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Vergewaltigungen in Behinderten-Einrichtungen
Schutzlos und ohne Zeugen

Angebrüllt, geschlagen, vergewaltigt: Körperlich und geistig behinderte Frauen werden in Deutschland bis zu dreimal häufiger Opfer sexueller Gewalt als alle anderen Frauen. Vor allem Psychiatrien, Heime und andere spezielle Einrichtungen sind in dieser Hinsicht keine sicheren Orte.

Von Susanne Arlt | 11.06.2015
    Das Bild zeigt Schattenrisse von drohenden Händen eines Erwachsenen und den Schatten eines Kinderkopfes.
    Geistig und körperlich behinderte Frauen werden oft schon seit der Kindheit misshandelt. (dpa / picture alliance / Patrick Pleul )
    Fünf Frauen und drei Männer, alle zwischen 20 und 50 Jahre alt, sitzen sich in einem Kreis gegenüber. Sie lächeln sich oft an, gestikulieren. Eine junge Frau will von ihrer Sitznachbarin wissen, wie es ihr geht? Dabei fliegen ihre Hände durch die Luft, als bewegen sie sich zum Takt einer lautlosen Melodie.
    Jennifer ist gehörlos, von Geburt an. Alle anderen in dieser Runde geht es ähnlich, manche haben zudem eine leicht geistige Behinderung. Und noch etwas eint diese Frauen und Männer. Trotz ihrer Beeinträchtigung möchten sie ein eigenes, ein selbstbestimmtes Leben führen. Darum sitzen sie jetzt hier, denn gleich beginnt das Seminar "Sexualität, na klar". In den kommenden zwei Stunden soll es diesmal um das Thema Gewalt gehen.
    Alle Köpfe fangen heftig an zu nicken. Jeder hier kennt das Gefühl der Ohnmacht. Jennifer hebt als erste die Hand. Die junge Frau beschreibt ihre Erfahrungen fast lautlos, aber sehr energisch. Monika Krieg übersetzt. Männer dürfen ihre Frauen nicht schlagen, das ist verboten, erzählt Jennifer selbstbewusst. Seit vier Jahren bietet der soziale Träger "Sinneswandel" das Seminar für gehörlose Menschen an. Ziel sei es, sie aufzuklären und ihnen zu zeigen, wie man sich wehrt, sagt Bildungsreferentin Monika Krieg.
    "Das Wissen über Sexualität, was ist der Körper, wie funktioniert der, wie kann man sich auch wehren, wie kann man Grenzen setzen, da ist uns schon aufgefallen, dass da eine Wissenslücke ist. Was ein bisschen damit zusammenhängt, dass die Menschen, die wir betreuen, aus Schulen kommen, wo sie eben auch Lehrer hatten, die nicht unbedingt gebärdensprachkompetent waren, und von daher war gerade so Unterricht, Aufklärung, Bildung immer ein bisschen schwierig."
    Als vor drei Jahren durch eine repräsentative Studie des Bundesfamilienministeriums herauskam, dass Frauen und Mädchen mit einer Behinderung deutlich öfter Opfer von psychischer, physischer und sexueller Gewalt werden, war der Aufschrei groß. Monika Krieg war damals nicht überrascht, dass vor allem gehörlose und psychisch kranke Frauen Opfer von Gewalt werden.
    "Gehörlose Menschen haben wenig Kontakte zu nicht-gehörlosen Menschen oder nicht gebärdensprachkompetenten Menschen. Ich denke, das spielt wahrscheinlich auch mit eine Rolle, dass das so eine eingeschworene, kleine Gruppe ist. Wo wenig Kontrolle auch da ist, wo noch einmal jemand von außen gucken kann, und da passiert es einfach auch, dass im Nahbereich viele Übergriffe passieren."
    Vielen Opfer ist nicht bewusst, dass sie missbraucht werden
    Auch drei Jahre nach Veröffentlichung der Studie gibt es in vielen Einrichtungen noch immer keine Programme zur Gewaltprävention und Sexualaufklärung. Weil den Behinderten Sexualität abgesprochen wird, sparen Heime das Thema gerne aus. Das Projekt "Suse" vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, kurz bff, will daran etwas ändern. Suse stehe für sicher und selbstbestimmt, sagt Rebecca Maskos vom bff. Der Verband testet gerade in fünf Modellregionen in Deutschland, wie man eine bessere Vernetzung der zuständigen Stellen hinbekommt.
    "Diese Systeme Behindertenhilfe und Hilfe und Unterstützung im Bereich der Antigewaltarbeit, das sind oftmals Parallelsysteme. Die sitzen in der derselben Stadt und wissen teilweise gar nicht voneinander. Wenn zum Beispiel in einer Einrichtung der Behindertenhilfe ein Vorfall passiert, dann kommen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort oft nicht auf die Idee, zum Beispiel mal bei der Frauenberatungsstelle vor Ort nachzufragen."
    Täter gibt es überall. Es sind Betreuer und Betroffene. Die Übergriffe finden in Behindertenheimen, in Psychiatrien, in Förderschulen und zuhause statt. Und den betroffenen Frauen sei oft gar nicht bewusst, dass ihnen Gewalt angetan werde, sagt Rebecca Maskos. Denn von Beginn ihrer Kindheit an hätten sie eine Sozialisierung der Fremdbestimmung durchlaufen.
    "Dass das sozusagen so eine Normalität ist, dass sie eh gar nicht gefragt werden, ob sie das gerade möchten, und dass ihnen auch wenig beigebracht wurde, auf ihre Körpergrenzen zu achten. Also, auch Nein zu sagen. Vielen Frauen mit Behinderungen, insbesondere Frauen mit Lernschwierigkeiten wird eher so beigebracht, fügsam zu sein. Das ist natürlich eine Basis, um dann schneller von Gewalt betroffen zu sein, weil man eben gar nicht genau weiß, wie man Nein sagt und wie man sich wehren kann."
    Zurück zum Seminar "Sexualität, na klar" und seinen Teilnehmern. Viele sind in Internaten für Gehörlose aufgewachsen. Für die meisten von ihnen war das keine einfache Zeit. Eine Frau Anfang 50 macht ihrem Herzen Luft und lässt ihren Händen freien Lauf. Monika Krieg übersetzt.
    "Sie berichtet jetzt davon, dass sie das früher in der Schule erfahren hat. Sie wurde geschlagen, getreten. Sie musste sprechen, durfte nicht gebärden. Und dann ist sie eben auch gezwungen worden. Schlimme Erfahrung ..."
    Schlimme Erfahrungen, über die sie lange geschwiegen hat. Auch aus Scham. Heute fällt es der 50-Jährigen leichter, anderen von ihrem Leid zu erzählen. Sollte ihr wieder einmal Gewalt angetan werden, dann wird sie sich wehren und in Gebärdensprache ganz laut "Nein" sagen.