Spotify und die Folgen

"Ein Intro ist natürlich auch ein Luxus"

Die App Spotify ist auf einem iPad zu sehen.
Die App Spotify ist auf einem iPad zu sehen. © dpa / picture alliance / Ole Spata
Tobias Levin im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 03.04.2018
Stehen uns introlose Zeiten in der Musik bevor? Das befürchten manche, weil Spotify erst ab einer Spieldauer von mehr als 30 Sekunden Tantiemen zahlt. Der Musikproduzent Tobias Levin sieht Intros vor allem als Konjunkturphänomenen: Man müsse sie sich leisten wollen.
Liane von Billerbeck: Ein Börsengang ist zu vermelden. Spotify geht heute an die Börse. Der Musikstreamingdienst könnte es auf einen Börsenwert von etwa 20 Milliarden Dollar bringen. Das Unternehmen will übrigens nicht an frisches Geld kommen, wie es immer so schön heißt, sondern bestehende Anteile in Umlauf bringen, damit die Gründer und Investoren die Kontrolle behalten.
Uns interessiert das indes deshalb, weil eben dieser Marktführer Spotify auch verändert, was wir hören. Er verwandelt den Popsong, denn Spotify zählt abgerufene Songs erst nach 30 Sekunden Spieldauer. Man sollte also, um gehört zu werden, keine langsam sich aufbauende Intros komponieren, sondern musikalisch quasi gleich mit der Tür ins Haus fallen. Songs starten heute früher und intensiver, sind hektischer und ungeduldiger, komprimierter also.
Wir wollen darüber reden mit einem der bekanntesten deutschen Musikproduzenten, mit Tobias Levin, dem die Electric Avenues Studios in Hamburg gehören. Er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
Tobias Levin: Schönen guten Morgen!
von Billerbeck: War das so eine Art idealtypischer Popsong für unsere schwache aufmerksame Zeit?
Levin: Vielleicht sind wir schwach und unaufmerksam und brauchen sozusagen genau so etwas, wo jemand so direkt auf uns zugeht und sagt, ich will dich nicht lange aufhalten, es geht gleich los. Aber vielleicht gab es dafür halt auch immer schon Gründe, das genauso zu machen. Und vielleicht orientiert sich Spotify da gerade dran.

"Ein Intro ist natürlich auch ein Luxus"

von Billerbeck: Beschreiben Sie uns doch mal, Sie als Studiochef, wie muss ein idealtypischer Popsong aufgebaut sein, damit er heute noch gehört wird und die Leute nicht gleich wegklicken?
Levin: Ich möchte der Frage ganz leicht ausweichen, denn es gibt so viele Leute und es gibt so viele Intros. Vielleicht kann man sich grundsätzlich von der Seite heranpirschen in Bezug auf Ihre Frage. Man braucht bestimmt Menschen, die das Intro spielen oder komponieren. Das ist schon mal ein großer Unterschied. Es gibt Musik, die ist aus dem Affekt gespielt, und es gibt Musik, die ist aufwendig komponiert, vielleicht auch in großen Teams, und will auf eine sehr gezielte Wirkung hinarbeiten. Wie gesagt, in Bandmusik vor allen Dingen, entstanden in frühester Zeit, 50er-, 60er-Jahre, gibt es sehr impulsiv gespielte Intros, die manchmal wirken, als würde jemand wirklich just in diesem Moment irgendein Instrument eingestöpselt haben, vornehmlich die Gitarre vielleicht, und es geht gleich los. Das hat auch ganz bestimmte Gründe.
Denn man braucht Menschen, die das Intro hören wollen, und das sind natürlich auch wieder sehr unterschiedliche. Und dann braucht man Leute, die zwischen den beiden vermitteln, zumindest, wenn dann diese Musik tatsächlich vervielfältigt werden soll. Und da haben wir es ja bei Spotify mit zu tun.
Es ist kein Treffen einer Hausmusik, wo man zu Hause musiziert, oder ein Konzert, wo es keinen popkulturellen Kontext gibt, sondern es geht tatsächlich um ein Produkt. Das heißt, die Musik ist dann in dem Sinne ein Kulturprodukt, und in dem Sinne wird darum gerungen, und zwar von all diesen drei Beteiligten, den Musikern, dem Publikum, das etwas Bestimmtes hören möchte oder auch etwas Neues, und eben der Industrie.
von Billerbeck: Nun erleben wir ja aber, dass man gar nicht mehr die Geduld hat, da auch möglicherweise sich auf ein langes Intro einzulassen, wenn ein Song nicht gleich funktioniert in Anführungsstrichen, dann skippt man sich durch die Playlisten und geht weiter. 30 Millionen Songs gibt es derzeit auf Spotify. Könnte die Folge tatsächlich sein, das Intro verschwindet mehr und mehr, und der Musikstreamingdienst beschleunigt diesen Trend auch?
Levin: Es kann sein, dass das als Tendenz passiert, aber vielleicht einfach nur, weil man mit einem Intro nichts sagen kann, was, sagen wir mal, jemanden von diesen drei Protagonisten, die ich gerade genannt habe, interessiert. Also, ein Intro ist natürlich auch ein Luxus, den sich die Industrie vielleicht gerade nicht leisten will. Das bedeutet, sie sucht möglicherweise nach einem Publikum. Genauso, wie das Publikum nach Musik sucht, sucht die Industrie nach einem Publikum, genauso wie ein Musiker nach einem Intro sucht, mit dem er das Publikum finden kann.

