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Verfassungsgericht prüft Rechtmäßigkeit der Wehrpflicht

Der Osnabrücker Verfassungsrechtler Jörn Ipsen hält die Wehrpflicht in ihrer jetzigen Form für verfassungswidrig. Weil nur ein geringer Prozentsatz der betroffenen jungen Menschen eingezogen, werde, könne von Wehrgerechtigkeit keine Rede sein, argumentiert Ipsen. Ein weiterer Verstoß gegen die Pflichtengleichheit sei es, wenn Wehrdienstverweigerer mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Zivildienst eingezogen würden.

Jörn Ipsen im Gespräch mit Friedbert Meurer | 26.03.2009
    Friedbert Meurer: Seit 20 Jahren ist der Kalte Krieg beendet. Die Rote Armee ist längst aus Ost-Deutschland abgezogen, im Westen haben amerikanische Soldaten im großen Stil das Land verlassen. Vieles hat sich verändert, eines aber nicht: in Deutschland gibt es immer noch die Wehrpflicht. Andere Länder mögen sie abgeschafft haben, in Deutschland ist dem nicht so. Das Verwaltungsgericht Köln, es hat jetzt entschieden, dass zwei junge Männer vorerst nicht zur Bundeswehr eingezogen werden dürfen. Dieser Fall geht nun an das Bundesverfassungsgericht. Die Begründung des Kölner Gerichts lautet in etwa, die Einberufung verstößt gegen die Wehrgerechtigkeit. Wenn nicht einmal mehr die Hälfte aller jungen Männer eingezogen werde, dann sei die Einberufung willkürlich und damit verfassungswidrig. - Im Bundestag fordern deswegen unter anderem Grüne und FDP die Abschaffung der Wehrpflicht, der damalige FDP-Chef Wolfgang Gerhardt zum Beispiel schon vor neun Jahren:

    "Der Kern ist die Frage, ob der jungen Generation in der Bundesrepublik Deutschland die Wehrpflicht noch aufoktroyiert werden kann, wenn sie nicht zur Wehrgerechtigkeit führt, und das ist ein ganz entscheidendes gesellschaftspolitisches Argument. Ich kann eben einem Jahrgang einer Schule nicht erklären am Ende, wenn von den Jungen 15 gezogen werden und zehn nicht. Dann werden die 15, die eingezogen werden, mich als Politiker fragen, warum ich das denn tue."

    Meurer: Der frühere FDP-Chef Wolfgang Gerhardt. - Jörn Ipsen ist Präsident des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, Professor für öffentliches Recht an der Universität Osnabrück. Guten Morgen, Herr Ipsen!

    Jörn Ipsen: Guten Morgen!

    Meurer: Kann der jungen Generation, um die Worte von Gerhardt zu benutzen, noch eine Wehrpflicht aufoktroyiert werden?

    Ipsen: Um es ganz klar auszudrücken: Unter den gegebenen Umständen nein, denn die Wehrpflicht ist im Vergleich zur Steuerpflicht der tiefste Eingriff des Staates in die persönliche Freiheit eines Menschen, und ebenso wie die Steuerpflicht zur Steuergerechtigkeit führen muss, ist das auch mit der Wehrpflicht. Wenn nicht prinzipiell jeder taugliche junge Mensch eingezogen wird, mit anderen Worten der Bedarf geringer ist, als die zur Verfügung stehenden jungen Menschen, ist dies ein Verstoß gegen die Verfassung.

    Meurer: Aber auch beim Steuerrecht gibt es Ausnahmen. Einige sind ausgenommen, einige Tatbestände sind ausgenommen, und bei der Bundeswehr wird ausgemustert, wer beispielsweise gesundheitlich nicht fit ist oder Theologie studiert. Was macht für Sie den großen Unterschied aus zwischen Steuerpflicht und Wehrpflicht?

    Ipsen: Im Prinzip folgt beides den gleichen Grundsätzen. Wir haben bei der Wehrpflicht die so genannten Wehrdienstausnahmen, die wir natürlich berücksichtigen müssen. Die Berechnungen des Verwaltungsgerichts haben allerdings ergeben, dass von einem Jahrgang von etwa 400.000 jungen Menschen immerhin 140.000 grundsätzlich für die Einberufung zur Verfügung stehen. Da sind alle Wehrdienstausnahmen bereits berücksichtigt. Eingezogen wird davon aber nur ein geringer Prozentsatz, so dass von Wehrgerechtigkeit oder, wie ich sagen würde, Pflichtengleichheit nicht die Rede sein kann.

    Meurer: Wäre die Lösung, wenn die Bundeswehr hinginge und diese Pflichtengleichheit wieder herstellt und die Mehrzahl junger Männer zieht?

