Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Verhältnis EU-Russland
"Gefahr einer Spirale nach unten"

Man hätte der Ukraine viel früher die Perspektive einer Vollmitgliedschaft in der EU anbieten müssen, sagte der SPD-Politiker Günter Verheugen im Deutschlandfunk. Zugleich kritisierte er, dass die ukrainische Übergangsregierung nicht legitim zustande gekommen sei.

Günter Verheugen im Gespräch mit Dirk Müller | 18.03.2014
    Dirk Müller: Wladimir Putin hat sich nicht beeindrucken lassen, bislang jedenfalls, wie auch, unken viele, von den mahnenden Worten aus dem Westen, von den ersten Strafmaßnahmen. Sie betreffen ihn ja nicht direkt. Aber wie weit ist der Kreml-Chef bereit zu gehen? Was ist mit dem Osten der Ukraine? Was kann die Regierung in Kiew tun?
    Die Krim-Krise, die Ukraine-Krise – darüber wollen wir nun reden mit dem früheren EU-Kommissar Günter Verheugen, viele Jahre in Brüssel zuständig für die Erweiterung der Gemeinschaft als auch für Industriepolitik. Guten Morgen!
    Günter Verheugen: Guten Morgen!
    Müller: Herr Verheugen, macht Wladimir Putin alles falsch?
    Verheugen: Aus seiner Sicht natürlich nicht. Er verteidigt Interessen, von denen inzwischen ja auch die Amerikaner sagen, dass sie berechtigt sind, russische Sicherheitsinteressen, und es wäre sicherlich besser gewesen, man hätte in der ganzen Politik gegenüber der Ukraine das Gespräch mit Russland rechtzeitig gesucht und diese Sicherheitsinteressen berücksichtigt.
    Müller: Aber wir haben, Herr Verheugen, doch immer davon gehört, dass es Versuche gegeben hat, mit ihm zu telefonieren, ins Gespräch zu kommen. Barack Obama hat das auch getan. Aber es hat doch nichts gebracht!
    Versuchen zu deeskalieren
    Verheugen: Das ist passiert, als die Krise ja schon auf ihrem Höhepunkt angekommen war. Ich glaube, dass der Fehler, einer der Fehler darin bestanden hat, dass die Europäische Union eine Politik gegenüber der Ukraine, aber auch anderen Ländern in der Region entwickelt hat, die von diesen Ländern verstanden wird als ein Weg in die Europäische Union, und darüber gar nicht mit dem größten und wichtigsten Nachbarn zu reden. Ich kann schon verstehen, dass die Russen glauben, darüber muss man sprechen. Das entschuldigt nicht, wie sie sich jetzt verhalten, aber ich finde, wir sollten hier einen deutlichen Unterschied machen zwischen einer russland-kritischen Haltung, die notwendig ist, und einer geradezu feindseligen Attitüde gegenüber Russland, und ich finde es richtig, darauf hinzuweisen, dass derjenige, der den Weg von Sanktionen geht, ihn irgendwann auch wieder zurückgehen muss. Also ist es wahrscheinlich besser, wenn wir versuchen zu deeskalieren, statt es immer weiterzutreiben.
    Müller: Sind das Nadelstiche gegen einen Bären, der sich jetzt erst recht wehren muss?
    Maßnahmen nicht besonders wirkungsvoll
    Verheugen: Es sieht ja so aus, als seien die bisher beschlossenen Maßnahmen nicht besonders wirkungsvoll. Das wusste ja auch jeder. Die Gefahr besteht darin, dass auf den ersten Schritt ein weiterer folgt und dann ein weiterer und noch ein weiterer, eine Spirale nach unten, und am Ende stehen wir vor einer neuen Eiszeit in Europa. Das ist genau das, was wir nicht gewollt haben. Was wir gewollt haben war doch ein Europa, das zusammenwächst und in dem jedes Volk die Chance hat, seinen eigenen Weg zu wählen. Wir können der Ukraine nicht vorschreiben, wo sie hingehen soll. Das haben die selber zu entscheiden. Und wenn jetzt mein Nach-Nachfolger, Stefan Füle, in Brüssel sagt, dass wir unser bestes Instrument einsetzen sollten, nämlich das Angebot, der Europäischen Union beizutreten, dann hat er recht. Aber das hätte man vorher machen müssen. Man hätte der Ukraine diese Perspektive wenigstens anbieten müssen, aber das genau ist nicht geschehen und das ist eine der Ursachen dafür, warum wir in diese Lage gekommen sind.
    Müller: Aber Sie sagen ja, jetzt nicht noch weiter Öl ins Feuer gießen.
    Verheugen: Ja.
