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Vergessener Moses Mendelssohn

Der jüdische Philosoph und Aufklärer Moses Mendelssohn - er lebte von 1729 bis 1786 - ist in der deutschen Geistesgeschichte ein wenig in Vergessenheit geraten. Wenn überhaupt, ist er den meisten Zeitgenossen gerade noch als Großvater von Felix Mendelsohn-Bartholdy oder als Vorbild für Lessings "Nathan der Weise" in Erinnerung. Seine Schriften sind nur noch in akademischen Fachkreisen geläufig. Dabei spielte Moses Mendelssohn im Kreise der Berliner Aufklärung des 18. Jahrhunderts eine hervorragende Rolle. Für Leben und Werk dieses jüdisch-deutschen Intellektuellen wieder Interesse zu wecken, versucht eine umfangreiche Biografie des in Paris lehrenden Religionswissenschaftlers Dominique Bourel. Karin Beindorff hat sie gelesen:

Am Mikrofon: Hermann Theißen | 26.11.2007
    Jede Periode der deutsch-jüdischen Geschichte habe sich ihr eigenes Bild von Moses Mendelssohn geschaffen, schreibt Dominique Bourel in der Einleitung zu seiner umfangreichen Mendelssohn-Biografie. Diese wechselnden Bilder setzen sich tatsächlich aus einer fast unübersehbaren Vielzahl verstreuter Publikationen zu einzelnen Aspekten von Person und Werk zusammen oder gehen im weiteren Kontext der deutsch-jüdischen Geschichte der Neuzeit auf. Bemerkenswert ist nämlich, dass es über diesen bedeutenden jüdischen Philosophen der Berliner Aufklärung vor Bourel nur drei Biografien gab. Die eine stammt aus dem Jahr 1862 von Meyer Kayserling und ist ein verdienstvolles, aber doch eher hageographisches Werk. Die zweite ist ein wunderbarer Erzählband des Berliner Schriftstellers Heinz Knobloch aus dem Jahr 1987: "Herr Moses in Berlin" und die dritte ist die bislang wohl bedeutendste Studie über Person und Werk, die der jüdische Gelehrte Alexander Altmann 1973 in den USA veröffentlicht hat.

    Nicht umsonst widmet Bourel nun seine Studie dem verehrten Professor Altmann, denn ihm dürfte bewusst sein, dass seine Arbeit an den hohen Maßstäben gemessen werden muss, die Altmann mit seiner Studie gesetzt hatte.

    In seiner Einleitung hatte Alexander Altmann betont, er wolle Mendelssohn in streng Biografischem Kontext darstellen:

    Die Studie versucht nicht seine Bedeutung aus der Rückschau einer historischen Perspektive zu bewerten oder dem Bild von ihm bei den nachfolgenden Generationen nachzuspüren, die ihn entweder als die perfekte Verkörperung des modernen Juden idealisiert oder ihn als falschen Propheten eines, der hebräischen Kultur und der Nation entfremdeten, assimilierten Judentums gebrandmarkt haben. Es ist das Leben von Moses Mendelssohn und nichts weiter, das ich zu beschreiben versucht habe, und mein einziges Bestreben ist, dieses Leben in der Periode wahrzunehmen, in der es gelebt wurde.
    Bourel wählt einen anderen Zugriff und bekennt schon zu Beginn, er wolle "Mendelssohn als zentrale Gestalt und eigentlichen Begründer des modernen Judentums erweisen". Im Vorwort erläutert er, dass er seine Biografie in die wissenschaftlichen und politischen Debatten der jüngeren Geschichte einzubetten gedenkt:

    Drei Problemkreise sind vorab zu skizzieren: die Frage nach der Spezifität der Aufklärung, nach der Besonderheit Preußens und - eine immer wiederkehrende Debatte - nach der Eigentümlichkeit der jüdischen Philosophie.
    Über diese Problemkreise trifft Bourel zahlreiche Feststellungen, die er mit einer Fülle von Namen, Zahlen und Zitaten zu umschreiben versucht. Hier und da stutzt man beim Lesen und stolpert über allzu apodiktische wie fragwürdige Behauptungen, die durch keinerlei Begründung erhellt werden: Da wird zum Beispiel das Preußen Friedrichs des Großen als "Symbiose von Gemeinschaften und Kulturen definiert", und behauptet, die spezifisch deutsche Aufklärung stünde seit Horkheimer/Adornos "Dialektik der Aufklärung" von 1947 wieder in hohen Ehren und diese beiden Autoren gehörten zu den "vornehmsten Vertretern der deutsch-jüdischen Symbiose".

    Im ersten Kapitel nähert Bourel sich dann erst einmal dem, was er die Mendelssohn-Legende nennt und berichtet bis ins unwichtige Detail von Rezeption des Werkes und Wahrnehmung der Person bei Zeitgenossen und späteren Generationen. Und so dauert es eine Weile, bis er zum Kern der Sache kommt, der Biografie seines Protagonisten.

    Mendelssohn wurde am 6. Dezember 1729 in Dessau geboren. Wichtigste Figur in seiner Jugend war der Dessauer Rabbiner David Fränkel, ein gebildeter Mann des traditionellen Judentums, der aber durchaus in der Lage war, über den geistigen Horizont des orthodoxen rabbinischen Denkens der Zeit hinauszusehen. Er genehmigte stillschweigend den Neudruck des "more Nevuchim", des "Führers der Verirrten" des mittelalterlichen jüdischen Philosophen Maimonides, der nicht nur für Mendelssohns Bildungsgeschichte eine zentrale Rolle spielte. Der erst 14-jährige Mendelssohn folgte Fränkel nach Berlin, wurde zunächst Gemeindeschreiber, dann Hauslehrer, später Buchhalter und Teilhaber eines Seidenfabrikanten. In Berlin traf der wissenshungrige junge Mendelssohn auf Juden aus meist reichen Familien, die sich aus den kulturellen Grenzen des traditionellen Judentums bereits entfernt hatten und die ihm auf verschiedene Weise halfen, seine Bildung zu vervollkommnen. Er, der bisher nur jiddisch und ein wenig hebräisch sprach, lernte Deutsch, Latein, Französisch und Englisch, und später auch noch Griechisch und bis heute wird das elegante Deutsch seiner Schriften und Briefe zu Recht gerühmt.