    Ipsen: Einen genauen Prozentsatz kann man nicht festlegen. Es ist aber so, dass der Haushaltsgesetzgeber von vornherein nur eine sehr viel geringere Zahl von Wehrdienstplätzen vorgesehen hat, die etwa bei 70.000 oder sogar unter 70.000 liegt. Das zeigt, dass man von vornherein nur sehr viel weniger als die Hälfte der zur Verfügung stehenden jungen Leute einziehen wird. Hier kann von Pflichtengleichheit nicht mehr die Rede sein.

    Meurer: Seit einiger Zeit, Herr Ipsen, dürfen ja auch Frauen zur Bundeswehr, auch zu Kampftruppen, sie müssen es aber nicht. Ist diese Ungerechtigkeit, wenn es denn eine überhaupt ist, dass Frauen nicht müssen, Männer aber müssen, für sie eine Wehrpflicht gilt, spielt dieses Mann-Frau-Thema auch eine Rolle?

    Ipsen: Das spielt eine große Rolle, und darüber müssen wir uns in Zukunft unterhalten, denn die Begründung dafür, dass Frauen von der Wehrpflicht verschont bleiben, ist eigentlich immer die gewesen, dass sie typischerweise Kinder bekommen und später durch die Mutterschaft in besonderer Weise belastet sind und dem Gemeinwohl dienen. Ob diese Begründung heute noch trägt, ist fraglich.

    Ein anderer Gesichtspunkt, der von dem Verwaltungsgericht nicht bedacht worden ist, ist folgender: Wir müssen immer auch den Zivildienst in Rechnung ziehen, denn der Zivildienst ist verfassungsrechtlich ein Ersatzdienst für den Wehrdienst. Wenn aber die Wahrscheinlichkeit eines Wehrdienstverweigerers größer ist, zum Zivildienst eingezogen zu werden, als eines Wehrpflichtigen zum Wehrdienst, dann haben wir auch in dieser Hinsicht einen offensichtlichen Verstoß gegen die Pflichtengleichheit. Darüber wird das Bundesverfassungsgericht ebenfalls entscheiden müssen.

    Meurer: Die Befürworter der Wehrpflicht argumentieren ja auch gerne mit historischen Gründen: Die Wehrpflicht verankert die Bundeswehr in unserer Gesellschaft. Welche Tragweite hat dieses Argument?

    Ipsen: Das hat gegolten - und insofern kehre ich zu meinem Ausgangspunkt zurück - in dem Augenblick, in dem praktisch jeder Wehrdiensttaugliche auch eingezogen wurde. Heute hat sich das Bild der Bundeswehr völlig verändert. Wir haben eine hoch technisierte Truppe, die im Wesentlichen auf Krisenprävention eingerichtet ist, und eine solch hoch technisierte Truppe ist auch gut vorstellbar als Freiwilligenarmee.

    Meurer: Die Bundeswehr argumentiert auch mit der Rekrutierung, dass man mit der Wehrpflicht einen besseren Nachwuchs gewinne. Begründet dieses Rekrutierungsargument zumindest teilweise die Wehrpflicht?

    Ipsen: Das überzeugt mich nicht, denn es gibt junge Leute, die sich eben besonders zum Militär hingezogen fühlen, nämlich Freiwillige, was im Übrigen auch dadurch belegt wird, dass eine ganze Reihe von Wehrpflichtigen dann im Anschluss noch weiteren freiwilligen Wehrdienst leisten. Wenn man den Blick auf diese Klientel richtet, dann wird man in Zukunft bei der freiwilligen Rekrutierung vermutlich keine Schwierigkeiten haben.

    Meurer: Es ist natürlich schwierig vorauszusagen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird. Ich stelle jetzt trotzdem mal die Frage. Was glauben Sie, welche Entscheidung aus Karlsruhe kommen wird?

    Ipsen: Man sagt ja, vor Gott, auf hoher See und vor Gericht ist man allein in Gottes Hand. Das wird auch hier gelten. Nach Lektüre der beiden Entscheidungen habe ich den Eindruck gewonnen, dass überwiegende Gründe dafür sprechen, dass das Bundesverfassungsgericht die Wehrpflicht in der gegenwärtigen Fassung für verfassungswidrig hält.

    Meurer: Das war Jörn Ipsen, Professor für öffentliches Recht (Uni Osnabrück) und Präsident des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, heute bei uns im Deutschlandfunk zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln. Das war schon die zweite Entscheidung gegen die Wehrpflicht. Danke, Herr Ipsen, und auf Wiederhören.

    Ipsen: Ja, bitte schön. Auf Wiederhören!