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Verhängnisvolle Vergangenheit

Die Geschichte zwischen Inez und Erik hatte einen harmlosen, unschuldigen Auftakt. Diese Leichtigkeit verliert sich, als die Vergangenheit drohend in Form der deutschen-deutschen Geschichte heraufzieht und schließlich im Inzest endet.

Von Michael Opitz | 23.01.2012
    Ein junger Mann kommt eher zufällig auf eine vor der Insel Gotland gelegene Vogelschutzinsel und trifft dort eine sechzehn Jahre ältere Frau. Er verliebt sich in diese Frau und sie erwidert seine Liebe. Dieser schmachtende Plot passt eher zu Inga Lindström und weniger zu Antje Rávic Strubel. Ihre Geschichte geht denn auch deutlich über die häufig genug bewegte romantisch aufgeladene Grundkonstellation 'Mann liebt Frau' hinaus. Die Geschichte von Inez und Erik, von der Antje Rávic Strubel in ihrem Roman "Sturz der Tage in die Nacht" erzählt, beginnt zwar als Romanze, sie endet jedoch nicht in trauter Zweisamkeit. Auch das Meer ist in Rávic Strubels Roman mehr als bloße Sehnsuchtskulisse. Von der Ostsee sagt sie, sie würde nur vortäuschen, ein Meer zu sein. Denn sie gibt sich größer, als sie in Wirklichkeit ist. Um diesen Eindruck zu verstärken, wartet sie mit einzelnen Elementen auf, die zum Meer gehören: "Salzwasser, Muscheln, Feuersteine und Lummen."

    Doch nicht nur die Ostsee kann sich gewaltig aufspielen, sondern auch Gesellschaften neigen dazu, sich groß zu gebärden, ohne dass Schein und Sein zu einer Einheit finden. Diese Erfahrung hat sich die 41-jährigen Inez eingeprägt, die in der DDR aufwuchs. Als 16-Jährige verliebte sie sich in Felix Ton, einen Mitarbeiter der Staatssicherheit, der sie mit ihrem gemeinsamen Kind sitzen ließ. Sie gab es schließlich zur Adoption frei, da der aufstrebende Kader glaubte, zu Höherem berufen zu sein. Nach dem Untergang der DDR – auch ein Land, das sich größer gab, als es in Wirklichkeit war – arbeitet Inez als Ornithologin auf einer schwedischen Vogelschutzinsel, wo sie die Trottellummen beobachtet. Den sogenannten Lummensprung, den man im Juni, wenn die Tage endlos hell sind, beobachten kann, zeigt Inez Erik, der gebannt zuschaut, wie sich die jungen Lummen mutig in die Tiefe stürzen.

    "Im Juni wird es fast gar nicht dunkel und gegen Ende des Sommers wird es dann rapide dunkler, dann hat man so den Eindruck, die Tage stürzen schneller ins Dunkel. Das ist aber nur der Hintergrund. Dann gibt es natürlich diese Sturzmetaphorik. Verschiedene Figuren des Romans erleben ja einen gewissen Sturz. Das ist das eine. Und das andere ist, das Buch spielt ja auf einer Vogelschutzinsel und da stürzen im Juni die jungen Lummen, die Trottellumme brütet da, und die junge Trottellumme stürzt eben im Juni von den Felsen, bevor sie fliegen kann, weil sie erst schwimmen lernt."

    Die junge Trottellumme kann weder fliegen noch schwimmen und es bleibt ihr nur die eine Möglichkeit: Sie muss sich ins Unbekannte stürzen, wenn sie eine Zukunft haben will. Mit einem Sturz hat auch Eriks Leben begonnen. Er will nach dem Sommerurlaub in Schweden Wirtschaft und Politik studieren, weil der erfolgreiche Abschluss dieses Studium ein Garant für die Einlösung eines Zukunftstraumes wäre: Erik würde gern "hellblaue oder cremefarbene Hemden mit Seidenkrawatten unter leichten Schurwollanzügen tagen". Diesen Wunsch äußert er zu Beginn des Romans. Ob er ihn am Ende aufrecht erhalten wird, scheint nach dem, was ihm widerfährt, fraglich. Denn Antje Rávic Strubel lässt diesen Erik, der sich nach einem unbeschwerten Leben sehnt, aus allen Träumen fallen, wenn sie ihn in die deutsch-deutsche Geschichte verwickelt.