    Es entwickelte sich eine enge Freundschaften etwa mit Lessing und dem Buchhändler Friedrich Nicolai, Mendelssohn stieg in den Kreis der Berliner Aufklärer auf. Und er machte sich einen Namen als Philosoph der sog. Leibniz-Wolffschen Schule. Nach der Veröffentlichung seines Phädon 1767, einer Variation des gleichnamigen Platonschen Dialogs, kannte man seinen Namen weit über die deutschen Grenzen hinaus.

    Man heftete Mendelssohn von nun an gerne das Etikett deutscher Platon an. Seine Verteidigung der Unsterblichkeit der Seele in dieser Schrift weist auf ein Grundthema seines Verständnisses von Aufklärung hin, der Versöhnung von Glauben und Vernunft. Bourel schreibt:

    Mendelssohns Größe lag darin, gezeigt zu haben, dass das Judentum genau in dieser Herausforderung besteht, einen Glauben und eine Vernunft miteinander zu verbinden, und dass es mit der Philosophie keineswegs unvereinbar ist.
    Ein reformiertes, von allen rabbinischen Zusätzen befreites, Judentum stand dem Vernunftglauben, wie Mendelssohn das aufgeklärte Denken nannte, seiner Auffassung nach weit näher als das Christentum. Diese Haltung des jüdischen Philosophen, der jedem Bekehrungsversuch, an denen es nicht fehlte, argumentativ bestens widerstand und der sich zeitlebens streng an die jüdischen Gesetze hielt, war für die Zeit, in der ein nur geduldeter Schutzjude jederzeit mit seinem Rauswurf aus Preußen rechnen musste, unerhört mutig. Bourel berichtet mit philologischer Akribie bis in alle Einzelheiten von den Auseinandersetzungen unter den Philosophen und Theologen der Zeit, was ein Verdienst seines Buches ist.

    Doch unter all den Schriften Mendelssohns, vom Phädon bis zur Neuübersetzung der Bibel, hält er für die eigenständigste und wichtigste: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. In dieser politischen Schrift trat Mendelssohn 1783 für die Emanzipation der Juden ein, verlangte ihre Aufnahme als Juden in der sich gerade herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft und ihre volle Teilhabe am Wirtschaftsleben. Er forderte die Trennung von Staat und Kirche und begründete die Notwendigkeit religiöser Toleranz für ein funktionierendes Gemeinwesen. Dieses Werk hat wesentlich dazu beigetragen, dass Mendelssohn als Ahnherr der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung gilt.

    Bourel erklärt diese Schrift denn auch zur Charta des modernen Judentums und Mendelssohn für einen Mann des "Sonderwegs", ohne den die Emanzipation der Juden in ihrer deutschen Gestalt nicht denkbar gewesen wäre. Er habe eine Gleichheit der Ehre zwischen Deutschland und dem Judentum hergestellt.

    Diese Legierung sollte eine wirkliche Modernisierung des Judentums und Deutschlands begründen. In dieser doppelten Geschichte sollte es oft vorkommen, dass man nicht mehr wusste, was deutsch ist und was jüdisch, so sehr sind wir hier im Bereich des Singulären und des Unmöglichen.
    Statt solchen, etwas kryptischen Rückgriffs auf die poststrukturalistischen Begriffe Jaques Derridas', hätte man sich in Bourels 800-Seiten-Biografie ein wenig mehr Hinwendung zu den handfesten ökonomischen und sozialen Voraussetzungen dieser jüdisch-deutschen Modernisierung, des Zusammenspiels von jüdischer und christlicher Aufklärung gewünscht. So bleiben trotz allen Wortreichtums die Bedingungen des Eintritts der Juden in die bürgerliche Gesellschaft seltsam blass; eine Gesellschaft, die ihnen Gleichheit verspricht, aber doch weder vom Assimilationsdruck noch vom Judenhass lassen kann.

    Bourels Buch ist über weite Teile leichthändig geschrieben, doch die Mischung aus gelegentlich unbelegten Behauptungen und der Überfülle von Zahlen und Fakten, in akademischem Komplettierungseifer zusammengetragen, macht die Lektüre manchmal zur Geduldsprobe. Und der Anhangsapparat von mehr als 200 Seiten mag für weitere wissenschaftliche Arbeiten von Nutzen sein, ist aber für den gewöhnlichen Leser wenig hilfreich.
    Person und Werk Moses Mendelssohns haben es verdient, endlich mehr Interesse im Land seiner Herkunft zu finden, wozu Bourels Arbeit sicher ihren Beitrag leistet. Aber es würde gewiss nicht schaden, wenn sich ein deutscher Verlag fände, der auch Alexander Altmanns bis heute unübertroffene Biografische Studie endlich übersetzen ließe.

    Karin Beindorff über Dominique Bourel: "Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums. Eine Biografie." Horst Brühmann hat den Band aus dem Französischen übersetzt. Er ist erschienen im Ammann Verlag in Zürich. 800 Seiten für Euro 39.90. Das am Anfang der Rezension erwähnte Buch 'Herr Moses in Berlin" von Heinz Knobloch ist im vergangenen Jahr beim Jaron Verlag in Berlin wiederaufgelegt worden und kostet 19.90 Euro.