Freitag, 19. April 2024

Archiv

"Islam-Landkarte" in Österreich
Soziologe: Mit dieser Karte kann man nichts anfangen

Ziel der umstrittenen "Islam-Landkarte" sollte sein, eine differenzierte Diskussion über die Vielfalt des islamischen Lebens in Österreich zu ermöglichen. Gerade dies löse die Karte aber nicht ein, sagte der Soziologe Marc Helbling im Dlf. Dafür liefere sie viel zu wenige Informationen.

Marc Helbling im Gespräch mit Levent Aktoprak | 03.06.2021
Die erste und zurzeit größte Moschee Österreichs mit ihren 32 Meter hohen Minarett am Hubertusdamm in Floridsdorf in Wien
Das Thema Islam in Europa sei hochemotional, sagte der Soziologe Marc Helbling im Dlf (dpa /picture alliance /APA /Barbara Gindl)
Die Kritik an der von der österreichischen "Dokumentationsstelle Politischer Islam" herausgegebene "Islam-Landkarte" hält an und wird breiter. Inzwischen hat auch der Europarat die Zurückziehung der "Islam-Landkarte" in Österreich gefordert. Die Landkarte sei über das Ziel hinausgeschossen und sei potentiell kontraproduktiv, hieß es in einer Stellungnahme des Sonderbeauftragten unter anderem für muslimfeindliche Intoleranz und Hassverbrechen, Daniel Höltgen.
Inzwischen ist die "Islam-Landkarte" nicht mehr online, laut einem Hinweis aber nur vorrübergehend aufgrund eines Wechsels des IT-Betreibers der Plattform. Auf der Karte sind 623 muslimische Organisationen und Verbände sowie Moscheen in Österreich mit ihrem jeweiligen Hauptsitz im Land verzeichnet. Islamvertreter und österreichische Politiker kritisierten, dass auf der Karte alle islamischen Einrichtungen des Landes gezeigt werden, egal ob sie erwiesenermaßen islamistisch-antidemokratische Tendenzen haben oder nicht. Die Muslime in Österreich würden damit unter "Generalverdacht" gestellt, hieß es.
"Dokumentationsstelle Politischer Islam": Modellcharakter für Deutschland?
Die "staatliche Dokumentationsstelle Politischer Islam" in Wien soll religiös motivierten politischem Extremismus erforschen. Sie hat Pioniercharakter, ist aber auch umstritten.
Herausgeber der Karte ist die 2020 von der österreichischen Regierung gegründete "Dokumentationsstelle Politischer Islam". Erstellt wurde sie allerdings bereits vor Jahren. Der islamische Theologe Mouhanad Khorchide, der dem wissenschaftlichen Beirat der "Dokumentationsstelle Politischer Islam" angehört, kann die Kritik an der Karte nicht nachvollziehen. Er verweist darauf, dass eine solche Karte bereits 2009 bis 2019 online gewesen sei und sich niemand daran gestört habe. Nun nutzten Vertreter des politischen Islam die aktualisierte Neuauflage für eine konstruierte Skandalisierung, sagte Khorchide der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Stigmatisierung oder Kampf gegen Islamismus?
In Österreich sorgt die "Landkarte des politischen Islam" weiter für Diskussionen. Die Muslimische Jugend will gegen die Veröffentlichung klagen, der Europarat beklagt Stigmatisierung. Die österreichische Integrationsministerin Raab weist Kritik zurück.
Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk verwies der Soziologe Marc Helbling von der Universität Münster darauf, dass durch die Landkarte schnell ein Generalverdacht gegenüber Muslimen entstehen könne. Zumal "eine ‚Dokumentationsstelle Politischer Islam‘" dahintersteckt. Darüber seien die Informationen zu den verzeichneten Organisationen und Vereinen so spärlich, dass niemand wirklich etwas damit anfangen könne, so der neue Hans-Blumenberg-Gastprofessor am Exzellenzcluster Religion und Politik der Universität Münster.

Das vollständige Interview:
Levent Aktoprak: Wir leben in einer Zeit, wo man schnell beleidigt und empört ist, vor allem in den sozialen Medien. Können Sie die Aufregung um die Islam-Landkarte verstehen?
Marc Helbling: Ja, ich glaube, es ist insofern nicht überraschend, als Migration im Allgemeinen und der Islam in Europa im Speziellen hochemotionale Themen darstellen, die andauernd außer Kontrolle geraten. Als die Karte online gestellt wurde, wurde eigentlich überhaupt nicht ersichtlich – jedenfalls auf der Webseite selbst nicht –, was die Absicht der Karte war. Es gab keine begleitenden Erläuterungen und das lädt natürlich geradezu ein, so etwas in alle möglichen Richtungen zu instrumentalisieren und in unterschiedliche Richtungen zu interpretieren. Deswegen überrascht mich die Aufregung nicht unbedingt.
Aktoprak: Zeigt diese Debatte nicht einmal mehr, wie belastet die Diskussion mit und um den Islam ist, auch in Österreich?
Helbling: Auf jeden Fall. Es ist ein hochemotionales Thema, das sehr stark polarisiert. Fast jeder hat eine starke Meinung zur Migration und zum Islam. Da ist es natürlich schwierig, Kompromisse zu finden und aufeinander zuzugehen.

