Freitag, 19. April 2024


Vereint und von Freunden umzingelt

Das Fahnenmeer zur Fußball-Weltmeisterschaft war mir eine späte Genugtuung. Als nämlich im Herbst 1989 nach der Maueröffnung auf der Leipziger Montagsdemonstration ein Meer schwarz-rot-goldener Fahnen erschien, rümpften westliche Fernsehkommentatoren, die auch schon vor Ort waren, die Nase. Sie sahen die Stimmung ins Nationalistische kippen.

Von Richard Schröder | 03.10.2006
    Sie hatten aber nicht genau genug hingesehen. Die meisten dieser Fahnen hatten nämlich ein Loch in der Mitte. Da fehlte das DDR-Emblem. Ein wichtiger DDR-Ideologe, Otto Reinhold, hatte im August erklärt, ohne den Systemgegensatz hätte die DDR keine Existenzberechtigung. Die Demonstranten hatten nun auf ihre Weise die Konsequenz daraus gezogen: "Wir sind ein Volk." Das kam aber bei manchen unserer Brüder und Schwestern im Westen gar nicht gut an. Sie zitierten mit bedeutungsschwerem Gesicht noch Jahre später Heinrich Heine: "Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht." Was hat denn unserem Heine in Frankreich den Schlaf geraubt? Lesen wir weiter. "Nach Deutschland dächt’ ich nicht so sehr, wenn nicht die Mutter dorten wär. Das Vaterland kann nicht verderben, jedoch die alte Frau könnt sterben." Nichts also von einem schrecklichen Mysterium Germaniae.

    Auf die Frage, was die deutsche Geschichte von der anderer Länder vor allem unterscheide, nannten 1990 an erster Stelle die meisten Westdeutschen die Nazizeit, die meisten Ostdeutschen aber die deutsche Teilung. Beide hatten sie recht. Der Westen hatte sich den Naziverbrechen schonungslos gestellt, während im Osten der Antifaschismusmythos mehr Nebel warf als Klarheit schuf. Die Teilung aber war für die Ostdeutschen schmerzhafter als für die Westdeutschen, weil uns die Mauer nicht nur vom Westen, sondern vor allem von der Freiheit trennte, während sich manche im Westen einredeten, wir im Osten könnten doch eigentlich ganz zufrieden sein. Es gibt doch seltsame Blindheiten. Die intensive Beschäftigung mit der Nazidiktatur hat manche nicht etwa hellsichtig, sondern geradezu blind gemacht für das Diktatorische am SED-Regime. Damit hängt vielleicht auch zusammen, dass die einzige erfolgreiche Revolution der deutschen Geschichte, zudem eine gewaltlose, heute in Ost und West zur "Wende" degradiert wird, wie das zuerst Egon Krenz getan hat. Manche bestreiten sogar, dass es eine Revolution war. Dabei könnten wir auf sie genauso stolz sein wie die Polen, Tschechen oder Ungarn auf ihre.

    Günter Grass hat Anfang 1990 erklärt, die Geschichte habe den Deutschen auferlegt, in zwei Staaten zu leben, wegen Auschwitz. Da spielte einer den Weltenrichter, aber keinen gerechten, denn das ging auf unsere Kosten. Die Kriegsfolgen waren auf Ost und West sehr ungleich verteilt worden. Weder Günter Grass noch die Geschichte, sondern die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hatten zu entscheiden, wie es mit Deutschland als ganzem weitergeht. Das geschah im Zwei-plus-Vier-Vertrag. Dass der völkerrechtlich den Zweiten Weltkrieg beendet und die Deutschen unter sehr erfreulichen Bedingungen wieder gleichberechtigt in die Völkergemeinschaft aufgenommen hat, das haben wir im Osten wohl stärker wahrgenommen als im Westen. Sonst würde nicht alle Jahre wieder behauptet, der 3. Oktober sei als Nationalfeiertag ungeeignet, da er bloß für einen bürokratischen Akt ohne Emotionen stehe. Nach derselben Logik war der Westfälische Frieden, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, auch bloß ein bürokratischer Akt.

    Manche Ereignisse brauchen offenbar sehr lange bis ins kollektive Bewusstsein. Es war wohl die "Unfähigkeit zu trauern", die im Westen über 15 Jahre den unverstellten Blick auf die deutsche Schuld behindert hat. Könnte es sein, dass eine Unfähigkeit sich zu freuen den Blick auf das Glück des 3.Oktober behindert hat? Könnte es sein, dass auch deshalb die Herbstrevolution bloß eine "Wende" gewesen sein soll? Wird vielleicht deshalb der Aufbau Ost immer nur unter der Devise "Pleiten, Pech und Pannen" traktiert?

    Bei der Fußball-Weltmeisterschaft haben wir bewiesen, dass wir feiern können, unverkrampft, gastfreundlich, spielerisch, dass wir unsere Siege feiern können, aber auch eine Niederlage wegstecken können. Und das alles landesweit.

    Wie wäre es denn, wenn wir das auf den 3. Oktober anwenden? Der Wanderzirkus von Bundesland zu Bundesland ist ein Krampf. Feiern wir doch überall gleichzeitig und in der Hauptstadt ganz besonders. Grund gibt es genug. Noch nie war Deutschlands Lage so komfortabel wie seit dem 3. Oktober 1990: vereint und umzingelt von Freunden.


    Richard Schröder, Jahrgang 1943, stammt aus einem evangelischen Elternhaus in Sachsen. Der Zugang zu einem Theologiestudium wurde ihm in der DDR "mangels gesellschaftlichen Engagements" verwehrt. Schröder studierte an kirchlichen Ausbildungsstätten und übernahm 1973 eine Pfarrstelle. Nach der Wende trat er der neu gegründeten Ost-SPD bei. 1993 wurde er als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch gebracht, winkte aber ab.

    Richard Schröders Vaterlandsliebe klingt wie Johann Sebastian Bachs Ouvertüre Nr. 3 in D-Dur.