber der Romancier entdeckt vor allem die Lyrik auf dem politischen Schlachtfeld. Er führt uns in das Imaginäre jener Jahre. Ob es um eine Glasfabrik in Arbeiterhand geht, um den Beginn der Anti-Atomkraftbewegung, um Ostverträge, gegen Notstandsgesetze, um die Organisationsfrage in den sogenannten K-Gruppen, um Abrüstung oder um Mitbestimmung – all dies gehorchte immer auch etwas anderem als politisch mehr oder weniger plausiblen Motiven. Die Weltverbesserung speist sich aus Träumen, die nicht in ihren politischen Argumenten aufgehen. Und so räsoniert eine der Romanfiguren:

    Wer war denn ich in diesem Gedrängel? Der Zwitter aus ArbeiterSein und BürgerLust, der den unverbrämten Mief von Waschküche im Keller Taubenschlag unterm Dach, den schwarzen Pütt und den ungewaschenen SSK, die KumpelKlasse verlassen hat für Zehnfingertippen und Unterwäsche von Schießer, für seine private Befreiung, der aber doch weiter drinhängt mit Hirn und Haaren, im Trotz der Respektlosen und in allem was riecht nach Aufbruch aus verfügter Unmündigkeit und Gewalt. Er kann nicht fragen ob das nützlich ist für eine Karriere in diesem Land, verdammt er kanns nicht das Raushalten Zurückstecken Einsehenhaben. Durch den Prozess muss er durch, und durch diesen Kaiserstuhl auch. Den hat er sich angeeignet als politische HerzHeimat, als Versuchsfeld für seinen persönlichen Ausweg aus dem Geblök der geprügelten Schafe, Reden ist Silber, Schreiben ist Gold.

    Es ist ziemlich leicht, von heute aus die 70er Jahre als Dekade eines Herz zreißenden Missverständnisses zu beschreiben. Denn "das System" hatte relativ früh begriffen, dass sich die emanzipatorischen Ideen von 68 ausgezeichnet für eine längst überfällige Systemmodernisierung eigneten. So verwandelte sich der Schlachtruf gegen alles Autoritäre zunächst in die Idee der Mitbestimmung, dann der Selbstverantwortung und drückt sich heute am grausamsten in der sogenannten "Ich-AG" aus.

    Doch die große Kunst von Schöfers Roman besteht darin, dass er den Ausgang der Geschichte nicht kennt. Er führt uns mitten in den Tumult der Ereignisse aus der Perspektive noch längst nicht geplatzter Träume. Zurück ins Zwielicht eines gelebten Aufbruchs, der denen, die ihn suchten, bald den Boden unter den Füßen wegriss. Die Avantgarde, die die Geschichte in die Hand nehmen wollte, blieb unentrinnbar in sie verstrickt.

    Schöfers Helden sind keine Heroen, die sich im Glanz höherer und purlauterer Überzeugungen sonnen. Der Betriebsrat Manfred Anklam, der literarische Journalist Armin Kolenda und der Historiker Viktor Bliss sind keine strahlenden Revolutionsführer, sie sind Skeptiker, die laufend die Erfahrung machen müssen, ihren eigenen Ansprüchen nur höchst unvollkommen zu entsprechen. Sie lernen, sich selbst in Frage zu stellen. Nicht zuletzt in der Liebe, in ihren eigenen bürgerlichen Lebensvorstellungen.

    In Schöfers Roman erscheinen die Aktivisten der Gesellschaftskritik als melancholische Romantiker, die unter der Last ihrer schönen Träume schwitzen. Es ist nämlich nicht ganz leicht, sich mit seiner Zeit anzulegen. So erklärt Viktor Bliss, der gewisse Ähnlichkeiten mit dem Autor Erasmus Schöfer hat, in einem Vortrag:

    Ich bin einer von denen, die neunzehnhundert achtundsechzig, spät, sehr spät, an jenem ersten demokratischen Aufbruch der kritischen Geister dieser Republik teilgenommen haben. Das war die große Lehrzeit für viele, die in der Schule nichts erfahren haben über die schreckliche, unverdaute Vergangenheit Deutschlands und über den Wiederaufbau der alten Herrschaftsverhältnisse, die unsere Eltern und Großeltern in die Diktatur und zwei Weltkriege geführt hatten. Wir wollten die schleichende Aushöhlung bremsen, rückgängig machen, die unsere demokratische Verfassung von neunzehnhundert neunundvierzig befallen hatte – deshalb haben wir die Straßen zu unserm Massenmedium gemacht. Viele dachten damals, wir könnten mit einer großen Kraftanstrengung das Staatsschiff von seinem Kurs abbringen, wir könnten der gefräßigen Hydra genannt Kapitalismus die Köpfe auf einmal abschlagen wie Herkules.

    Der Schriftsteller Erasmus Schöfer hat selbst an den Kämpfen jener Jahre teilgenommen. Er war auf den unterschiedlichsten Feldern politisch engagiert und er gehörte zu den Mitbegründern des "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt". Viele Jahre lang war er Vorsitzender des VS, des Verbands der Schriftsteller. Nach dieser Biographie könnte man glauben, Schöfer habe jetzt einen politisch eingreifenden, mehr oder weniger volkstümlichen Roman geschrieben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ihn scheint vor allem die Frage zu beschäftigen, was die Literatur zur Deutung dieser Vergangenheit beitragen kann. Und man darf sagen, Schöfer hat jenen Jahren ihre Vieldeutigkeit zurückgegeben. Indem er von nichts als Schwierigkeiten erzählt, hat er den inzwischen zerschlissenen Weltverbesserungsträumen ihre Größe zurückgegeben.

    Erasmus Schöfer
    Zwielicht. Die Kinder des Sisyfos. Zeitroman
    Dittrich Verlag. 600 S., 24,80