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Barbara Rieger: "Bis ans Ende, Marie"
Der Halo-Effekt und die Folgen für eine Freundschaft

"Bis ans Ende, Marie" ist das erste Buch der 1982 geborenen Schriftstellerin Barbara Rieger. Rieger, die mit "Café Entropy" auch einen literarischen Fotoblog rund um Wiener Caféhäuser betreibt, erzählt von einer asymmetrischen Freundschaft.

Von Christoph Schröder | 28.11.2018
    Buchcover: Barbara Rieger: „Bis ans Ende, Marie“
    Von der feindlichen Übernahme eines Lebens (Buchcover: Verlag Kremayr & Scheriau)
    Der Halo-Effekt, zu Deutsch: Heiligenschein-Effekt, ist ein Begriff aus der Sozialpsychologie. Er umschreibt das Phänomen, dass bestimmte positive Eigenschaften eines Menschen dafür sorgen, dass alle anderen Eigenschaften nicht mehr wahrgenommen werden. Die Ich-Erzählerin in Barbara Riegers Roman studiert Psychologie. Nach dem Willen ihrer Familie hätte sie eigentlich Ärztin werden sollen. Doch sie kann, so ihre eigene Behauptung, kein Blut sehen und enttäuscht darum die an sie gestellten Erwartungen.
    Mit dem Halo-Effekt wird sie also zum einen im wissenschaftlichen Kontext ihres Studiums konfrontiert. Zum anderen aber, und das ist das Entscheidende, tritt er in Form von Marie in ihr Leben. Marie arbeitet als Kellnerin in einer Bar. Dort lernen die beiden jungen Frauen sich kennen. Bereits im ersten, scheinbar völlig belanglosen Gespräch, deutet sich ein Machtgefälle an, dass im Verlauf ihrer zunehmend intensiven Freundschaft an Rasanz und Dynamik gewinnen wird:
    Und sonst?, fragt Marie. Sie schiebt mir einen Long Island Ice Tea hin.
    Nichts, sage ich.
    Wie langweilig, sagt sie, das solltest du ändern.
    Ich nicke.
    Eine dämonische Aura umgibt Marie
    Barbara Rieger schreibt kurze, manchmal atemlos wirkende Sätze. "Bis ans Ende, Marie" ist ein streng durchrhythmisierter Text, in dem die Ich-Erzählerin und Marie sich in knapp gehaltenen und zumeist offenen Szenen einander annähern, sich ineinander verwickeln. Ein permanentes Spiel von Eroberungs- und Emanzipationsbemühungen.
    Die Ich-Erzählerin ist zugleich angezogen von der Lebenstüchtigkeit, der Verwegenheit und auch dem sexuellen Mut, den Marie ausstrahlt. Zugleich aber schwebt über der Marie-Figur eine dämonische Aura. Sie ist eine begnadete Manipulatorin und Anstifterin, die mehr Energie aus Menschen heraussaugt als sie ihnen gibt. Eine asymmetrische Freundschaft.
    Die feindliche Übernahme eines Lebens
    Marie wird Teil der Clique. Sie ziehen durch die Nächte, alle zusammen, gehen auf Konzerte, tanzen in Clubs und Bars, trinken ungeheuer viel, gehen mit Männern nach Hause oder auch nicht – und finden sich am nächsten Morgen mit dickem Kopf in der eigenen oder irgendeiner anderen Wohnung wieder. Doch das ist, das wird deutlich, Maries Leben, nicht das der Ich-Erzählerin. Wir werden Zeuge einer feindlichen Übernahme, einer Anmaßung. Die körperliche Autonomie der Ich-Erzählerin zerbröselt.
    Es ist ein gelungener Kunstgriff Barbara Riegers, diese Auflösung zusätzlich im Verhältnis der Ich-Erzählerin zu ihrer Familie zu spiegeln. Denn auch dort, in einem automatisierten System aus Beruhigungsmitteln und Anpassung, ist sie bei jedem Besuch subtilen Grenzüberschreitungen ausgesetzt:
    Der Vater weiß, welche Tabletten er ihr und welche er mir bringen soll. Sie haben diese Zeichensprache perfektioniert, die Mutter braucht nur den kleinen Finger zu heben und der Vater weiß, was er zu tun hat, wie ein Roboter. Die Mutter kommt auf mich zu, widerwillig, sie fährt mit ihren Fingern durch meine Haare und stöhnt. Du hättest wenigstens zum Frisör gehen können, sagt sie.
    Spiel mit den Realitätsebenen
    Bei aller sprachlichen Härte und vermeintlichen syntaktischen Klarheit ist "Bis ans Ende, Marie" ein doppelbödiger Roman. Barbara Rieger spielt geschickt mit diversen Vorstellungs- und Realitätsebenen. Man kann sich nie ganz sicher sein, ob man sich gerade in der erlebten Wirklichkeit, in einem Traum oder in einer halluzinatorischen Wunschvorstellung der Ich-Erzählerin befindet.
    Das ist psychologisch glaubwürdig aus der Figur heraus entwickelt und technisch intelligent gebaut. Kippmomente finden sich oft innerhalb eines einzigen Satzes. Sie stehen auch symbolisch für das Hin- und Hergerissen sein der Ich-Erzählerin zwischen der Faszination für Marie und dem unbewussten Wunsch, die Dominanz der Freundin abzustreifen, sogar in Todesfantasien:
    Wie weit noch, wie lange noch, ich sehe nach unten, sehe das Ende, den Boden, höre Maries kurzen Schrei über mir, sehe ihren Fuß von der Sprosse rutschen, ihre Hand ins Leere greifen, sehe den Wanderstock fallen, sehe Marie hinterher, auf den Felsen aufschlagen, immer wieder, immer weiter weg von mir. Den können wir vergessen, sagt Marie, als sie neben mir auf dem Weg steht.
    Auch die österreichische Schriftstellerin Mareike Fallwickl hat im Frühjahr mit ihrem Roman "Dunkelgrün, fast schwarz" den Versuch unternommen, eine toxische Freundschaft in eine literarische Form zu bringen. Im Vergleich zu Fallwickls opulenten Buch ist Barbara Riegers Roman wohltuend durchgearbeitet, formal stimmig und niemals geschwätzig. "Bis ans Ende, Marie" ist ein angespannter und spannender Text und die Studie eines Falls, der das Grenzgebiet zwischen Machtspiel, Projektion und Pathologie erkundet.
    Barbara Rieger: "Bis ans Ende, Marie"
    Verlag Kremayr & Scheriau, Wien. 204 Seiten, 19,90 Euro.