"Spärliche Informationen über die Vereine"

Aktoprak: Lässt sich der Karte etwas Positives abgewinnen? Leistet die Islamkarte einen ernsthaften Beitrag zur Integration und Transparenz? So sagt es zum Beispiel Mouhanad Khorchide, der dem Beirat des Instituts angehört, das die Karte erstellt hat. Khorchide ist ein liberaler muslimischer Theologe. Seine Bücher sind bekannt.
Helbling: Seit gestern Nachmittag ist die Website mit der Karte gar nicht mehr zugänglich. Man kann sie nicht mehr nutzen, und es wurde ein Statement veröffentlicht. Darin hieß es, es sei das Ziel eigentlich gewesen, eine differenzierte Diskussion über die Vielfalt des islamischen Lebens in Österreich zu ermöglichen. Dagegen hat ja sicher niemand was einzuwenden. Und ich glaube schon, dass es der Integration von Muslimen förderlich sein kann, dass sie nicht einfach als eine homogene Gruppe dargestellt oder wahrgenommen werden und dass sie eben nicht nur aus Fundamentalisten bestehen, wie das viele meinen. Aber aus den spärlichen Informationen, die über die Vereine und Organisationen zur Verfügung gestellt wurden, war das kaum ersichtlich. Mit dieser Karte konnte man eigentlich kaum etwas anfangen.
Aktoprak: Aber wurden nicht bei dieser Landkarte liberale und konservative Muslime gleichgesetzt, vermengt mit Islamisten?
Helbling: Gerade dann, wenn so etwas wie eine "Dokumentationsstelle Politischer Islam" dahintersteckt, dann wird das natürlich alles vermengt und vermischt und so kann schnell mal ein Generalverdacht entstehen. Das heißt natürlich nicht, dass man sicherlich ein genaues Auge auf den politischen Islam werfen sollte. Man darf das nicht unterschätzen, sowohl von politischer als auch von wissenschaftlicher Seite. Und das muss auch untersucht werden. Das zeigt sich immer wieder in Studien, dass es doch viele Muslime gibt, die fundamentalistische Überzeugungen haben. Aber gleichzeitig gibt es eben auch ganz andere Muslime, die gar nicht religiös sind oder religiös, aber nicht fundamentalistisch sind. Und das muss man unterscheiden. Gerade weil die Debatte so emotional ist, muss man da immer klar unterscheiden und sehr vorsichtig sein, wie man an die Öffentlichkeit tritt.
Aktoprak: Die Kritiker der Karte sagen, hier entsteht ein Generalverdacht gegen Muslime. Sie sagen: Dieser Vorwurf ist jetzt nicht überzogen?
Helbling: Der Generalverdacht ist überzogen und genau deshalb muss man aufpassen, wie man an die Öffentlichkeit tritt, das so was nicht entsteht. Gleichzeitig soll es aber auch möglich sein, natürlich über den politischen Islam zu sprechen und auch auf die Gefahren hinzuweisen.

"Die Adressen sind niemandem nützlich"

Aktoprak: Ihr Forschungsgebiet ist derzeit religiöser und politischer Extremismus, Sie sind Professor für Soziologie, also Wissenschaftler. Kann man diese Karte eigentlich als einen wissenschaftlichen Beitrag verstehen, so eine Auflistung, wenn neben der ideologischen und theologischen Ausrichtung muslimischer Einrichtungen auch Adressen gesammelt werden?
Helbling: Die Adressen sind niemandem nützlich. Ich sehe in der Auflistung der Adressen keinen wissenschaftlichen Nutzen. Umgekehrt ist natürlich die Art und Weise, wie sich religiöse Gruppen oder Migrantengruppen in Vereinen oder zivilgesellschaftlichen Gruppen organisieren, ein großes wissenschaftliches Feld. Das stellt eine wichtige Forschungsfrage dar. Um einen Überblick zu kriegen, um das untersuchen zu können, muss man solche Listen erstellen.
Wobei mir dann nicht klar ist, wenn eine Liste ohne Kommentare quasi online gestellt wird, dann ergibt sich da kein großer Nutzen. Gerade die Adressen sind völlig irrelevant für eine für eine politische oder wissenschaftliche Diskussion. Mit der Karte wollte man vielleicht auch gar nicht unbedingt die Wissenschaft erreichen, sondern die breite Bevölkerung. Aber auch die braucht natürlich die Adressen nicht. Gerade wenn man eine breitere Öffentlichkeit erreichen will, muss man einfach viel besser erklären und erläutern, was eigentlich das Ziel und der Inhalt einer solchen Übersicht ist.

"Rechtspopulistische Parteien, die das Thema anheizen"

Aktoprak: Wie bewerten Sie insgesamt die Religionspolitik Österreichs im Verhältnis zum Islam?
Helbling: Das Interessante in Österreich ist, dass der Islam seit Anfang des 20. Jahrhunderts anderen Religionen gleichgestellt ist – im Gegensatz zu eigentlich fast allen westeuropäischen Staaten. Das hat eine längere Tradition. Das ist natürlich historisch bedingt. Ich kenne jetzt die Religionspolitik in Österreich nicht im Detail. Aber wenn ich vorhin gesagt habe, dass das Thema sehr polarisiert und sehr emotionalisiert, dann gilt das für Österreich noch einmal mehr. Das ist vor allem durch die politische Landschaft zu erklären, also durch die Rolle von rechten und auch rechtspopulistischen Parteien, die das Thema überall sehr anheizen, die aber in Österreich in den letzten Jahren und Jahrzehnten an Gewicht gewonnen haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.