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Vergessen und wiederentdeckt

Mit dem Scheitern des Sozialismus im Ostblock schien auch das Interesse an Karl Marx erloschen. Doch inzwischen öffnet sich der Blick auf den Denker, und seine Analysen gewinnen wieder mehr Aufmerksamkeit.

Von Peter Leusch | 13.03.2008
    Ist Karl Marx heute noch interessant?

    "Ich glaube ja, weil er eine große Bedeutung im 19. Jahrhundert hatte, nachher kamen all die kommunistischen Regierungen und Systeme in die Welt, und darum hat er auch jetzt noch etwas zu sagen, der Kommunismus ist ja auch nicht vorbei."

    "Aber ob das jetzt noch eine Rolle spielt in unserer Politik, das glaube ich nicht, interessant für die kommunistisch regierten Länder, die ihrer Besucher hier hindelegieren."

    "Ich denke, das ist immer noch wichtig, ja."

    "Vielleicht, meine deutsche Sprache ist nicht so gut."

    Die Besucher im Trierer Geburtshaus von Karl Marx, das eine Ausstellung beherbergt, kommen aus aller Welt. Vor allem Chinesen sind stark vertreten. Sie pilgern zur Geburtstätte des ideologischen Übervaters nach Trier. Aber die Ausstellung beweihräuchert Karl Marx keineswegs, sie lädt vielmehr ein über sein Leben und Werk zu diskutieren.

    Denn das Marx-Bild sei im Wandel, erklärt die Museumsleiterin, die Historikerin Beatrix Bouvier, und dabei bilde das Jahr 1989 die große Zäsur.

    "Vor 1989 haben wir es mit der Blockkonfrontation zu tun, es gab so etwas wie einen West-Marx, und es gab den Ost-Marx. Der Ost-Marx ist uns allen vertraut: Das ist der Marx, der für Gesellschaftssysteme in Anspruch genommen wurde, und es gab den West-Marx, das war vornehmlich der junge Marx, der Philosoph, der Religionskritiker und fortgeführt ein Marx, der von Demokraten in Anspruch für sich genommen wurde als Soziologe, als Anthropologe, als ein Mann des 19. Jahrhunderts, der für seine Überzeugungen ins Exil gehen musste, also ein Marx ohne Ecken, ein etwas abgerundeter Marx, der West-Marx. Der Revolutionär kam da nicht mehr wirklich vor."

    An Karl Marx und seinem Werk schieden sich die Geister im Kalten Krieg, hüben war er für die meisten ein Feindbild, drüben ein Säulenheiliger. "Wie hältst Du es mit Karl Marx?", lautete die politische Gretchenfrage. Im Osten musste man, mindestens verbal, ein Bekenntnis zum Marxismus ablegen, im Westen konnte dasselbe die Karriere kosten.

    Mit der Auflösung des Ostblocks, dem Scheitern des Sozialismus, schien auch das Interesse an Marx erloschen. Die legendären blauen Bände der Marx-Engels-Werke, die seit den 60ern in keiner Studentenbude fehlten, landeten im Ramsch der Antiquariate.

    "Es war zunächst einmal Desinteresse da: Marx schien tot, mausetot zu sein, nun aber wächst langsam eine Generation, die von allem nicht beeinflusst ist oder daran keine Erinnerung hat, die davon nicht geprägt worden ist.

    Parallel gibt es dazu eine Wissenschaft, die nicht mehr unter Druck steht, irgendetwas legitimieren zu müssen, sei es positiv oder sei es negativ, sondern die daran geht, Marx neu zu entdecken vor allem in der Philosophie und auch in der Soziologie. Und es gibt die große kritische Marx-Edition, die nun genau im Detail auseinandernehmen, was eigentlich Marx hinterlassen hat, so dass wir heute ein Marx-Bild im Entstehen sehen, das Marx als einen Denker des 19. Jahrhunderts darstellt, der ein großes Torso hinterlassen hat. Die Werke sind in vieler Hinsicht fragmentarisch. Das heißt zum Beispiel, dass Marx gar nicht der große Staatstheoretiker war, sondern dass es da nur Ansätze gibt und dass das nie vollendet worden ist."

    Der unbefangene Blick entdeckt einen anderen Marx. Nicht den Urherrn des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus, wo man seine Gedanken in dogmatischen Beton gegossen hatte, vielmehr sieht man einen Denker des 19. Jahrhunderts, einen Klassiker, der seine spezifischen Ansätze, seine konzeptionellen Stärken und Schwächen hatte. Wo könnte man heute anknüpfen? Beatrix Bouvier:

    "Ich denke, ihn aktuell zu verstehen, heißt, ihn als einen Kritiker zu verstehen, als einen Analytiker seiner Zeit und der sich entwickelnden Produktionsverhältnisse. Das, was sicherlich völlig überholt sind, sind alle Prognosen, die sich daraus ableiten lassen, und insofern bleibt das das Problem mit der Politökonomie und mit den ökonomischen Analysen, aber was bleibt ist die Herausforderung, die Marx nach wie vor darstellt, ihn immer wieder zu widerlegen und zu sagen, es ist aber anders gekommen - und insofern: dieser Stachel, der da bleibt, der kann immer noch produktiv sein."

    Was also bleibt von Marx, und was ist nur noch historisch? Verabschieden muss man sicherlich Marx' Vorstellung einer gesetzmäßig ablaufenden Geschichte, in der der Kapitalismus zwangsläufig an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde ginge und vom Sozialismus abgelöst würde. Auch ist es nicht zu der immer größeren Verelendung der Massen gekommen, vielleicht aber auch deshalb nicht, weil sich der Sozialstaat manche der Forderungen von Marx und der Arbeiterbewegung in gemäßigt-bürgerlicher Form zu Eigen gemacht hat.

    In anderer Hinsicht hat Marx allerdings die weltwirtschaftliche Ausweitung des Kapitalismus, das heißt die Globalisierung, vorweg gedacht, ebenso dass immer weitere Bereiche des Lebens, auch Kultur und Wissenschaft kommerzialisiert werden. Vermutlich hätte Marx sich gar nicht lange gewundert, wenn dieses Schicksal heute auch ihm selbst widerfährt.

    "Das schönste Zitat dazu habe ich vorgestern in einem Film gesehen, der gerade fertig gestellt worden ist, 'Karl Marx, - ein Philosoph der Geschichte macht', wo Menschen auch befragt werden. Und zum Schluss geht es natürlich um den Tourismus in Trier, um die chinesischen Touristen, und der Oberbürgermeister hat einen wunderbaren Satz gefunden und hat gesagt: 'Karl Marx ist unser Kapital.' Da ist auf den Punkt gebracht der Umgang mit Karl Marx, den ich locker finde. Das hätte man sich vor 25 Jahren nicht träumen lassen, als man den 100. Todestag von Marx beging und Blockkonfrontation hatte: Mein Marx - Dein Marx, wessen Marx ist es denn eigentlich? So etwas ist wirklich neu und erfreulich aus meiner Sicht."