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Vergessen und vergeben?

Es gibt nur Schätzungen zu den Zahlen jener Kinder und Jugendlicher, die in DDR-Heimen, Spezialkinderheimen oder Jugendwerkhöfen unter staatlicher Obhut betreut worden sind. Die Erfahrungsberichte dieser Menschen sind allerdings schockierend.

Von Blanka Weber und Otto Langels | 24.05.2014
    In einem Raum mit Porträtfotos sitzen Jana Mendes Bogas (l) und Ilona Dothe am 14.09.2013 auf einem Treffen ehemaliger DDR-Heimkinder in der "Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof" in Torgau (Sachsen).
    Immer mehr ehemalige DDR-Heimkinder wünschen sich Akteneinsicht und Rehabilitierung für erlittenes Unrecht. (picture-alliance / dpa / Hendrik Schmidt)
    Auch wenn nicht alle ehemaligen Heimkinder heute von psychischer und physischer Gewalt reden und wenn nicht alle Pädagogen dieselben drakonischen Maßnahmen zur Erziehung Schutzbefohlener angewendet haben. Immer mehr ehemalige DDR-Heimkinder melden sich zu Wort. Viele wünschen sich Akteneinsicht und Rehabilitierung für erlittenes Unrecht.

    Manche möchten nach 45 Jahren ihre Geschwister finden oder wissen, wer die Eltern wirklich waren. Zwischen 1950 und 1970 gab es in der Bundesrepublik 3000 Heime – 80 Prozent davon in kirchlicher Hand – mit mehr als einer halben Million Kinder und Jugendlichen in dieser Zeit. Viele wurden drakonisch bestraft, geprügelt, misshandelt, gedemütigt und missbraucht. Unter den Folgen leiden die Betroffenen bis heute. Die Lange Nacht begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit und dokumentiert zwiespältige Erfahrungen ehemaliger Heimkinder in Ost und West.
    Fonds Heimerziehung: In der Zeit von 1949 bis 1975 lebten Hunderttausende von Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland oder der DDR in Säuglings-, Kinder- und Jugendheimen sowie in Werkhöfen. Wem während dieser Zeit Unrecht und Leid zugefügt wurde, das bis heute nachwirkt, kann Unterstützung beantragen.
    Bis zum 31. Dezember 2014 können betroffene ehemalige Heimkinder aus der Bundesrepublik, bis zum 30. September 2014 ehemalige Heimkinder aus der DDR ihre Ansprüche anmelden:
    <cite>
    </cite>Der Verein ehemaliger Heimkinder e. V. (VEH) ist ein 2004 gegründeter Selbsthilfeverein, in dem vor allem Menschen organisiert sind, die in der Zeit von 1945 bis 1985 in Heimen gelebt haben.
    <cite>
    </cite>Das HeimkinderForum ist ein Internetforum ehemaliger Heimkinder zum Erfahrungsaustausch
    Deutsches Institut für Heimerziehungsforschung

    "Aufarbeitung der Heimerziehung"
    Expertisen
    Hrsg.: Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer
    Eigenverlag, März 2012;
    Aus der Reihe für den: Fonds Heimerziehung

    Dr. Friederike Wapler: Heimerziehung - Dokumente des Deutschen Bundestages (Suche)
    Prof. Dr. Karsten Laudien: Weiterbildung und andere Projekte
    Dr. Christian Sachse: Beauftragter der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft e. V. zur Aufarbeitung der Zwangsarbeit in der SBZ/DDR.
    Ruth Ebbinghaus (Psychologin): Expertise: Was hilft ehemaligen Heimkindern der DDR bei der Bewältigung ihrer komplexen Traumatisierung?

