Freitag, 19. April 2024

Archiv

Verhältnis von Politik und Kirche
Die Kirchen als Sprachrohr der Flüchtlinge

Der Dom bleibt unbeleuchtet oder das Asylpaket II wird als "menschenfeindlich" gegeißelt: Die Evangelische und Katholische Kirche mischen sich deutlich in die Debatte um den Umgang mit den Flüchtlingen ein und werden dabei zu deren Sprachrohr - nicht jeder findet diese Politisierung gut.

Von Burkhard Schäfers | 25.03.2016
    Während Anhänger des islamkritischen "Pegida"-Bündnisses in Köln demonstrieren, wurde die Außenbeleuchtung des Kölner Doms abgeschaltet, um ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit zu setzen.
    Während einer Demo des Pegida-Bündnisses blieb der Dom in Köln unbeleuchtet. (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Freitagnachmittag, kurz nach drei in der Hoffnungskirche im Münchner Stadtteil Freimann. Mehr als 30 Kinder und eine Handvoll Jugendleiter haben sich in den evangelischen Kirchenräumen zur Probe des Kinderzirkus Jojo getroffen.
    "Das ist ein offenes Zirkusprojekt für Kinder. Es leben hier viele Familien mit Migrationshintergrund. Und aus dieser Situation heraus ist das internationale Zirkusprojekt Jojo entstanden."
    Christa Liebscher ist Sozialpädagogin. Sie hat den Zirkus aufgebaut, um Alteingesessene und Neuankömmlinge zusammenzubringen. Akrobatik, Einradfahren, Jonglieren, Hiphop und Breakdance – das finden Kinder interessant, egal ob sie in München, Mossul oder Aleppo geboren sind.
    "Die Grundidee dahinter ist, dass in jedem Zirkus der Welt Menschen aus aller Welt mitwirken, dass die Sprache keine vorrangige Rolle spielt, und dass die Kinder im gemeinsamen Tun einen selbstverständlichen Umgang miteinander lernen."
    Auf dem Gemeindegebiet der Münchner Hoffnungskirche liegt die Bayernkaserne, eine der größten Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge im Freistaat. Wie an vielen Orten haben manche Nachbarn auch hier Vorbehalte und Befürchtungen. Es gab Kundgebungen rechter Gruppierungen. Dem, meint Zirkusorganisatorin Christa Liebscher, müssten die Kirchen etwas entgegen setzen.
    "Ich denke, dass es wichtig ist, dass die Kirchen Position beziehen, und deutlich machen, wie wichtig es ist, den Menschen zu helfen, ihnen Aufnahme und Obdach zu gewähren und auf diesem Weg auch ein Kennenlernen der anderen und eine Verständigung."
    Die Hoffnungskirche versteht ihren Zirkus also durchaus im politischen Sinne: als konkretes Projekt, aber auch als Statement. In der Flüchtlingskrise engagieren sich die Kirchen auf etlichen Feldern: Ehrenamtliche organisieren Kleiderkammern, Nachhilfe oder Sportturniere. Ihre Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie schicken Sozialarbeiter in die Flüchtlingsheime.
    Immer mehr Katholiken und Protestanten mischen sich ein
    Da ist aber noch eine andere, eine neue Dimension: Immer mehr Katholiken und Protestanten mischen sich in die gegenwärtige Debatte ein – und einige begehren sogar deutlich hörbar gegen die Politik auf. Ausgelöst durch die Flüchtlingsfrage, ist etwas in Bewegung geraten: Das über etliche Jahre bewährte Zusammenspiel zwischen Politik und Religionsgemeinschaften justiert sich neu. Es scheint vorerst vorbei mit einer lange gepflegten Zurückhaltung gegenüber den Regierenden. Zu Recht, meint die Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese, SPD-Fraktionsbeauftragte für Kirchen und Religionsgemeinschaften:
    "Ich glaube, dass es ganz legitim ist, dass die Kirchen da auch in gewisser Weise einseitig sind. Diese Einseitigkeit ist auch für die Gesellschaft unverzichtbar, denn wir brauchen gesellschaftlich relevante Organisationen, die sich so klar und einseitig auf die Seite der Schwachen, auf die Seite der Flüchtlinge stellen."