Beatles-Songs sind immer mit der Tür ins Haus gefallen

Ich will eine Analogie ziehen vielleicht zu den 60er-Jahren, das ist, wie wir alle wissen, die Zeit vor den 70er-Jahren. Ich erwähne das nur, weil in den 70er-Jahren die Intros sehr lang wurden. Sie waren in den 60er-Jahren vielleicht deutlich kürzer. Wir haben eine sehr bekannte Band, die heißen die Beatles, und die haben... mit "Can't buy me love", "She loves you" und ähnlichen Songs sind die sofort mit dem Haus in die Tür fallen – mit der Tür ins Haus gefallen, so ist es richtig. Andersherum ist auch interessant in der Musik, weil man ist ja neugierig, wie das klingt. Aber da ging es einfach sozusagen sofort los, und das hat etwas damit zu tun, dass die Beatles sagen wir mal nicht lange gefackelt haben. Und sie hatten vielleicht auch einen guten Grund, denn sie mussten sich erst mal etablieren.

In den 70er-Jahren gab es sehr viel Geld in der Industrie. Wurde schon in den Sechzigern sozusagen angesammelt und in den Siebzigern wurde es dann in großen Zügen ausgegeben. Das ist dieser Luxus. Und in einem Intro spiegelt sich ein musischer Luxus. Also sowohl die Möglichkeit, zu musizieren, als auch die Gewissheit von zum Beispiel etablierten Acts, ein Publikum vor sich zu haben, dass ganz durch "Hotel California", durch das Intro der Eagles durchgeht. Da braucht man ja ein bisschen sagen wir mal Sitzfleisch oder einfach Lust auf diese Akkordprogression, und Led Zeppelins "Stairway to Heaven" und so weiter, und so fort. Und das Ganze wurde dann mit Punk nicht verändert, aber zumindest symbolisch angegriffen.