    Arbeitsgemeinschaft für Kinder und Jugendhilfe - AGJ
    Berlin; Mühlendamm 3;

    Anke Dreier und Karsten Laudien
    Einführung. Heimerziehung der DDR
    Hrsg. durch die Konferenz der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur
    Schwerin 2012
    Silke Kettelhake
    Sonja "negativ - dekadent"
    Eine rebellische Jugend in der DDR
    Osburg Verlag, Hamburg 2014
    Eine Geschichte von Liebe und Verrat, von Abhängigkeiten und Macht, vom Schrei nach Freiheit mundtot gemacht im Zusammenschluss von Staat und Familie. Rostock, Mai 1968: Wir saßen hier fest. We're not going to San Francisco, some
    flowers in our hair. Während in Paris, Berlin, Warschau die Straßen brannten, waren wir als Gammler verschrien und im Visier von Volkspolizei und MfS. Parka, Jeans, lange Haare und den Beat aus dem Kofferradio dabei, die 16-jährige Sonja und ihre Freunde halten in den Händen ein Transparent, nicht mehr als ein Stück Pappe: `Russen raus aus der CSSR! Sie lachen. Sind lebensdurstig und leichtgläubig.
    Überschätzen sich, unterschätzen die Staatsmacht. Sonja wird verhaftet. Ihre Strafe: Jugendwerkhof Torgau, geschlossene Abteilung.
    1989: Das Ende der DDR. Freiheit! Mit den Jahren holt die Vergangenheit Sonja immer wieder ein, die Bespitzelungen, Denunziationen, Demütigungen. Wer sind die Täter? Sonja fasst einen Entschluss: Die Ereignisse von damals müssen ans Licht. Sie beginnt zu erzählen
    Emmanuel Droit
    Vorwärts zum neuen Menschen?
    Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949-1989)
    Böhlau 2014
    Die Schule bildete in der 'Erziehungsdiktatur' der DDR den Kern eines Projektes zur radikalen Transformation der Gesellschaft. Sie sollte maßgeblich dazu beitragen, den neuen sozialistischen Menschen zu schaffen. Für die Leitungsorgane der SED war die Schule damit eines der Hauptinstrumente des 'Social Engineering'. Diese Ambition stieß jedoch an Grenzen, und nach einem Jahrzehnt radikaler Transformationen verwandelte sich die Schule vor allem in ein Werkzeug zur Kontrolle von Jugendlichen und zur Konsolidierung der SED-Herrschaft. Am Beispiel von Ostberlin wird in diesem Buch untersucht, was 'Erziehung' im Land des real existierenden Sozialismus bedeutete und in welchem Maße die Einführung eines sozialistischen Bildungssystems zu einer effektiveren Machtausübung der SED führte.

    Auszug aus dem Manuskript:

    Um Aufarbeitung jener Missstände in den ehemaligen staatlichen oder kirchlichen Heimen Ost wie West geht es auch vielen Wissenschaftlern, die sich dem Thema Gewalt in pädagogischen Einrichtungen widmen. Einer von ihnen ist Martin Wazlawik.
    Martin Wazlawik:"Wir müssen uns ein Stück weit, außer in der Justiz von den ganzen justiziablen Vokabeln lösen, ja, was ist ein Beweis? Wir kennen in der Pädagogik keine Beweise. Wir machen ganz andere Dinge ohne einen Beweis, sondern über Deutung, über Interpretation, über auch tatsächliche Aussagen. Wir haben nichts anderes. Wie soll man wenn man den juristischen Maßstab des Beweises anlegt brauchen wir die Debatten nicht machen, weil wie will man in einer 1:1-Situation etwas beweisen, auch vor Gericht wird die Frage der Glaubwürdigkeit entscheiden und das ist auch kein Beweis, noch nicht mal im juristischen Sinne. Deswegen müssen wir, und das ist mein Ansatz, meine Idee und auch meine Haltung dazu, hören, was Betroffene sagen und jetzt aus einer wissenschaftlichen Perspektive will ich auch wissen, was gibt es an übergreifenden Mustern, die solche Vorfälle von Gewalt und sexuellem Missbrauch in Einrichtungen begünstigt ermöglicht haben um daraus dann tatsächlich solide Präventionsideen abzuleiten."
    Martin Wazlawik ist Juniorprofessor an der Universität Münster. Sein Fachgebiet ist unter anderem die sexualisierte Gewalt in pädagogischen Institutionen. Zuvor hat er sich mit dem Thema Gewalt in kirchlichen Strukturen befasst und für die Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz in Nordrhein-Westfalen gearbeitet. Die Strukturen des sexuellen Missbrauchs, ob in kirchlichen Einrichtungen, Internaten, Schulen, in Heimen der ehemaligen DDR - sie werden langsam durch Wissenschaft belegbar gemacht. Vor allem aber durch jene, die endlich über Missbrauch reden.
    Martin Wazlawik: "Es ist ein Tabu und wir haben eine ganz eigentümliche Situation, dass auf der einen Seite erst mit den Fragen zum sexuellen Missbrauch das Thema wirklich bundesdeutsch präsent wurde, Stichwort Odenwaldschule. Stichwort katholische Kirche, gleichzeitig wir aber auf einer unglaublich abstrakten Ebene darüber reden und nicht uns tatsächlich auch vergegenwärtigen was es tatsächlich auch für Betroffene bedeutet, da sind nicht irgendwelche Vorfälle von irgendwie auch immer geartetem Missbrauch, sondern dass ist tatsächlich schwere körperliche Gewalt, Vergewaltigung, Missbrauch an den Kindern und Jugendlichen."