    Die Abgeordneten stimmen über das Asylpaket II ab: Kritik daran kam auch von den Kirchen.
    Die Abgeordneten stimmen über das Asylpaket II ab: Kritik daran kam auch von den Kirchen. (dpa/picture alliance/Wolfgang Kumm)
    Dabei haben es die Politiker immer seltener mit ausgewogenen, zurückhaltenden Stellungnahmen zu tun, die keinem wehtun. Im Gegenteil: Der Jesuitenflüchtlingsdienst etwa bezeichnete das im Februar vom Bundestag verabschiedete sogenannte Asylpaket II als "menschenfeindlich, integrationsfeindlich, europafeindlich". Kritische Stimmen kamen auch aus dem evangelischen Lager. Sozialdemokratin Griese, eine engagierte Protestantin, hat trotzdem dafür gestimmt, dass Deutschland unter anderem den Familiennachzug einschränkt und beschleunigte Asylverfahren einführt:
    "Ja, ich gebe zu, dass mir das schwerfällt, wenn meine Kirche, die evangelische Kirche, Details des Asylpakets II kritisiert. Ich kann auch diese Haltung gut nachvollziehen. Aber das, was Aufgabe der Politik ist, ist ja nunmal auch, Kompromisse zu finden. Und in dieser Großen Koalition ist es nicht einfach, Kompromisse zu finden, zumal es drei Parteien sind, zwischen denen man die finden muss. Deshalb ist es gut, dass sich viele in der Gesellschaft an der Debatte beteiligen, auch detailliert beteiligen."
    Genau das allerdings werfen nun manche Politiker den Kirchen vor: Dass sie sich zu kleinteilig in die Arbeit von Regierung und Parlament einmischen würden – und etwa konkrete Gesetzespläne kritisieren, anstatt sich auf allgemeine Forderungen nach Frieden und Gerechtigkeit zu beschränken. So schrieb Protestant Wolfgang Schäuble in der Fachzeitschrift "Pastoraltheologie", Religion müsse politisch sein, aber sie sei eben nicht nur Politik. Manchmal, so der Bundesfinanzminister wörtlich, "entsteht der Eindruck, es gehe in der evangelischen Kirche primär um Politik, als seien politische Überzeugungen ein festeres Band als der gemeinsame Glaube".
    "Was oft den Kirchen vorgeworfen wird, dass sie sich zu detailliert zu Einzelfragen äußern würden. Da muss man aber, glaube ich, sehen, dass gerade die Erfahrung in der praktischen Arbeit, wie jetzt auch in der Flüchtlingsarbeit, ein wichtiger Teil der Stellungnahmen ist."
    Kirchen politisieren sich in der Flüchtlingsdebatte
    Die Kirchen politisieren sich in der Flüchtlingskrise. Ein wesentlicher Grund liegt in der Parteipolitik. Seit das Flüchtlingsthema die Agenda beherrscht, entfremden sich vor allem zwei Akteure voneinander, die über Jahrzehnte symbiotisch miteinander verbunden schienen: die Kirchen und die CSU. Etliche führende CSU-Politiker sind kirchlich sozialisiert. Umgekehrt sahen und sehen viele Kirchenvertreter die Christsozialen als natürlichen Partner.
    Allerdings liegen die Antworten auf die Frage, wie Deutschland mit geflohenen Menschen umgehen soll, oft meilenweit auseinander. In der CSU heißt das dann "Obergrenze", bei den Kirchen "Schutz der individuellen Menschenwürde". Die Entfremdung kulminierte vor einigen Wochen in einem Offenen Brief von Ordensleuten an den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer. Darin heißt es: "Wir appellieren an Sie, dringend von einer Rhetorik Abstand zu nehmen, die Geflüchtete in ein zwielichtiges Licht stellt."
