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Verfall der Sehnerven verhindern

Die Grundidee ist ganz einfach: Medikamente, die das Absterben von Nervenzellen verhindern, könnten so auch die Sehzellen des Auges schützen. Inzwischen zeigt die Suche nach derartigen neuroprotektiven Substanzen erste Erfolge.

Von Michael Engel | 25.09.2012
    Eigentlich kommt die Idee, kranke Nerven mit Hilfe von speziellen Medikamenten vor dem weiteren Verfall zu schützen, aus der Neurologie. Konzipiert wurde die sogenannte "Neuroprotektion" für Patienten mit Morbus Parkinson oder Multipler Sklerose. Augenärzte, sagt Professor Wolf Lagrèze von der Augenuniklinik in Freiburg, mussten auf diesen Zug nur aufspringen. Er leitet die Arbeitsgruppe "Neuroprotektion":

    "Übersetzt bedeutet das ganz einfach: Schutz der Nervenzellen. Das Auge besteht aus optischen Geweben, aus Bindegewebe, aus Blutgefäßen und neben den Nervenstützzellen aus Nervenzellen, Nervenzellfortsätzen, die die visuelle Information vom Auge zum Gehirn weiter leiten. Das Sehen findet im Gehirn statt. Das Auge ist sozusagen ein Sensor. Bei vielen Erkrankungen kommt es im Auge zu einem Untergang von Nervenzellen - sowohl von Fotorezeptoren als auch von den Fotorezeptoren nachgeschalteten Nervenzellen, die zum Gehirn projizieren."

    Ein Medikament mit neuroprotektiver Wirkung ist Erytropoetin. Das Hormon aus der Niere ist zur Behandlung der Blutarmut zugelassen. Jetzt wurde der Wirkstoff im Rahmen einer Pilotstudie bei Patienten untersucht, die an einer Entzündung der Sehnerven litten:

    "Bei Multipler Sklerose kommt es häufig zu einer Sehnervenentzündung. Sie kann aber auch ohne MS auftreten oder sie kann der Beginn einer MS sein. Und die Therapie der Sehnerventzündung und der MS ist heutzutage hauptsächlich antientzündlich. Also auch wieder ein anderer Wirkmechanismus. Und wir versuchen nun in Kooperation mit anderen Kollegen, konkret der Universitätsneurologie in Heidelberg, unabhängig von der antientzündlichen Therapie einen Anti-Apoptotischen-Therapieansatz zu verfolgen, um einen Zusatznutzen für die betroffenen Patienten zu belegen."

    "Anti-Apoptotisch" heißt, dass die Nervenzellen vor dem Zelltod bewahrt werden. Im Ergebnis verbesserte sich in der Pilotstudie nach der Infusion mit Erytropoetin die Sehfunktion. Nun soll das Therapiekonzept an einer größeren Patientengruppe überprüft werden.

    Eher zufällig wurde die schützende Wirkung von Brimonidin gefunden. Eigentlich soll der Wirkstoff den Augeninnendruck beim grünen Star herabsetzen, doch unabhängig vom Augeninnendruck verlangsamt das Präparat offenbar auch den Krankheitsverlauf beim grünen Star:

    "Und in der Tat scheint es so zu sein, wenn man die Substanz als Augentropfen auf die Augenoberfläche gibt, dass die Konzentration, die in der Netzhaut hinten am Auge ankommt, ausreichend ist, um degenerative Prozesse zumindest zu verlangsamen."

    Mehr als zehn Prozent aller Erblindungen sind auf den "grünen Star" zurückzuführen. Mit neuroprotektiven Wirkstoffen ließe sich der Anteil vielleicht vermindern, so die Hoffnung von Professor Wolf Lagrèze aus Freiburg. Die weitaus größte Zahl der Erblindungen wird allerdings durch die altersbedingte Makuladegeneration – AMD - verursacht. Hier sterben die Sinneszellen der äußeren Netzhaut ab. Gerade bei der trockenen Variante der AMD gibt es derzeit noch keine zufriedenstellende Behandlung. Neuroprotektion – urteilt Prof. Frank Holz von der Universitätsaugenklinik Bonn – könnte hier einen Durchbruch bringen.

    "Es gibt viele vernünftige Ansätze dafür. Es gibt auch erste klinische Studien bei betroffenen Patienten mit später, trockener AMD. Aber es fehlt tatsächlich der Durchbruch und neudeutsch "proof of principle", dass einer dieser Ansätze wirkt. Aber ich denke, es gibt Grund zur Hoffnung, dass sich das in den nächsten Jahren ändern wird."