    Zitate aus der Langen Nacht:

    "Nun bin ich pragmatisch veranlagt. Ich nehm die Dinge an, ich greif sie auch an und ich versuch` sie zu verstehen. Ich setz` mich mit unwahrscheinlich vielen Dingen auseinander, um für mich zu verstehen, warum ist das so? Was ist denn die Voraussetzung gewesen? Warum bin ich denn überhaupt in ein Kinderheim gekommen? Alle Meinungen, alle Aussagen waren mehr oder weniger Schutzbehauptungen. Der wirkliche Grund ist mir heute erst bekannt, durch die Mithilfe von Herrn May. Dann fragt man sich, ja warum mussten das unbedingt 10 Jahre sein? Wenn denn an dem Tag, wo ich eingewiesen worden bin, 10 Tage später meine Mutter in einer sozialen Sicherheit wieder gelebt hat, geheiratet hat und mit dem Mann andere Kinder bekommen hat. Warum hat man da nicht gesagt: Gut, die vermeintliche Voraussetzung `soziale Schwäche und Härte` aus dieser Zeit war der Ansatz für das Jugendamt, mich aus der Familie rauszunehmen, was auch immer dort noch gegeben war. Aber warum hat man nicht gesagt, so nun haben sich die sozialen Verhältnisse geklärt im Zuge der ganzen Entwicklung der Gesellschaft. Jetzt können wir doch den Jungen wieder mit zurückgeben. Nein!"
    Jürgen, 65 Jahre alt, silberweißes Haar. Im Vogtland lebt er nicht mehr. Sein Weg führte ihn schon als Kind von dort weg. Heute ist er in Mülverstedt, im westlichen Thüringen, unmittelbar am Nationalpark Hainich zuhause.

    "Ein wunderschönes Dorf. Dieser Ort kann sich absolut glücklich schätzen. Wir haben eine Kirche. Da geh‘ ich zwar nicht hin. Wir haben einen Bäcker, wir haben einen Metzger, wir haben einen Zahnarzt, wir haben einen niedergelassenen Arzt. Wir haben einen Kindergarten, einen Friseur und Handwerksbetriebe. Und wir haben es relativ sauber in diesem Ort und gepflegt und mehr kann keiner erwarten. Die Menschen sind sanftmütig, die sind nicht so Stress geplagt wie viele andere. Da kenn` ich ganz andere Orte. Hier nimmt man sich gewisser Dinge schon noch an."
    Er lebt mit seiner Frau in einem kleinen Eckbungalow in einer Etage. Es ist eine Wohnung ohne Treppen. Jürgen sitzt im Rollstuhl. Das Rückenmark ist geschädigt durch radioaktive Strahlungen. Er arbeitete jahrelang unter Tage, im DDR-Uranbergbau der SDAG Wismut in Schlema, im Erzgebirge. Mehr als 200.000 Tonnen Uran wurden in dem staatlichen Unternehmen bis 1990 produziert. Ein Drittel dessen, was im sowjetischen Einflussbereich war, wurde aus der DDR geliefert. Eigentlich, sagt Jürgen, war das keine Arbeit für Jungs wie mich. Aber, wo sollte er sich beschweren? Auflehnen brachte nichts als Ärger.