    Müller: Sie haben das gerade genannt, seit heute Morgen läuft das auch bei uns in den Nachrichten. Der amtierende zuständige EU-Kommissar für Erweiterung sagt, wir müssen die Ukraine aufnehmen. Wie soll denn Wladimir Putin damit friedlich umgehen?
    "Glauben Sie, dass das für die Russen einfach gewesen ist?"
    Verheugen: Zunächst einmal: Die Nachbarschaftspolitik gegenüber diesen Ländern ist seinerzeit konzipiert worden, genau mit der Idee, dass damit ein Prozess eingeleitet wird, der am Ende in die Europäische Union führen kann, immer unter der Voraussetzung, wenn die betroffenen Länder es wollen. Wir hatten damals zu tun zum Beispiel mit den baltischen Republiken, mit Estland, Lettland und Litauen. Glauben Sie, dass das für die Russen einfach gewesen ist? Aber wir haben intensiv mit ihnen darüber gesprochen. Wir haben intensiv mit den Russen darüber geredet, was wir tun, um zum Beispiel die Rechte der russischen Minderheiten in diesen Ländern zu schützen, und da haben die Russen es akzeptiert. Also die Erfahrung ist nicht so, dass man nicht miteinander reden kann.
    Ich muss noch einen Punkt hinzufügen. Was die jetzige Situation so schwierig macht und auch das Gespräch so schwierig macht, hat ja eine Ursache auch in Kiew selber, nämlich die Tatsache, dass dort ein fataler Tabubruch begangen worden ist, dem wir auch noch applaudieren, der Tabubruch nämlich, zum ersten Mal in diesem Jahrhundert völkische Ideologen, richtige Faschisten in eine Regierung zu lassen, und das ist ein Schritt zu weit.
    Müller: Davon sind Sie fest überzeugt, auch wenn das ja sehr umstritten ist? Wir führen ja auch dazu viele Gespräche und Interviews und wir bekommen unterschiedliche Antworten. Wir selbst können es nicht beurteilen. Für Sie ist das ganz klar?
    "Website von Swoboda ist eine wahre Fundgrube an völkischer Ideologie"
    Verheugen: Ja, da kann es überhaupt keinen Zweifel geben. Die Website von Swoboda ist eine wahre Fundgrube an völkischer Ideologie. Die sind getrieben von Russen-Hass, von Juden-Hass und Polen-Hass. Es ist schierer Nationalismus, überzogener exzessiver Nationalismus. Sie rufen nach Atomwaffen für die Ukraine. Sie halten auch die Europäische übrigens nicht für ein erstrebenswertes Ziel, sondern die halten die Europäische Union für ein künstliches Gebilde, das sowieso zum Absterben verurteilt ist. Und ich wehre mich gegen diese verharmlosende These, es sind ja nur ein paar, oder gegen diese klassische Theorie der Einbindung. Diese Sache mit der Einbindung von radikalen Kräften ist in der europäischen Geschichte schon mehr als einmal ganz, ganz furchtbar schief gegangen. Das sollten wir nicht vergessen.
    Müller: Dennoch ist ja im realpolitischen Kontext, Günter Verheugen, klar, dass geprüft wird vor Ort, argumentiert wird vor Ort. Die Frage ist ja, wie einflussreich sind diese Kräfte. Jetzt umgekehrt: Sie sagen, es ist für Sie vollkommen indiskutabel. Heißt das auch, Sie würden mit der neuen ukrainischen Führung nicht zusammenarbeiten?
    FPÖ "Kindergeburtstag" im Vergleich zum Swoboda
    Verheugen: Ja, das heißt das. Ich bin der Meinung, dass man dieser Regierung eine solche Perspektive nicht anbieten kann, sondern dass man ihr ganz klar machen muss, das Bündnis, das sie geschmiedet haben, unter Einbeziehung undemokratischer rechtsradikaler Kräfte, ist für uns nicht hinnehmbar. Das ist ein Aspekt, der in unserer öffentlichen Debatte, finde ich, unterbewertet wird. Wir haben in Europa einen Wertekonsens, dass wir so etwas nicht wollen. Ich darf daran erinnern: Als in Österreich vor 15 Jahren die FPÖ in die Regierung kam, haben wir Österreich bestraft. Die FPÖ ist im Vergleich, oder die FPÖ von Haider damals ist im Vergleich zu dem, was wir in der Ukraine mit Swoboda haben, aber wirklich ein Kindergeburtstag.
    Müller: Würden Sie auch heute vielleicht anders bewerten, wenn man darüber nachdenkt, was man damals für ein Theater vollzogen hat?
