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Vergessene Musik

Neue CDs erinnern an vergessene oder selten gespielte Klavier- und Kammermusik der Moderne. Das Augenmerk dabei gilt der Musik und den Lebenswegen der Komponisten Mieczysław Weinberg, Bohuslav Martinu, Hans Börner und Johannes Paul Thilmann.

Von Frank Kämpfer | 24.02.2008
    Thilmann, Sonatine, op. 50, CD Genuin GEN 87107, LC 12029, Take 07

    Besonnen, meisterlich, sich der Traditionen bewusst - zugleich spielerisch, virtuos, unverbindlich und also modern ... Fragezeichen, Ausrufezeichen?! "Lebhaft, unsentimental" ist das Gehörte betitelt und es wirft Fragen auf: Allein Gestus und Dimension kollidieren. Das Opus beginnt im Tonfall großer Kammermusik, es ist für einen Interpreten von Rang komponiert, doch zugleich ist es Sonatine genannt, und dauert keine sieben Minuten. Intendiert scheint der Wunsch zu selbstbewusster, öffentlicher musikalischer Rede - doch der Urheber selbst hat, was denkbar gewesen wäre, selbst gestutzt auf ein kleinstes Format.

    Johannes Paul Thilmann, Jahrgang 1906, einen "gemäßigt Modernen" zu nennen, ist nicht falsch und geht doch an der Sache vorbei.

    Der gebürtige Dresdner war Zeitzeuge und Parteigänger zweier Gesellschafts-Systeme, die sich zu Avantgardekunst jeder Art feindlich verhielten - persönlich agierte er nachweislich ambivalent. Öffentlich positionierte er sich als strikter Gegner aller Moderne - seinen Schülern empfahl er sie genau zu studieren - als Komponist hielt er sich mit Bekenntnissen spürbar zurück und suchte seine Werke politischer Verwendbarkeit zu entziehen.

    Dass eine aktuelle CD, die an die problematische Dresdner Moderne erinnert, gleich drei Kammermusiken Johannes Paul Thilmanns enthält, verweist auf die Besonderheit des Projekts. Geigerin Anette Unger war die treibende Kraft - Michael Heinemann hat im Booklettext beispielhaft deutlich gemacht, wie man sich dem Problemfeld Kunst - Diktatur - Widerstand (das heißt: mangelnder Widerstand) annähern kann, ohne im Nachhinein besserwisserisch zu erscheinen. Weitaus Namhaftere als die auf der Platte Versammelten, konnten und durften sich in der NS-Diktatur und in den ersten Jahrzehnten danach auch in Dresden nicht zu möglicher Größe entfalten und mussten sich ins so genannt Zeitlose, Klassische, Ungreifbare entziehen.

    Bemerkenswert die anderen Namen und Werke der beim Label Genuin editierten CD: Hier finden sich eine Geigensonate von Otto Reinhold, der nachweislich NS-Propaganda-Musik komponierte, sowie Tänze des erst 2006 verstorbenen Hans Börner - eines Dresdner Kantors, der sich später der Ballett-Korrepetion zuwandte und an der Dresdner Hochschule in der DDR hier immerhin einen eigenen Studiengang etablierte. Börners Aphroditische Tänze, die Titelmusik der CD, fallen in die Rubrik "angewandte Musik", sie sind zu praktischen, vielleicht pädagogischen Zwecken entstanden. - Dass in den 1980er Jahren auch in Dresden ästhetisch inzwischen Anderes möglich war und entstand, ist für diese, konkrete Personen anvisierende Platte, nicht relevant.

    Börner, Aphroditische Tänze op. 38, CD Genuin GEN 87107, LC 12029, Take 23

    Annette Unger (Violine) und Rieko Yoshizumi (Klavier) mit einem Ausschnitt aus Hans Börners Aphroditischen Tänzen op. 38 aus dem Jahre 1987.

    Das Verhältnis von Lebensweg, dargebotenem Werk und musikgeschichtlichem Rang, ist auf der nächsten CD, die ich Ihnen anspielen will, ein gänzlich anderes. Bohuslav Martinu, Jahrgang 1890, verbrachte gut die Hälfte seines Lebens fern seiner böhmischen Heimat, wiewohl er sie als musikalische Inspiration nie aus dem Gedächtnis verlor. Der Schüler von Josef Suk nahm in Paris die neuesten Musikalischen Strömungen auf - den Jazz, Strawinsky, die Groupe des Six - er floh vor den Truppen der deutschen Wehrmacht in die Vereinigten Staaten, wo er an namhaften Hochschulen lehrte - die 50er Jahre verbrachte er in Italien, Frankreich, der Schweiz.