    Griese:" Das war eine sehr deutliche Äußerung, wie überhaupt die Äußerungen der Kirchen deutlicher werden in den letzten Monaten. Ich glaube, dass es ein großer Schritt ist, wenn katholische Ordensvertreter, die sich ja sonst auch noch stärker aus dem Alltagsleben heraushalten, so deutlich an Horst Seehofer schreiben und ihn auffordern, von seiner Rhetorik Abstand zu nehmen. Das heißt schon, dass diese Ordensleute sehr beschwert waren von dem, was sie da gehört haben, und deshalb äußern sich die Kirchen dazu."
    Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) würde von verschiedenen Orden öffentlich zur Mäßigung seiner Worte aufgefordert.
    Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) würde von verschiedenen Orden öffentlich zur Mäßigung seiner Worte aufgefordert. (picture alliance / dpa / Peter Kneffel)
    Nach Meinung der Ordensleute macht die CSU die Menschen auf der Flucht zu Sündenböcken. Abschottung, Grenzen und Begrenzungen seien keine Lösung, heißt es in dem Offenen Brief an Seehofer, der unter anderem von Franziskanerinnen, Kapuzinern und Benediktinerinnen auf den Weg gebracht wurde. Interessiert beobachtet Karsten Fischer, Professor für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, den Schlagabtausch.
    "Es ist womöglich sogar eine neue Politisierung, es ist auf jeden Fall ein Zeichen dafür, dass die Kirchen eben nicht eindeutig unionsnah sind, sondern dass sie von Fall zu Fall – und vor allen Dingen von den Positionen der einzelnen Parteien her entscheiden und ohne Weiteres bereit sind, ihre traditionelle Unterstützung, in diesem Fall der CSU, dann auch aufzugeben, wenn sie eine bestimmte Politik für falsch halten.
    Harte Worte gegen die Politik
    Harte Worte der Kirchen gegen die Politik – Sozialwissenschaftler Fischer hält das nicht für einen Übergriff.
    "Es ist legitim, dass die Kirchen politisieren. Es gibt ja eher eine verbreitete Klage darüber, dass es zu wenig Politisierung gäbe. Dass wir es mit einer starken Verrechtlichung des politischen Diskurses zu tun hätten. Und immer wird der mündige Bürger gefordert, wird ein politisches Interesse der Bürgerinnen und Bürger gefordert. Dann kann man sich nicht in einem Fall, in dem es einem aus inhaltlichen Gründen nicht passt, gegen eine solche Politisierung wenden."
    Das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland hat sich immer wieder gewandelt. Die gegenwärtige Verfassung definiert die Beziehung zu einander in zwei Dimensionen. Zum einen:
    "Dass sämtliche Religionen, also auch die christlichen Kirchen, unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehen, der vom Staat zu garantieren ist. Insofern haben Religionen zunächst einmal eine privilegierte Stellung. Aber sie sind innerhalb dieses Arrangements des Verfassungsstaates, der sich als ein weltanschaulich neutraler Verfassungsstaat versteht, auch dazu verpflichtet, andere Gesinnungen zu tolerieren. Und diese Gesinnungen können sowohl von anderen Religionen kommen als auch von säkularen Bürgern, die sich dezidiert als nicht religiös verstehen."
    Folglich könnten sich die Kirchen jederzeit politisch äußern, so der Politikwissenschaftler. Als Akteure in der pluralistischen Gesellschaft trügen sie zur Meinungsvielfalt bei. Was Regierung und Parlament allerdings aus den Forderungen der Kirchenvertreter machen, ist offen. Die mögliche Folge: Wer sich politisch aus dem Fenster lehnt, läuft Gefahr, auch einmal nicht ernst genommen zu werden. Und das könnte an Macht und Mythos der Kirchen kratzen. Sind sie dann letztlich auch nur schnöde Lobbyisten?
    "Sicherlich würden die Kirchen es vehement ablehnen, mit dem Begriff des Lobbyisten belegt zu werden. Allerdings bedeutet das eben nur, dass verschiedene Interessenvertretungen legitim sind. Gewerkschaften, Unternehmerverbände, andere Akteure dürfen versuchen, auf die Politik Einfluss zu nehmen, solange das in der Öffentlichkeit transparent geschieht. Das dürfen die Kirchen auch, und insoweit in der Tat könnte man sagen, die Kirchen sind auch Interessenvertreter."
