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"Verführtes Denken" machte ihn weltberühmt

Er sei für sich selbst undurchschaubar, meinte der polnische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz. Als einem der bestimmenden Intellektuellen Europas im 20. Jahrhunderts verlieh ihm die Gedenkstätte Yad Vashem den Titel eines "Gerechten unter den Völkern".

Von Christian Lindert | 30.06.2011
    "Das 20. Jahrhundert war Büchern nicht wohl gesonnen."

    Czeslaw Milosz wusste, wovon er sprach:

    "Ich sehe noch den Himmel über einer brennenden Stadt, und in diesem Himmel unzählige schwarze Flocken, die im Wind umherwirbelten. Es waren dies die verkohlten Seiten von Büchern."

    Ein gutes Halbesjahrhundert später, im Herbst 1989, traf sich Czeslaw Milosz, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1980, in Danzig mit einem anderen polnischen Nobelpreisträger, mit Lech Walesa, damals Vorsitzender der Gewerkschaft "Solidarnosz" und Friedensnobelpreisträger. Walesa begrüßte Milosz mit den Worten:

    "Sie haben Walesa und eine ganze Generation großgezogen."

    Milosz' Antwort:

    "Wenn man so alt ist wie ich, dann weiß man, dass die Beseitigung der Antagonismen zwischen den Völkern wohl eines der besten Dinge ist, die man tun kann. In Polen läuft gerade eine große Revision der Geschichte der neuesten Zeit."

    Diese Revision hat Milosz früh vorzubereiten geholfen. Geboren am 30. Juni 1911 im damals russischen, heute litauischen Seteniai, ging er im polnischen Wilna zur Schule und studierte dort anschließend Rechtswissenschaften. In dieser Zeit erschienen seine ersten Gedichte in der Zeitschrift "Alma Mater Vilnensis", und bald bildete sich um ihn eine junge Dichtergruppe, die man die "Katastrophisten" nannte, wegen ihrer düsteren apokalyptischen Visionen. Nach einem Aufenthalt in Paris als Stipendiat kehrte Milosz nach Polen zurück, arbeitete als Rundfunkredakteur und engagierte sich während der Kriegszeit im polnischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung. "Rettung" nannte er seinen 1945 erschienenen Gedichtband. Milosz ging anschließend in den diplomatischen Dienst und arbeitete als Kulturattaché seines Landes in New York, Washington und Paris. Paris wählte er dann auch als seinen ersten Exilort, von wo aus er in zahlreichen Essays gegen den Stalinismus in seinem Land protestierte. Mit dem Buch "Verführtes Denken" wurde er auf einen Schlag weltberühmt. Darin eine scharfsinnige Analyse der kommunistischen Machtergreifung in Mittel- und Osteuropa sowie eine Kritik an der Antwort der Intellektuellen auf diese Machtergreifung. Man merke bei Milosz, schrieb der Philosoph Karl Jaspers im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Buches,

    "nichts von jenem aggressiven Fanatismus der Freiheit, der in Gebärde, Ton und Handeln wie ein umgekehrter Totalitarismus wirkt. Er spricht als der erschütterte Mensch, der mit dem Willen zur Gerechtigkeit, zur unverstellten Wahrheit durch die Analyse des im Terror Geschehenden zugleich sich selbst zeigt."

    Mit dem Buch "Verführtes Denken" war Milosz allerdings auch, wegen seines Rigorismus, unter polnischen Exilanten umstritten geworden, und die folgenden Jahre und Jahrzehnte lebte er still im Abseits, in Amerika, als Professor in Berkeley. Er schrieb weiter, Essays, Prosastücke, Gedichte, und schrieb - auch mit der inzwischen erworbenen amerikanischen Staatsbürgerschaft - weiter polnisch. Mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur wurde vor allem der Lyriker Milosz geehrt, der die Weltsprache der modernen Poesie weiter entwickelt und den Glauben an die menschlichen Möglichkeiten hochgehalten habe, gemäß seinen Worten:

    "Nur der Mensch hat den Schatz geerbt, den das Gedächtnis darstellt, das heißt die Geschichte."

    Im Danziger Gespräch 1989 sagte Lech Walesa zu Milosz:

    "Auf euch, den Menschen der Feder, ruht die Last, neue Systeme zu bauen."

    Es sei nie seine Absicht gewesen, als politischer Schriftsteller aufzutreten, antwortete Milosz, er habe privat geschrieben, für sich, allerdings mit gewissen Reaktionen moralischer Erbitterung. Nach der politischen Wende und Befreiung seines Landes lebte Milosz wieder in Polen, in Krakau, wo er 2004 auch gestorben ist. In dem Gedicht "Waschtag" findet sich eine persönliche Bilanz:

    Als der Tod schon nahe war, dachte der Dichter bei sich. /
    Es gab wohl keine Obsession und keine törichte Idee meiner Zeit, /
    in die ich mich nicht Hals über Kopf gestürzt hätte. /
    Man sollte mich in die Wanne setzen und /
    mich so lange bürsten, /
    bis der ganze Schmutz von mir abgewaschen ist. /
    Und doch, gerade durch diesen Schmutz /
    konnte ich ein Dichter des 20. Jahrhunderts sein. /
    Und vielleicht wollte es der Herrgott so, damit ich ihm von Nutzen sei.