    "Dann hat man sich gefragt, warum hat man denn in dieser absolut restriktiven Form gesagt: Naja, es ist ein ganz smarter Typ. Er ist bissig. Wir mussten arbeiten, keine Frage. Wir stecken den einfach 1.000 Meter unter Tage, wohlwissend das diese Tätigkeit wohl eine gewisse Absicht verfolgt hat, weil die abbau-würdigen Vorkommen dort waren, wo man eben nur kleine Menschen gebraucht hat."

    Manfred May - ist jener engagierte Mensch, der hier die Aufarbeitung angeschoben hat!

    Gemeint ist jene Thüringer Anlauf- und Beratungsstelle, in der Manfred May und seine Mitarbeiter seit 2012 Schreibtische und Telefone haben, Ordner anlegen und Menschen, wie Jürgen, zuhören. Es kommt oft vor, dass die Mitarbeiter auch unterwegs sind zu den Ratsuchenden, die abgekapselt von der Öffentlichkeit leben oder aus gesundheitlichen Gründen das eigene Haus nicht mehr verlassen können.
    Mehr als 2.000 Menschen haben die Mitarbeiter allein in Thüringen seitdem kennengelernt und betreut. Sie haben die Schicksale notiert und versucht, die Biografien zu rekonstruieren, die Vergangenheit in Akten wieder zu finden. Manfred May blickt auf zahllose Gespräche und Begegnungen zurück. Er erzählt von Menschen, die sich erstmals offenbaren konnten.
    Manfred May: "Es sind immer mehr geworden und es gibt weder eine Abflachung der Zahlen, die sich neu melden noch gibt es ein Nachlassen der Intensität, was die Menschen erlebt haben. Es ist nicht so, dass sich die schwereren Fälle zuerst gemeldet haben und die anderen jetzt auf den fahrenden Zug aufspringen, sondern es sind viele, die jetzt kommen, die einfach auch diese Zeit bis jetzt gebraucht haben, um sprechen zu können und das lässt die Prognose zu, das es viele geben wird, die noch viel längere Zeit brauchen, bis sie sprechen werden."


    Literatur

    Peter Wensierski
    Schläge im Namen des Herrn
    Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik.
    DVA 2006
    Ihr Schicksal ist kaum bekannt: Bis in die 70er-Jahre hinein wurden mehr als eine halbe Million Kinder sowohl in kirchlichen wie staatlichen Heimen Westdeutschlands oft seelisch und körperlich schwer misshandelt und als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Viele leiden noch heute unter dem Erlebten, verschweigen diesen Teil ihres Lebens aber aus Scham - selbst gegenüber Angehörigen.
    Manchmal genügte den Ämtern der denunziatorische Hinweis der Nachbarn auf angeblich unsittlichen Lebenswandel, um junge Menschen für Jahre in Heimen verschwinden zu lassen. In diesen Institutionen regierten Erzieherinnen und Erzieher, die oft einem Orden angehörten und als Verfechter christlicher Werte auftraten, mit aller Härte. Die"Heimkampagne", ausgelöst von Andreas Baader und Ulrike Meinhof, und die Proteste der 68er brachten einen Wandel. Die Erlebnisberichte in diesem Buch enthüllen das vielleicht größte Unrecht, das jungen Menschen in der Bundesrepublik angetan wurde.