    Die vierte und vorerst letzte CD von Martinus zahlreicher, jedoch kaum bekannter Musik für Soloklavier, die Ende vergangenen Jahres beim Label NAXOS erschien, enthält auf den ersten Blick Banalitäten, die Rang und Namen ihres Urhebers eher konterkarieren. Es sind kurze Tänze, Albumblätter, verstreute Miniaturen aus diversen Jahrzehnten. Erst bei genauerem Hinsehen - und hier hilft das bei NAXOS sonst spärliche Booklet immens - wird man der Bedeutung der Platte gewahr. Nichts weniger als in Gelegenheitswerken vertonte Biographie eröffnet sich hier: da findet sich ein frühes, noch vor dem Ersten Weltkrieg verfasstes Prelude über das Thema der Marseillaise - da steht die erste, noch in Prag erdachte Jazzkomposition neben einer in New York verfassten Hommage à Paderewski und diese vor einem Einminüter, der den frühen französischen Rundfunk persifliert. Tanzfolgen, halb in Paris, halb in Böhmen notiert, verweisen auf einen anderen Martinu, als den, der krebskrank schon, 1957 in Rom ein Adagio schreibt, in dem er seiner Schülerin und Geliebten Vítězslava Kaprálová gedenkt. Dieses kleine Stück erklingt jetzt, nach einer nicht ganz ernst zunehmenden, auf 1919 datierten Katzenprozession zur Sommersonnen-wende.

    Martinu, Procession of the Ctas on Solstice Night Adagio "In memoriam", CD NAXOS 8.570215, LC 05537 Take 32 + 17

    Bohuslav Martinu, Musik für Klavier solo, Vol. 4. Giorgio Koukl - geboren 1953 in Prag, 1968 in die Schweiz ausgereist, ein Meisterschüler von Rudolf Firkušný - hat die CD im Sommer 2006 in Lugano, im Radio der italienischen Schweiz eingespielt.
    Für eine, wenn nicht mehrere Generation haben die 40er, 50er Jahre des letzten Jahrhunderts mit ihren heftigen Brüchen, Katastrophen und wechselnden Ambivalenzen, die entscheidenden Weichen gestellt. Moissei, eigentlich Mieczysław Weinberg, Jahrgang 1919, ist ein weiteres Beispiel dafür. Als musikalische Frühbegabung saß er sehr jung am Jüdischen Theater in Warschau am Flügel, er floh nach der Ermordung der Eltern 1939 in Richtung Osten, nahm in Minsk ein Kompositionsstudium auf und zog nach dem Einfall der Deutschen mit nach Taschkent, wohin man die sowjetischen "Intelligenzja" vor der Front evakuierte. Kein Geringerer als Schostakowitsch lud Weinberg nach Moskau, protegierte erste Kompositionen, leistete gar politische Fürsprache, als Stalins antisemitischer Wahn den Komponisten unversehens bedrohte.

    In der Folge war der Sowjet-Emigrant klug genug, zu komponieren, die Fronten der politisch-ästhetischen Richtungskämpfe jedoch strikt zu meiden. Die Folge: internationale Unbekanntheit bis ins Alter hinein, wo ihn ein Staats-Preis der UdSSR erst 1990 rehabilitierte. Was in Weinberg dennoch ein Gefühl künstlerischer Heimat aufkommen ließ, war der intensive, vielgestaltige, nach außen hin kaum sichtbare Dialog mit seinem Mentor und Ideal. Unzählige Male nahmen Schostakowitsch und Weinberg in ihren Werken auf den jeweils anderen musikalisch Bezug, in dem sie Motive und Themen zitierten, um sie sich anzuverwandeln. Ob sich Weinberg als Komponist eine eigene Sprache erwarb, sei hier nicht zu ermessen - als Präferenz stand für ihn, unabhängig zu bleiben. Seine Polystilistik, die volksmusikalisches Material ebenso subsumierte wie dodekaphonische Technik und neoklassizistische Form, wirkt so jedenfalls legitim.

    Weinbergs immenses kammermusikalisches Oeuvre zu heben, hat das schwedische Label BIS jetzt eine Initiative ergriffen. Vorliegende Produktion mit Alexander Chaushian (Violoncello) und Yevgeny Sudbin (Klavier) bietet drei repräsentative Sonaten, deren auf 1959 datierte zweite wiederum auf ein zeitgleich entstandenes Cellokonzert Schostakowitschs verweist:

    Weinberg, Sonate Nr. 2 für Cello, op. 63, CD BIS-CD-1648, LC, Take 08

    Alexander Chaushian (Violoncello) und Yevgeny Sudbin (Klavier) mit einem Ausschnitt aus der Violoncello-Sonate Nr. 2 op. 63 von Mieczysław Weinberg.

    Diese 2006 in Stockholm produzierte Aufnahme findet sich auf einer Kammermusik-CD, die beim schwedischen Label BIS erschien - in Deutschland ist sie über den Vertrieb Klassik Center Kassel erhältlich. Zuvor habe ich Ihnen die vierte und letzte CD mit Klaviermusik von Bohuslav Martinu angespielt, die bei Naxos erschien, sowie bei Genuin editierte Erinnerungen an die Dresdner Moderne.