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"Vergessen darf man nie, aber man muss vergeben"

Zofia Posmysz wurde bekannt mit dem Hörspiel "Die Passagierin aus Kabine 45". Die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa sieht auf einer Schiffsreise eine Passagierin, in der sie Marta wiedererkennt, eine ihrer KZ-Häftlinge in Auschwitz. Aus dem Hörspiel von 1962 wurde eine Oper, die erst jetzt am Staatstheater Karlsruhe in Anwesenheit von Zofia Posmysz Deutschlandpremiere hat.

Von Sabine Adler | 16.05.2013
    Opernprobe im Staatstheater Karlsruhe, am Wochenende hat "Die Passagierin" Premiere. Hunderte von Kilometern entfernt macht sich Zofia Posmysz in Warschau reisefertig, die Urheberin der "Passagierin" ist Ehrengast der deutschen Erstaufführung. Inzwischen 90 Jahre alt, erlebt sie, dass ihr Erstlingswerk nichts an seiner Aktualität eingebüßt hat. Vor über 50 Jahren verfasste sie es als Hörspiel, dass das polnische Radio Ende der 50er-Jahre sendete, der DDR-Rundfunk aber erstmals in den 80er-Jahren.

    "'Die Passagierin' - Ein Hörspiel von Zofia Posmysz."

    Zofia Posmysz ist Auschwitz-Überlebende. Mehr als zehn Jahre nach der KZ-Haft verarbeitet sie die dreijährige Hölle, in der zugleich ein Schutzengel seine Hand über sie hielt: Anneliese Franz, KZ-Aufseherin. Auf einem Ozeandampfer erfährt deren Ehemann von der dunklen Vergangenheit seiner Frau.

    "Ich war gut zu ihr. Mehrmals habe ich ihr das Leben gerettet. Als sie krank war, habe ich sie aus dem Revier geholt. Das war ein Ort, um zu sterben."

    Zofia Posmyszs Hörspiel machte sie in Polen berühmt. Als Betroffene war es ihr erlaubt, an einer SS-Frau auch gute Seiten zu sehen. Ihre Geschichte wurde verfilmt, erschien als Buch. Die Oper wurde erst 42 Jahre später aufgeführt, mit überwältigendem Erfolg 2010 in der Schweiz. Da war Mieczyslaw Weinberg, der Komponist bereits tot.

    "Es gibt keine bessere Umsetzung meines Werkes als in der Oper, denn die Musik trägt es am allerbesten. Das könnte ein Schauspiel nicht leisten.
    Der Komponist Mieczyslaw Weinberg, Pole wie ich, hatte mich - während er an der Musik arbeitete - um mehrere Gespräche gebeten. Er fragte zwar viel, aber er hörte kaum zu, saß nur da und ließ den Kopf hängen. Später erfuhr ich, dass seine Eltern im KZ, in der Nähe von Majdanek gestorben sind."
    Im Zentrum des Stückes von Zofia Posmysz steht die KZ-Aufseherin. Als ihr Mann erfährt, dass auch sie an der Selektionsrampe Menschen für die Gaskammer eingeteilt hat, erscheint ihm seine Frau in einem völlig anderen Licht und bekommt er Angst um seine Karriere.

    "Erst jetzt erkenne ich dich richtig, du KZ-Aufseherin!"
    "Das wird einer der pikantesten Skandale. Ich sehe schon die Schlagzeilen: die Frau des Diplomaten Walter Kretschmer..."
    "Lisa, das kannst du nicht wollen."
    "Zehn Jahre hat dein Gewissen geschwiegen. Geweckt hat es die Angst um deine Karriere."
    "Lisa, das kannst du nicht wollen. Ich flehe dich an, du vernichtest uns beide."

    Die Dramatik ist wie geschaffen für eine Oper. Als Mieczyslaw Weinberg, ein Landsmann von Zofia Posmysz, das Werk vollendet hatte, wurde es nicht aufgeführt. Nicht in der Sowjetunion, nicht in Polen.

