Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


"Verfall" - Der erste bulgarische "Wenderoman" von Vladimir Zarev

Wenn ein bulgarischer Autor, der die bedeutendste Literaturzeitschrift des Landes herausgibt, wenn ein Autor nicht nur in allen Medien, sondern sogar von deren Ressortleitern Kultur persönlich besprochen wird, und wenn ein Autor, der zu den anerkannten Erzählern Südosteuropas gehört, für sein neues Buch plötzlich nach einem Verlag suchen muss, weil sich auf dem riskanten bulgarischen Buchmarkt keiner die Finger an einem mutigen Scheit glimmender Literatur verbrennen will, wenn ein solcher Autor schließlich nach Hände ringender Suche bei einem kleinen Verlag landet, dann spricht das Bände. Dann spricht das Bände für die noch immer virulente Angst der bulgarischen Meinungsmacher vor Zensur, Verfolgung und Geschäftsschließung, selbst 15Jahre nach der politischen Wende. Einer Wende, die, wie inzwischen jeder weiß, nicht etwa von tapferen Dissidenten, sondern von der Nomenklatura der kommunistischen Einheitspartei selbst geplant und in die Wege geleitet wurde.

Von Thomas Frahm | 22.10.2004
    Und die Lektüre von Vladimir Zarevs neuem Roman "Razrucha – Verfall" erweist gottlob, dass die Ängste der Verleger sehr begründet waren. Denn "Verfall" ist nicht etwa nur ein kulturpolitisches Ereignis für Bulgarien selbst, sondern vor allem auch ein Stück Literatur, das die bulgarische Belletristik auf einen Streich aus ihrer Randlage heraus in die Mitte der intellektuellen Debatten um das Europa der Zukunft führen könnte.

    An zwei repräsentativen Figuren, einem integren, aber labilen Schriftsteller und einem korrupten, aber allzu selbstgewissen Geschäftsmann führt Zarev die Umverteilung der gesellschaftlichen Macht vor. Die einst so einflussreiche Rolle des schriftstellernden Ideenträgers schrumpft binnen weniger Jahre bis zur Bedeutungslosigkeit. Und die einst so marginale Rolle des Geldkoffer tragenden Unternehmers wächst, freilich gestützt von der alten Macht, zur beherrschenden Figur in einer Gesellschaft, die gar keine Gesellschaft mehr ist, sondern nur noch ein vollkommen anarchischer Markt, auf dem der größte Etikettenschwindler der Staat selbst ist, vor allem in seinen Exekutivorganen. Beide Protagonisten - dies ist die Pointe des Romans - sind auf den gesellschaftlichen Bedeutungswechsel nicht vorbereitet und scheitern an ihren psychischen Altlasten: der eine am Misserfolg und an der materiellen Not, der andere am Erfolg und an der plötzlichen finanziellen Prosperität.

    Doch die Rezeption des Buches, das jetzt genau ein Jahr auf dem Markt ist, überrascht nicht nur dadurch, dass es alle Verkaufsrekorde schlägt. Sie ist auch vollkommen anders ausgefallen als erwartet. Es wurde nämlich nicht etwa verboten für den aufklärerischen Furor, mit dem es nach allen Seiten austeilt und sowohl den Mythos der aufrechten Intellektuellen niederreißt, als auch die Korruption der politischen Klasse brandmarkt. Und sein Autor wurde dafür auch nicht mundtot gemacht. Er und sein Buch wurden vielmehr geradezu erleichtert herumgereicht. Endlich einer, der Tacheles redete und das Wort zum Montag sprach. Endlich einer, der der Wut und Verbitterung der Menschen eine Stimme gab und nebenbei in Motivik und Struktur seiner doppelsträngigen Handlung den seit fünfzehn Jahren andauernden Ausverkauf Bulgariens transparent machte. Die renommierten Kritiker setzten sich, statt zu kritisieren, geradezu euphorisch in den Sattel dieses literarischen Turnierpferdes und absolvierten nacherzählerische Null-Fehler-Ritte.

    Nein, die große Überraschung an der Rezeption des Buches lag in den Reaktionen genau jener lesenden Bildungsschicht, deren bürgerlicher Wertekanon in kommunistischer Zeit permanent frustriert worden war und die nun eigentlich diesen Roman zu ihrer Ikone hätten weihen müssen. Doch genau dies geschah nicht. Im Gegenteil. Zarev wurde dafür kritisiert, dass er die streng gehüteten Grenzen zwischen städtischem Bürgertum und Volk einriss, sprachlich und psychologisch. Denn in der bulgarischen Literatur hatte die Sprache den elaborierten Codes zu entsprechen. Und die Handlungselemente eines Buches, das als E-Literatur geschätzt werden wollte, hatten sich von allen niederen Genres wie Kriminalroman, Agentenroman oder Psychothriller fernzuhalten und sich auf existentialistische Fragen zu beschränken.

    Genau diese aseptische literarische Selbstzensur, dieses schmeichelhafte Selbstbild bürgerlicher Konservativität verletzt Zarev, wo er nur kann. Er zerstört den diätetischen Pseudo-Realismus, der in kommunistischer Zeit gefahrlos zu machen war und haucht der bulgarischen Literatur wieder Leben ein. Und wie das bei neugeborenem Leben so ist: der erste Laut, den die Stimme von sich gibt, ist ein Aufschrei.