    Bastian Obermaier, Rainer Stadler
    Bruder, was hast Du getan?
    Kloster Ettal, die Täter, die Opfer, das System
    Kiepenheuer & Witsch 2011
    Der Missbrauch hatte System
    Im Frühjahr 2010 wurde bekannt, dass geistliche Erzieher am Kloster Ettal ihnen anvertraute Internatsschüler über Jahrzehnte seelisch wie körperlich misshandelt und sexuell missbraucht hatten. Wie konnte es geschehen, dass sich ein scheinbar so gottesfürchtiges Idyll für so viele Kinder und Jugendliche als Ort des Grauens entpuppte?
    In ihrer Dimension stellten die Berichte über die bayerische Benediktinerabtei einen traurigen Höhepunkt unter all den Schreckensnachrichten aus konfessionellen Erziehungseinrichtungen dar, die an die Öffentlichkeit gedrungen sind. Die Mönche in Ettal kündigten an, alle Fälle gnadenlos aufzuklären. Wie sieht die Wahrheit aus?
    Bastian Obermayer und Rainer Stadler haben über Monate mit ehemaligen Schülern gesprochen, die teilweise bis heute unter dem Trauma ihrer Schulzeit leiden. Sie trafen Eltern, Lehrer und Erzieher, Verantwortliche des Klosters, Psychologen, Theologen und Sozialwissenschaftler. Sie suchten die Tatorte auf und sichteten unzählige Dokumente aus dieser Zeit.
    Die Bruchstücke fügen sich zu einem Bild zusammen, das allen reflexartigen Erklärungsversuchen für die damaligen Vorfälle widerspricht. Denn verantwortlich sind nicht wie von der Klosterleitung wiederholt behauptet vom rechten Weg abgekommene Einzeltäter; vielmehr hatten Gewalt und Missbrauch am Kloster Ettal System.
    Jürgen Dehmers
    Wie laut soll ich denn noch schreien?
    Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch
    Rowohlt 2011
    Endlich: Jürgen Dehmers berichtet aus eigener Erfahrung, was in der Odenwaldschule wirklich geschah.
    Der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule hat die deutsche Öffentlichkeit in Atem gehalten. Dass ausgerechnet in einer pädagogischen Modellschule sexuelle Übergriffe stattgefunden haben, schockierte die Menschen und viele wollten die schreckliche Wahrheit zuerst nicht glauben, weil die Ereignisse ihre Vorstellungskraft überstiegen. Dazu sagt Jürgen Dehmers: Hört auf, euch etwas vorzustellen, hört uns endlich zu! Mittlerweile ist bekannt, dass über hundert Schüler Opfer des Missbrauchs waren und mehr als ein Dutzend Lehrer und Erzieher zu den Tätern gehörten. Mit Jürgen Dehmers berichtet zum ersten Mal eines der Opfer persönlich von den Vorfällen. Dehmers gelang es bereits als jungem Mann, trotz massiver Traumatisierungen und ideologischer Gehirnwäsche, ein Leben nach der Odenwaldschule zu finden und Distanz zwischen sich und den schrecklichen Erlebnissen zu schaffen. Das Buch demaskiert die Täter und ihre Helfer, die schutzbefohlenen Kindern unheilbare körperliche und seelische Verletzungen zugefügt haben. Darüber hinaus gelingt es dem Autor, das System Odenwaldschule zu beleuchten und dem Leser die Hintergrundinformationen zu liefern, wie es dazu kommen konnte, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern zum Alltag einer hochgelobten Reformschule gehörte, in der die Schule alles war und das einzelne Kind nichts. Ein Aufklärungskrimi, der spannend bleibt bis zum Schluss, obwohl die Täter ab der ersten Seite bekannt sind.

    Manfred Kappeler
    Anvertraut und ausgeliefert, sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen
    Nicolaische Verlagsbuchhandlung 2010
    Die Berichte über Fälle sexueller Gewalt am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin und an der reformpädagogischen Odenwald-Schule in Hessen haben ganz Deutschland aufgerüttelt. Manfred Kappeler, Sozialpädagoge und Erziehungswissenschaftler, fragt in diesem Buch nach den Gründen für solche Taten und beleuchtet die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen sie begangen und über lange Zeit vertuscht wurden. Und er gibt Antwort auf die drängende Frage, was getan werden muss, damit Mädchen und Jungen in Zukunft nicht wieder Opfer von sexueller Gewalt werden.
    Zitate aus der Langen Nacht
    Elke Meister, Heimkind von 1960 bis 65, u. a. im "Heim der barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul", Paderborn. "Als ich da rein kam, also das war furchtbar, also dieses Schlüsselgeräusch. Man wusste sofort: Du bist jetzt eingesperrt. Es war einfach nur grausam. Jeder der da rein kam, war abgrundtief schlecht und kam direkt aus der Gosse. Also es war eine ganz schlimme Situation, und ich habe mich so unwohl gefühlt und geschämt auch."