    Das war nicht immer so. Über Jahrhunderte waren Politik und Religion nicht unterscheidbar, sondern eine Sphäre. Und sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche hätten lange damit gehadert, dass ihnen diese Sonderrolle im demokratischen Verfassungsstaat abhandengekommen ist, sagt Karsten Fischer.
    Der Landesbischof der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm (l), und Reinhard Kardinal Marx, der Erzbischof von München und Freising sowie Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz feiern am 27.09.2015 zusammen im Dom in Mainz (Rheinland-Pfalz) einen ökumenischen Gottesdienst. Mit einem ökumenischen Gottesdienst im Mainzer Dom und einem Festakt in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz ist die 40. Interkulturelle Woche eröffnet worden. Foto: Fredrik von Erichsen/dpa
    Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland und Reinhard Kardinal Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. (picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen)
    "Aber in den letzten Jahrzehnten in dieser Erfolgsgeschichte, die die Bundesrepublik Deutschland auch in dieser Hinsicht abgibt, haben die Kirchen da eine sehr kohärente, verfassungstreue und zivilgesellschaftlich produktive Rolle gespielt."
    Stark politisch denkende Bischöfe
    Es gibt einen weiteren wichtigen Grund dafür, warum die christlichen Kirchen stärker als politische Stimme wahrgenommen werden: ihr Bodenpersonal. In Deutschland stehen derzeit zwei ausgewiesene Sozialethiker an der Spitze der Kirchen: der Katholik Reinhard Marx und der Protestant Heinrich Bedford-Strohm. Beide gelten als politische Köpfe – als Medienprofis, die es verstehen, ihre Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. Im Unterschied zu ihren Vorgängern Nikolaus Schneider und Robert Zollitsch, die weniger das Scheinwerferlicht suchten.
    Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, lädt zum Interview in sein Münchner Bischofsbüro. Er kommt unmittelbar zur Sache:
    "Entscheidend ist die Frage – und da mischen wir uns als Kirchen ganz bewusst ein – wie weit eigentlich der Verantwortungshorizont deutscher Politik reicht. Und da sagen wir in aller Klarheit: Der Verantwortungshorizont deutscher Politik endet nicht an den bayerischen Grenzen, endet nicht an den deutschen Grenzen, endet auch nicht an den europäischen Grenzen."
    Bei den CSU-Spitzenpolitikern klingt das freilich ganz anders. Horst Seehofer fordert seit Monaten die Abschottung Deutschlands. Im Zusammenhang mit Angela Merkels Flüchtlingspolitik sprach er von einer "Herrschaft des Unrechts". Und der bayerische Finanzminister Markus Söder griff die Kirchen sogar direkt an: Dafür, dass sie von den Landratsämtern Geld bekommen, wenn sie etwa ihr Gemeindezentrum als Flüchtlingsunterkünfte zur Verfügung stellen. Söder wörtlich: "Barmherzigkeit braucht keine Miete."
    "Markus Söder ist selber Landessynodaler unserer Kirche. Und natürlich haben wir bei der Landessynode, die kurz nach dieser Äußerung stattfand, auch über diese Fragen gesprochen. Und Markus Söder hat, glaube ich, sehr genau gehört, was wir als Kirchen dazu gesagt haben. Und wenn Sie darauf achten, werden Sie sehen, dass er diesen Satz so auch nie wieder gesagt hat."
    Heinrich Bedford-Strohm betont, der Gesprächsfaden zwischen Kirchen und CSU sei keineswegs abgerissen. Im Gegenteil: Im kleinen Kreis würden die Bischöfe Seehofer, Söder und Co. immer wieder an ihr C im Parteinamen erinnern. Wie tief also ist die Kluft?
    Der thüringische AfD-Chef Björn Höcke auf einer Demonstration seiner Partei in Erfurt am 13.01.2016.