Auch da waren wieder Bands, die sich etablieren wollten, und die haben ein Publikum gesucht, und haben plötzlich wieder sehr schnell gehandelt. Lustigstes Beispiel sind dann die persiflierenden Ramones. Die haben einfach nur gesagt, "one, two, three, four" und haben eines der großartigsten Intros aller Zeiten damit gemacht. Und das sind auch gleichzeitig ökonomische Notwendigkeiten, und ich vermute, dass es momentan in Bezug auf – Sie erwähnten eben Abermillionen viele Songs, da sollte man wirklich sehr schnell durchskippen – dass man dann, wenn man dort gehört werden möchte, vielleicht auf die Idee kommt, ich kann mir das gerade nicht leisten.
von Billerbeck: Sie haben jetzt einen Parforceritt durch die Rockgeschichte gemacht. Das fand ich sehr schön. Und es klang ein bisschen beruhigend, als Sie gesagt haben, es gibt immer diese Aufs und Abs, je nachdem, wie die Bedingungen gerade sind, ob wir eine üppige Zeit gerade haben oder ob wir es uns eben gerade nicht leisten wollen. Es ist ja auch schön. Sie haben ja viele Songs genannt. In welcher Zeit befinden wir uns denn derzeit? Kann man das überhaupt sagen, oder ist es eben so vielfältig, dass wir auch ganz tolle Songs ohne Intro und ganz tolle Songs mit langen Intros hören?

Die Zeit überbrücken, bis Spotify zahlt

Levin: Ja. Das würde ich ganz bestimmt sagen. Es gibt einen Musiker, den meine Kinder gern hören, und ich höre ihn auch gern, er heißt Bruno Mars, und der hat zwei Stücke, genau, das eine heißt "That's what I like" und das andere heißt "24k Magic". Und "24k magic" hat ein 29-sekündiges Intro. Ich habe es mir dann gestern noch mal angehört. Es ist ein wunderbares Intro, und es ist überhaupt kein Problem, durch die 30 Sekunden durchzukommen.

Das andere Stück hat, glaube ich, zwei Akkorde oder zwei Akzente am Anfang, und dann geht es los. Eigentlich ist doch, habe ich mir gedacht, ich weiß nicht, ob ich da richtig liege, es scheint offensichtlich gerade nicht möglich zu sein, einfach so zu sagen, seid musisch großzügig, denkt euch was aus, macht, was ihr wollt. Irgendjemand möchte gerade mithandeln, und dafür sind Regeln natürlich ganz toll. Und das ist teilweise die Möglichkeit auch der Industrie, also von Plattenfirmen zum Beispiel, mit Empfehlung zu den Songwritern oder den Produktionsteams zu geben.
Das heißt, wenn es mal vielleicht in den 80er-Jahren hieß, "wir brauchen unbedingt Streicher", heißt es jetzt vielleicht, "und achtet darauf, dass das Stück innerhalb von 30 Sekunden auch schon sozusagen beim Höhepunkt angekommen ist, und lasst das ganze Techtelmechtel davor weg." Aber es gibt natürlich die Möglichkeit, durch das simple Auftreten einer Person, vielleicht einer neuen Stimme, auch etwas herzustellen, womit man sozusagen diese Zeit überbrückt, bis bei Spotify was gezahlt wird. Ich sehe eigentlich das sozusagen als Aufgabe an, wenn jemand die annehmen möchte – muss man ja nicht – zu gucken, was man mit 30 Sekunden macht. Andersherum gedreht: Wenn Popsongs es nicht mehr schaffen, 30 Sekunden Aufmerksamkeit zu generieren –
von Billerbeck: Dann haben sie es nicht verdient …
Levin: – dann frage ich mich, was die eigentlich vorhatten. Wenn man also Spotify sagen würde, könnt ihr bitte schon nach fünf Sekunden mich auszahlen, ich schaff die 30 Sekunden nicht, dann muss ich ein wenig lächeln. Insofern ist man da mitgehangen und mitgefangen. Und die Frage des Skippens ist ja seit der CD eigentlich ein Etwas, was jeder Mensch kennt, wo man einfach immer auf den Vorspulknopf geht. Unsere Aufmerksamkeitsspanne war, glaube ich, in Bezug auf Popmusik immer schon wunderbar kurz. Wir sind ungeduldig.
von Billerbeck: Der Hamburger Musikproduzent Tobias Levin war das. Irgendwie beruhigend und beunruhigend zugleich. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Levin: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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