    Wolfgang Rosenkötter, 1962 Heimkind in der Diakonie Freistatt: "Ich war ein Jahr hier in Freistatt, ich kann mich nicht erinnern, dass ich hier irgendetwas Positives in Erinnerung habe. Ich habe nur negative Erinnerungen, ich habe nur Angstgefühle und das ständige Bedürfnis, einfach bloß hier weg, bloß hier raus zu kommen."
    Rudolf Mette, von 1965 bis 68 Praktikant in einem christlichen Erziehungsheim: "Es waren nur ganz wenige da, von denen man sagen konnte, das war schon sehr schwierig mit ihnen, aber 80 Prozent hätten da gar nicht hingehört. Und die Jugendämter sind sehr leichtfertig dann im Umgang mit den Unterbringungen gewesen. Es war ja auch billig."
    Elke Meister: "Ich bin selber drei Tage in die Klabause gekommen, das war eine Gefängniszelle, weil ich gelacht habe. Ich bin bald durchgedreht, ich hatte nichts, kein Buch, nichts, nur kahle Wände, die Pritsche, und dann kam jemand einmal am Tag und brachte Wasser und Brot."
    Michael-Peter Werl Schiltsky, 1957 Heimkind im Knabenheim Westuffeln, Werl: "Es gab also in diesem Heim auch Formen sexuellen Missbrauchs, ich bin selber davon betroffen gewesen, weiß von einigen anderen, die davon auch betroffen waren. Ich war allein in einem Raum, als ich dort angekommen bin, in der ersten Zeit. Und habe dort eben erleben müssen, dass sich sehr schnell einer zu mir ins Bett gelegt hat."

    Wolfgang Rosenkötter: "Ich kann mich noch erinnern, war alles blutig, es hat geblutet ja. Wir haben nur Angst gehabt hier, ich hab also vom ersten bis zum letzten Tag Angst gehabt hier, ein Jahr lang, es wurde ja nur mit Druck gearbeitet, ständig mit Strafen, mit Druck. Man hatte nie das Gefühl, dass man keine Angst haben musste."

    Wolfgang Rosenkötter: "Arbeit war im Moor, das war schwerste Arbeit, Fronarbeit, den ganzen Tag im Laufschritt, Torf stechen, den Torf zu Mieten aufschichten zum Trocknen, und ständig in gebückter Haltung, mit wenig Pausen, einer Stunde Mittag, und immer die Erzieher im Rücken, die einem ständig Kommandos gegeben haben und auch, wenn man nicht schnell genug gearbeitet hat, geschlagen haben, getreten haben."
    Heinz-Peter Junge, von 1959 bis 1964 Heimkind im Kalmenhof, Idstein: "Es hat Jungs gegeben, die auf dem Feld waren, die haben sich den Daumen abgehackt, weil sie nicht mehr wollten. Weil sie nicht mehr die Demütigungen ertragen haben, haben sie sich den Daumen abgehackt."
    Elke Meister: "Ich denke an so viele Fragen, die ich habe, und an so viele Dinge, die ich erlebt habe, die ich immer noch spüre. Sehe ich eine Schwester bzw. eine Nonne auf der Straße, ist alles da, ist alles wieder da. Wenn die wüssten, was die für einen Eindruck bei uns hinterlassen haben, dass meine Psyche so stark davon belastet ist, ich glaube das kann keiner verzeihen, mein Leben ist geprägt dadurch."
    Michael Peter Schiltsky: "Das Schlimmste, was ich aus dieser Heimzeit mitgenommen habe, ist die Tatsache, dass ich meiner Frau gegenüber und meinen Kindern gegenüber gewalttätig geworden bin. Und das es ein ungeheuer langer Weg war, da raus zu kommen."