    Verheugen: Man kann darüber reden, welche Wirkungen es gehabt hat, und darüber muss man wirklich nachdenken, denn es hat dazu geführt, dass Österreich bis auf den heutigen Tag ein sehr EU-kritisches Land geblieben ist. Aber ich bleibe dabei, dass wir keinen Millimeter zurückweichen dürfen, wenn es darum geht, keine Kräfte in europäischen Regierungen zuzulassen, die aus unserer Geschichte nicht das Geringste gelernt haben.
    Müller: Ich muss da noch mal nachfragen, Herr Verheugen. Ist die neue Führungselite, die neue Führungsmannschaft in Kiew legitim zustande gekommen?
    Illegitime Übergangsregierung
    Verheugen: Nein, das ist sie nicht. Das kann man ja nun kaum bestreiten. Die ukrainische Verfassung ist in dieser Sache ganz klar. Die verfassungsmäßige Mehrheit war nicht da und es war auch kein ordnungsgemäß gewählter Präsident. Aber da kann man ja immer noch sagen, gut, das war eine Umsturzsituation, da funktioniert das eben nicht so. Deshalb kommt es jetzt darauf an, dass man sich verständigen kann darüber, wie in diesem Land eine politische Ordnung hergestellt wird, mit der die Menschen leben können, und ich finde es sehr interessant, dass zum Beispiel der amerikanische und der russische Außenminister darüber reden, wie die Verfassung einer solchen Ukraine aussehen sollte, ohne dass sie aber – und das muss uns doch beunruhigen – darüber mit der Regierung in Kiew selber reden, und da sind wir wieder bei dem Punkt, den ich eben angesprochen hatte: Weil die Russen sagen, das ist uns nicht zuzumuten.
    Müller: Jetzt könnte man ein bisschen weiter spekulieren, möchte ich jetzt mal tun. Sie sagen, nicht legitimierte Regierung in Kiew und unter Beteiligung von Faschisten. Das hört sich ja so an, als müsste man diese Regierung sanktionieren?
    Verheugen: Jedenfalls nicht ihr alles das jetzt offerieren, was man demokratisch gewählten Vorgängerregierungen verweigert hat.
    Müller: Also hat der Westen sich opportunistisch leiten lassen?
    Verheugen: Ja, das denke ich schon.
    Müller: Ist das westlich immanent?
    Verheugen: Nun, das hängt wahrscheinlich auch zusammen mit der Tatsache, dass gerade was die Politik gegenüber Osteuropa und auch gegenüber Russland angeht innerhalb der Europäischen Union seit vielen Jahren schon große Unterschiede bestehen. Man hatte ja auch gestern den Eindruck, dass es den Außenministern schwer gefallen ist, eine gemeinsame Linie zu finden. Ich habe auch die Sorge, dass die Situation, in der wir jetzt sind, innerhalb der EU zu einer schwierigen Situation führen könnte, dass sie eine Art Spaltpilz in der EU werden könnte.
    Müller: Sie kennen ja Spitzenpolitik, Sie kennen Spitzendiplomatie, Sie kennen auch viele, viele Krisen. Hätten Sie als zuständiger deutscher Minister gestern gegen Sanktionen gestimmt?
    Folge von Fehlern
    Verheugen: Eine solche hypothetische Frage kann man nicht beantworten, weil es ja auch Zwänge gibt, die sich aus der europäischen Integration und der Partnerschaft mit unseren Freunden ergeben. Ich will hier nicht beckmesserisch erscheinen, sondern darauf hinweisen, dass wir hier es mit einer Kette von Fehlern zu tun haben, die teilweise schon Jahre zurückreichen, eine ganze Kette von Fehlern. Und dieser Fehler, wie ich glaube, oder diese Fehlentwicklung, in der wir jetzt sind, ist eine Folge von Fehlern, die früher gemacht worden sind. Die hätten vermieden werden müssen.
    Müller: Ich fand das jetzt gar nicht so hypothetisch, wollen wir nicht beckmesserisch sein. Sie hätten aber Bauchschmerzen gehabt zuzustimmen?
    Verheugen: Aber erhebliche! Aber ganz erhebliche! Und zwar aus der Sorge heraus, dass der einmal beschrittene Weg von Strafmaßnahmen uns immer weiter wegführt von dem, was wir eigentlich wollen, von einer Politik der Partnerschaft und der Verständigung, und dass es immer schwieriger wird, diesen Weg wieder zurückzugehen, wenn man einmal in diese Richtung geht. Denn wir sind ja nicht am Ende, es werden ja weitere Entscheidungen fallen, Entscheidungen, die uns nicht passen, Entscheidungen, die Russland nicht passen. Wohin soll das führen?
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen. Danke für das Gespräch, Ihnen einen schönen Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.