    "Ich siedle gern meine Texte, die sich immer wieder dann auch mit ost- und westdeutschen Themen oder besser gesagt mit dem Thema beschäftigen, wie weit wirkt eine Gesellschaft noch in die andere hinein, außerhalb von Deutschland an. Es gibt einen neutralen Boden und es gibt auch mir die Möglichkeit, das Thema nicht schon immer so mit Bedeutungen aufgeladen zu benutzen. Diese Vogelschutzinsel ist ja gewissermaßen auch aus der Zeit gerückt. Es ist eine uralte Insel, die 100 Millionen Jahre alt ist. Sie besteht zum Großen aus Kalkstein und Fossilien. Man hat so etwas Zeitentrücktes und kann viel besser oder schärfer auch bestimmte Probleme unter die Lupe nehmen."

    Durch den Altersunterschied zwischen Inez und Erik wird ihre Liebe zu etwas Besonderem, aber das genügt der Autorin nicht. Damit ist die Beziehung noch nicht groß genug. Erst indem sie das Handlungsgeschehen auf einen Inzest zulaufen lässt, wird daraus etwas Ungeheuerliches. Inez ist – wie sich herausstellt – Eriks Mutter. Das aber wusste sie nicht, als ihr Verhältnis begann. Doch wann fängt etwas an? Inzest, das ist immer noch ein Tabuthema, vor allem dann, wenn er uns in der unmittelbaren Gegenwart und nicht im Mythos begegnet.

    "Die Idee hinter dem Roman ist die Frage von Gesellschaft und wie Gesellschaft organisiert wird. Die größte Gefährdung jeder Gesellschaft aber ist die inzestuöse Liebe – könnte man sagen. Denn die Gesellschaft wird über das Inzestverbot und die Organisation von Familie im Kern organisiert. Also die Frage, was ist das Eigene, was ist das Fremde, wird grundsätzlich über das Inzestverbot gestellt. Wenn ich jetzt eine anarchische Liebe habe, also eine Liebe, die genau gegen diese grundlegende Gesetzmäßigkeit geht, stellt sie Gesellschaft infrage. Und meine Idee, Gesellschaft zu schildern, geht eben über das Zerstörerische. Also, für mich steht die Stasi in diesem Zusammenhang für alles Zerstörerische, für sämtliche niederen Eigenschaften des Menschen, für Manipulation, für Motive, die aus reiner Gier, aus Selbstverliebtheit heraus kommen. Also die Stasi steht für dieses zerstörerische Moment in einer Gesellschaft, was grundsätzlich in jeder Gesellschaft vorhanden ist. Und am stärksten stellt die inzestiöse Liebe diese Gesellschaft infrage."

    Die Geschichte zwischen Inez und Erik hatte einen harmlosen, unschuldigen Auftakt. Diese Leichtigkeit verliert sich, als die Vergangenheit drohend heraufzieht. Von ihr werden die Liebenden wie von einem Sturm erfasst. Er weht nicht vom Paradies zu ihnen herüber, sondern er kommt aus der deutschen-deutschen Geschichte. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall wird Inez durch Eriks Auftauchen mit einem Kapitel ihres Lebens konfrontiert, und der Boden, auf dem sie fest zu stehen glaubt, gibt mehr und mehr nach. Er erweist sich als haltlos. Halt finden in diesem Moment nur die Liebenden, wenn sie beieinander sind. Das macht die Brisanz der Geschichte aus, denn die Zweisamkeit beider ist sofort bedroht, als sie sich wiederfinden.

    "Ich gehe ja selten, obwohl dieser Roman auch sehr über Spannung funktioniert, und natürlich so einen klassischen Enthüllungsplot hat, von der Geschichte aus. Also, es sind meisten andere Ursachen, den Roman zu schreiben. Hier war es tatsächlich dieses Moment, auf dieser Vogelschutzinsel, was ich selber erlebt habe. Ästhetisch interessiert mich aber auch die Frage, wie kann ich über Wasser, wie kann ich über Meer schreiben. Also, in diesem Buch war es jetzt nicht der Grundauslöser, aber es war eine Frage, die im Hintergrund stand, die es vielleicht sogar erst möglich gemacht hat, über so etwas wie Inzest zu schreiben. Ich hätte mir jetzt nicht vornehmen können: Es kommt jetzt eine Inzestgeschichte dabei heraus oder es geht um das Inzesttabu als solches, sondern es fing mit dieser Liebesgeschichte an. Ich bin den Figuren gefolgt, und als mir klar wurde, was mich eigentlich an dem Buch interessiert, nämlich die Frage, wie ist Gesellschaft grundsätzlich organisiert oder eins der wichtigsten Elemente. Das ist natürlich zunächst erst einmal ein riesiges Thema. Dann muss ich mich fragen, wie mache ich das sprachlich möglich. Da war die Ostsee so etwas wie eine Hilfe. Über den Umweg, wie kann ich das Meer beschreiben, wie kann ich die Zeit beschreiben, die die Wellen haben, um an Land zu rollen – wie kann ich das fassen? Das hat mir geholfen, dieses große Thema zu bearbeiten, ohne einen Schreck zu bekommen."