    Der thüringische AfD-Chef Björn Höcke auf einer Demonstration seiner Partei in Erfurt: Der Dom bleibt dunkel, wenn er spricht. (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    "Ich würde nicht von einem Graben zwischen CSU und den Kirchen sprechen. Da gibt es auch sehr unterschiedliche Meinungen, auch innerhalb der CSU und übrigens auch bei uns in den Kirchen natürlich. Wir sind als Kirche nicht Partei. Und das ist auch ganz wichtig. Aber wir haben klare Grundorientierungen. Diese ganz klare Grundorientierung der jüdisch-christlichen Tradition: Die den Schutz des Fremden ins Zentrum stellen, in vielen Texten der Bibel. Dass die auch wirklich gehört werden, wenn wir heute Politik machen."
    Interessant ist, dass Bedford-Strohm sagt: Wenn wir Politik machen. Der EKD-Ratsvorsitzende ist in der SPD. Zwar lässt er seine Mitgliedschaft derzeit ruhen – nichtsdestotrotz ist für ihn klar: Christsein und Politik hängen unmittelbar zusammen.
    "Wenn es wirklich so ist, dass Gottesdienst die Beziehung zu Gott heißt, dass wir die Not des Nächsten sehen, dann kann es doch gar nicht anders sein, als dass wir uns auch in die politischen Dinge mit einmischen. Es wäre völlig unsinnig und auch kein Ausdruck von Frömmigkeit, wenn wir uns aus dem politischen Bereich heraushalten. Wer fromm ist, muss auch politisch sein."
    Kirchen spitzen zu
    Also spitzen die Kirchen zu, nehmen Stellung zu politischen Entscheidungen wie dem Asylpaket II. Und für manche Partei werden sie sogar zum Kontrahenten. Beispiel Erfurt: Wenn in der thüringischen Landeshauptstadt die AfD zur Demo einlädt, lässt der katholische Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr die Außenbeleuchtung des Doms abschalten. Ähnliches passiert in Köln bei den Aufmärschen von Pegida. Die prächtigen Kirchenbauten sollen nicht als Kulissen für solche Kundgebungen dienen.
    Die Reaktion des thüringischen AfD-Chefs Björn Höcke: Er bezeichnet die Kirchenleute als "Hobbypolitiker". Beispiel Berlin: Dort denkt der evangelische Bischof Markus Dröge laut darüber nach, ob AfD-Mitglieder als Gemeindekirchenräte kandidieren dürfen. Und in Leipzig wollen die Veranstalter des Katholikentags, der Ende Mai stattfindet, keine AfD-Vertreter zu ihren Podiumsdiskussionen einladen. Heinrich Bedford-Strohm hält all das für gerechtfertigt:
    "Wenn Spitzenvertreter der AfD Dinge sagen, die man nicht anders als nationalsozialistisches Gedankengut beurteilen kann, dann muss man auch ganz klar das beim Namen nennen."
    Zugleich betont der Bischof: Nicht jeder AfD-Sympathisant sei rechtsgesinnt. Und dass manche Angst vor Menschen aus anderen Ländern haben, will er nicht pauschal abtun. Die Kirchen aber nehmen einen anderen Blickwinkel ein: den der notleidenden Menschen. Deshalb suchten sie derzeit auch die harte Auseinandersetzung mit Politikern, die Flüchtlinge vor allem abweisen wollen. Was man Bedford-Strohm wohl kaum vorwerfen kann, ist Naivität. Er war im Nordirak und hat mit jenen gesprochen, die vor dem Terror des sogenannten Islamischen Staats geflohen sind.
    "Wenn ich mit Politikern rede, dann sitzen all diese Menschen mit am Tisch, ihre Schicksale. Das geht ja weiter, ich krieg ja zum Teil per E-Mail auch immer wieder Hilferufe. Dann erzähle ich diese Geschichten hier in den Zentren der Macht weiter. Und meine Erfahrung ist, dass das vielleicht das Allerwirksamste ist."
