Donnerstag, 25. April 2024

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Polens verschleppte Kinder
"Für mich hat der Krieg erst nach dem Krieg begonnen"

Sie wurden systematisch ausgewählt, verschleppt und sollten Deutsche werden: Das Schicksal von etwa 200.000 polnischen Kindern während des zweiten Weltkriegs. Nur wenig ist bislang darüber bekannt. Bei einer Konferenz in Krakau haben die Betroffenen ihre persönlichen Geschichten erzählt.

Von Florian Kellermann | 23.11.2018
    Henryk Kowalczyk
    Henryk Kowalczyk wurde direkt nach seiner Geburt seiner polnischen Mutter weggenommen. Diese war Zwangsarbeiterin bei einem Bauern bei Dachau. (Florian Kellermann)
    Barbara Paciorkiewicz zeigt auf drei Schwarzweiß-Fotos: Ein junges, pausbäckiges Mädchen blickt mit großen Augen nach oben, die Kamera nimmt es von vorne auf, im Halbprofil und im Profil.
    "Ich weiß nicht, wann die Bilder gemacht wurden. Wahrscheinlich war das während der Rassen-Selektion. Dabei bin ich wohl als rassisch brauchbar eingestuft worden."
    Mit fast vier Jahren war Barbara aus dem Haus ihrer Oma in Lodsch, bei der sie aufwuchs, entführt worden. Die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg brachten sie in ein Zentrum des Lebensborn.
    Barbara Paciorkiewicz
    Barbara Paciorkiewicz (Florian Kellermann)
    Diese Institution suchte in den besetzten Gebieten Kinder, die den nationalsozialistischen pseudowissenschaftlichen Rasse-Kriterien entsprachen und verschleppte sie nach Deutschland. Genauere Erinnerungen hat Barbara Paciorkiewicz erst von der Familie in Lemgo, zu der sie gebracht wurde:
    "Ich hatte das Glück, dass ich in eine Familie gekommen bin, die gerade ein Kind verloren hatte. Sie haben mich dort geliebt. Für mich hat der Krieg erst nach dem Krieg begonnen."
    Denn dann wurde die inzwischen Zehnjährige von den Alliierten zurück nach Polen gebracht, wo sie sich erst nach vielen Jahren heimisch fühlte. Ihre leiblichen Eltern waren tot, und sie konnte kein Wort Polnisch
    Es geht um 200.000 Opfer
    Die germanisierten Kinder aus den im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten seien ein bisher wissenschaftlich weitgehend unerforschtes Thema, sagt die Historikerin Joanna Lubecka vom "Institut des nationalen Gedächtnisses" IPN in Krakau:
    "Kein Historiker hat sich damit bisher eingehend befasst, obwohl es um immerhin 200.000 Opfer geht. Ein Grund dafür ist, dass es kaum Dokumente gibt. Der Lebensborn hat sie noch während des Krieges vernichtet."
    Die erste große Konferenz zu dem Thema, die gerade in Krakau zu Ende ging, hatte denn auch ein etwas ungewöhnliches Format: Auch Betroffene waren eingeladen - und schilderten ihren Lebensweg.
    Unter ihnen Henryk Kowalczyk, heute 79 Jahre alt. Er wurde nicht aus Polen verschleppt, sondern direkt nach seiner Geburt seiner polnischen Mutter weggenommen. Diese war Zwangsarbeiterin bei einem Bauern bei Dachau.
    Henryk nannte sich selbst damals Heinrich, hielt seine Pflegeeltern für seine wahren Eltern - und war verzweifelt, als er mit sechs Jahren zurück nach Polen fahren sollte:
    "Meine Pflegemutter hat mir einen Pullover mitgegeben, der hatte ein Hirschmotiv. Er war mein Lieblingspullover. Aber schon im ersten Sammellager ist er mir verloren gegangen. Ich weiß noch, wie ich geweint habe. Überall habe ich ihn gesucht, vergeblich."
    Kontakte zu früheren Familien schwierig
    Nonnen zogen Henryk Kowalczyk auf. Er studierte Geschichte, wurde Archivar - und fand sich mit seinem Schicksal ab, wie er sagt. Bis er in den 1990er Jahren Kontakt zur Tochter seiner deutschen Pflegemutter bekam, zu Josephine, die er als kleiner Junge geliebt hatte.
    "Als Fini und ich uns Briefe geschrieben haben, da habe ich wieder Deutsch gelernt, so gerne hätte ich sie noch einmal gesehen. Aber dann, kurz bevor ich nach Deutschland fliegen wollte, kam ihr Anruf: Ihr Sohn, bei dem sie wohnte, wünsche keine Fremden im Haus."
    Auch Barbara Paciorkiewicz, die in Lemgo aufwuchs, hat ihr Leben gemeistert. Sie wurde Textildesignerin und zog alleine zwei Kinder groß. Und doch wühlen sie die Gedanken an die Vergangenheit immer wieder auf:
    "Ich habe bis heute in mir dieses Gefühl, das ich eine Waise bin und alleine auf der Welt, das wird mit dem Alter eher noch schlimmer."