    "Das sowjetische Kulturministerium der Sowjetunion hatte vermutlich Befürchtungen, dass man die Lager, die Gulags, mit Auschwitz vergleicht und Analogien herstellt."

    Jahrelang hatte Zofia Posmysz die Nazi-Prozesse verfolgt, fragte sich, wann Anneliese Franz angeklagt werden würde und was sie selbst, sollte sie als Zeugin geladen werden, aussagen würde. Sie verteidigen? Die Hörspiel-Autorin war inzwischen eine angesehene Journalistin beim Radio, erhielt 1958 den Auftrag, über den ersten Flug der polnischen Luftgesellschaft LOT von Warschau nach Paris zu berichten. Auf der Place de la Concorde in der französischen Hauptstadt traf es sie wie ein Schlag.

    "Unter der Menge Touristen auf dem Platz sprachen viele Deutsch. Und plötzlich hörte sie eine Stimme.
    "Erika! Wo bist du? Wir fahren schon weg!"
    Ich war überzeugt, dass das die Stimme der Franz war. Sie hatte genau diesen scharfen Ton. Ich suchte die Person zu dieser Stimme. Sie war es nicht. Aber ich fragte mich immer wieder: Was, wenn sie es gewesen wäre? Was hätte ich gemacht? Wäre ich hingegangen, um zu fragen: 'Guten Tag Frau Aufseherin, wie geht es?' Oder wäre ich zu dem Polizisten gegangen, der auf dem Platz stand, und hätte ihn auf sie hingewiesen: Die dort drüben ist eine SS-Verbrecherin."

    Als Auschwitz um das Vernichtungslager Birkenau vergrößert wurde, erwies sich das paradoxerweise für manche, meist polnische Häftlinge, als Chance. Wenn sie dann nicht mehr Schwerstarbeit unter freiem Himmel leisten mussten, sondern Innendienst verrichteten, wie das Sortieren der Habseligkeiten der vergasten Menschen. Zofia Posmysz wurde Schreiberin der sogenannten SS-Manka, die sie fortan schützte. Nichtsdestotrotz hat Anneliese Franz Schuld auf sich geladen.

    "Einmal, 1944, hatte sie mir gestanden, dass sie an der Rampe war. Sie war sehr blass. Ich hatte sie gefragt, ob sie krank sei, da erzählte sie: 'Das war eine schreckliche Nacht.' Zu dieser Nacht, der Selektion, hat sie sich bekannt. Sie gehörte einer verbrecherischen Organisation an. Aber mir hat sie nichts Böses getan. Ich muss ihr dankbar sein.
    Bei der SS habe ich drei Sorten von Menschen erlebt: geborene Sadisten, die geschlagen haben, bis Häftlinge starben, wozu sie niemand verpflichtete. Dann die, die alles nach Vorschrift erledigten. Und drittens die, die sich abwendeten, um nicht bestrafen zu müssen.
    Ich habe Anneliese Franz nie gewünscht, dass sie verurteilt wird, wenngleich ich mich lange fragte, wo sie wohl ist.
    'Sie ist verschwunden aus meinem Leben.'"

    Anneliese Franz, inzwischen wahrscheinlich tot, ist nie vor ein Gericht gestellt worden. 1970 kam ein deutscher Staatsanwalt nach Warschau und wollte ausgerechnet von der die polnische Autorin erfahren, wo die frühere SS-Frau sei.
    Woher sollte sie das wissen?

    Zofia Posmysz will den Theaterzuschauern in Karlsruhe gern zeigen, wie sie heute zu Deutschland steht. Die Auschwitz-Überlebende wird das ihr verliehene Bundesverdienstkreuz tragen.

    ""Vergessen, vergessen darf man nie, aber man muss vergeben."


    Mehr zur Inszenierung am Staatstheater Karlsruhe