    Politisierung auch durch Papst Franziskus
    Nicht nur die evangelische, auch die katholische Kirche erfährt seit einiger Zeit eine deutliche Politisierung: durch Papst Franziskus. Seine erste Reise unternahm der Papst im Sommer 2013 auf die Mittelmeerinsel Lampedusa, wo er mit gestrandeten Flüchtlingen sprach. Ein starkes Symbol, sagt Dieter Müller vom Jesuitenflüchtlingsdienst. Gegenüber seinem Vorgänger Benedikt habe Franziskus das Gewicht der Themen ganz klar verschoben.
    "Das ist ein politischer Papst, der kommt aus Lateinamerika. Der hat eine sehr authentische Lebensweise. Es sind ja nicht nur die Flüchtlinge, die er immer wieder in den Fokus nimmt, sondern auch Arme, Marginalisierte. All das hat, denke ich, hat auch eine Wirkung auf die Bevölkerung jetzt im Zusammenhang mit Flüchtlingshilfe. Ich denke, er inspiriert die Menschen."
    Papst Franziskus spricht seinen traditionellen Segen "Urbi et Orbi"
    Papst Franziskus ist ein politischer Papst. (AFP)
    Als politisch wurde auch das päpstliche Schreiben "Laudato Si" wahrgenommen, veröffentlicht vor einem Dreivierteljahr. Die Enzyklika ist keine abstrakt-theologische Abhandlung. Vielmehr benennt Franziskus in verständlichen Worten die sozialen Folgen von Klimawandel und Umweltverschmutzung.
    "Es kommt immer mehr in den Vordergrund, nicht zuletzt, weil wir immer mehr Umweltflüchtlinge bekommen werden. Sie haben einfach keine Existenzgrundlage mehr. Und das wiederum kann mit der Umwelt zusammenhängen, mit Trockenheiten. Natürlich auch mit Wirtschaftsfaktoren vor Ort, dass internationale Fischkutter dort die Meere leerfischen. Aber jetzt kommen eventuell die Umweltkatastrophen dazu. Wir werden vermutlich mehr Flüchtlinge in Zukunft im Westen oder in Europa haben."
    Einfluss auf die deutsche Politik?
    Welchen Einfluss aber haben die Kirchen auf die deutsche Politik? Lange war die These verbreitet: In einer zunehmend säkularen Gesellschaft finden Kirchenvertreter immer weniger Gehör. Jesuit Dieter Müller sieht mit Blick auf die Flüchtlingsfrage allerdings eher einen entgegen gesetzten Trend:
    "Auf einer ethischen, moralischen Ebene ist, glaube ich, der Einfluss durchaus gestiegen. Nicht zuletzt durch Papst Franziskus und die Stimme der Bischöfe, die Positionen vertreten wie der Papst. Vielleicht ist das auch in Zukunft noch stärker gefragt von den Kirchen: Nicht konkrete politische Lösungen anzubieten, sondern bestimmte Werte zu verteidigen, die dann entsprechende Lösungen brauchen, die dann durch die Politik gefunden werden müssen."
    Und den Kirchen könnte noch eine Aufgabe zufallen: als Kulturvermittler für gläubige Menschen, die nach Deutschland fliehen. Denn die Kirchen hätten ihren Frieden mit dem weltanschaulich neutralen Verfassungsstaat geschlossen, dessen Vorrangstellung anerkannt, sagt Politikwissenschaftler Karsten Fischer:
    "Hier können die christlichen Kirchen eine Erfolgsgeschichte erzählen. Sie können Menschen, die noch keine Erfahrungen überhaupt mit dem liberal-demokratischen Verfassungsstaat, mit Demokratien haben, erzählen, dass die Kirchen auch eine andere Tradition hatten, aber sie die Erfahrung gemacht haben, dass es nirgendwo mehr Religionsfreiheit gibt, als in einem Staat, der weltanschaulich neutral ist. Wenn es den christlichen Kirchen gelingen sollte, wäre das ein weiterer Mehrwert."
    Die Flüchtlingskrise verändert das Verhältnis von Kirche und Politik. Wie nachhaltig diese Verschiebung allerdings ist, dürfte davon abhängen, ob an der Spitze der Kirchen auch künftig politische Köpfe stehen.