    Das Meer, von dem Antje Rávic Strubel so beeindruckend zu erzählen weiß, dass ihr beim Schreiben über ein schwieriges Thema eine Hilfe war, spült nicht nur immer wieder Steine an Land, sondern manche Steine, die sogenannten Klappersteine, werden vom Meer ausgespült. Klappersteine gibt es an den Stränden der schwedischen Ostseeküste. Antje Rávic Strubel hat für ihren Roman die lateinischen Namen der Teile, aus denen der Klapperstein besteht, als Kapitelüberschriften gewählt.


    "Der Klapperstein ist im Grunde das Zweite große Symbol in diesem Buch. Der Klapperstein ist auch erst einmal ein Fossil, eine Art Feuerstein, der eben ein Loch in der Steinhaut hat und in dieses Loch ist vor Millionen Jahren das Meerwasser eingedrungen und hat im Grunde das Innere des Steins ausgewaschen und zurückgeblieben ist ein versteinerter Schwamm oder der Schwamm ist zurückgeblieben und dann versteinert. Wenn man jetzt diese Steine findet, dann klappern sie, wenn man sie bewegt, dann hört man diesen Schwamm klappern. Für mich ist dieser Stein das, was Erik erlebt. Man nimmt sich im Grunde als Ganzes wahr, als ganzer Körper, als ganzes Wesen und plötzlich hört man aber im Innern etwas klappern, was zu einem gehört, was man aber nicht ganz kontrollieren kann, was man nicht ganz versteht. Was dann wiederum nur bedingt zu einem gehört, weil es zwar mit der eigenen Geschichte zu tun hat, aber nicht mit dem eigenen Erleben und er entdeckt ja etwas über sich oder seine Herkunft, von dem er bisher gar nicht wusste und es wird immer deutlicher, aber er kann es dennoch nicht ganz fassen und das ist eben dieses Klappern. Man könnte sagen, das 'Ich' klappert."

    In ihrem Roman ist es Rainer Feldberg, der behauptet: Das Ich klappert. Die Menschen weisen Fehler auf – wie Gedichte. Von denen sagt man, dass sie, wenn der Reim oder der Rhythmus nicht stimmt, klappern würden. Rainer Feldberg, einst Mitarbeiter der Staatssicherheit, hat es zu DDR-Zeiten verstanden, die Fehler von Menschen auszunutzen. Er kennt auch Inez gut, denn er war es, der damals Eriks Adoption in die Wege leitete. Nach der Wende zieht er weiterhin, zusammen mit Eriks Vater, der jetzt ein erfolgreicher CDU-Politiker ist, seine Kreise. Es spricht einiges dafür, dass Erik mit seinem "Fall" noch längst nicht ganz unten angekommen ist, als er in der Geliebten seine Mutter erkennt. Sein Vater will die Rückkehr des verlorenen Sohnes für den eigenen Wahlkampf inszenieren. Erik ist allerdings inzwischen um Erfahrungen reicher geworden, Erfahrungen, die er auf einer Insel gesammelt hat, auf der die Natur geschützt werden soll.

    "Dieser Roman führt diesen Gegensatz vor. Also wir haben diese Orte, wo die Natur geschützt wird und an diesen Orten sind wir eigentlich selber am Ungeschütztesten oder wir sind eigentlich den Dingen viel stärker ausgeliefert, als wir gerne glauben möchten."

    Antje Rávic Strubel ist ein beeindruckender Roman gelungen, in dem das Meer ebenso bedeutend ist, wie die Geschichte zwischen Inez und Erik. Überzeugend gelingt es der Autorin in "Sturz der Tage in die Nacht", Naturbeobachtungen ins Verhältnis zur Historie zu stellen. Entstanden ist ein Roman, in dem immer wieder Parallelen zwischen der Ostseelandschaft und der DDR angedeutet werden. Man hört Geschichten, aber Antje Rávic Strubel erzählt sie nicht so, als würde man eine Muschel ans Ohr halten, sondern sie schüttelt einen Klapperstein.

    Antje Rávic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2011, 437 Seiten, 19,95 Euro