Samstag, 20. April 2024

Archiv


Verhaftungswelle in der Türkei

Jan Senkyr, Türkei-Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara, rechnet trotz der jüngsten Verhaftungen von Oppositionellen in der Türkei nicht mit einer weiteren Zuspitzung der Situation. Bereits Anfang des Jahres habe es eine Verhaftungswelle gegeben. Die aktuellen Festnahmen müssen daher nicht mit dem Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei AKP zusammenhängen.

Moderation: Christiane Kaess | 02.07.2008
    Christiane Kaess: Der Machtkampf in der Türkei schwelt schon seit Monaten. Auf der einen Seite die säkularen Kräfte der kemalistischen Elite, die die politischen Geschicke des Landes so lange bestimmten; auf der anderen Seite die konservativ-islamischen Kräfte um die Regierungspartei AKP. Als diese das Kopftuchverbot aufheben wollte, spitzte sich der Konflikt zu und gipfelte zunächst darin, dass das türkische Verfassungsgericht diese Aufhebung kippte, und schließlich in dem nun laufenden Verbotsverfahren gegen die AKP. Jüngster Höhepunkt in der Auseinandersetzung: die Festnahmen mutmaßlicher Mitglieder einer nationalistischen Untergrundgruppe.

    Am Telefon ist jetzt Jan Senkyr. Er ist Türkei-Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ankara. Guten Tag, Herr Senkyr.

    Jan Senkyr: Guten Tag.

    Kaess: Herr Senkyr, bleiben wir zunächst mal bei den Festnahmen. Der türkische Oppositionsführer Deniz Baykal hat diese scharf kritisiert und den Einsatz mit der Verfolgung in Nazi-Deutschland verglichen. Wie ordnen Sie die Festnahmen ein?

    Senkyr: Die Festnahmen sind ein weiterer Schritt in Ermittlungen, die schon seit fast zwei Jahren laufen. Ich erinnere daran, dass die erste Verhaftungswelle schon Anfang des Jahres stattgefunden hat, wo zirka 40 Personen festgenommen worden sind. Und jetzt ist eben eine weitere Verhaftungswelle verlaufen. Natürlich kann man darüber spekulieren, ob es Zufall ist, dass sie zeitlich in dem Moment stattfand, wo der Prozess, das Verbotsverfahren gegen die AKP jetzt hier zu seinem Endpunkt kommt.

    Kaess: Denken Sie, dass es Zufall ist oder nicht?

    Senkyr: Das ist schwer zu sagen. Man muss zu den Ermittlungen sagen, dass offiziell eine Nachrichtensperre herrscht und trotzdem eine Vielzahl von Informationen an die Medien weitergereicht werden, so dass man sich schwer ein richtig objektives Urteil über diese Ermittlungen machen kann.

    Kaess: Stimmt es denn, dass die Beschuldigten angesehene Widersacher der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP sind?

    Senkyr: Dass die Beschuldigten keine Freunde der AKP sind, das mag sein. Aber es sind zum Teil Ex-Militärs. Es sind darunter auch Journalisten oder Rechtsanwälte. Ob dieses Netzwerk in der Tat darauf aus war, die Regierung zu stürzen oder einen Putsch vorzubereiten, darüber wird spekuliert, und das muss dann die eventuelle Anklage des Staatsanwalts beweisen.

    Kaess: Nun sagt Oppositionsführer Baykal auch, so respektierte Personen des öffentlichen Lebens würden nur in Putschzeiten festgenommen. Hat sich denn die Situation in den vergangenen Monaten so zugespitzt, dass sogar damit noch zu rechnen ist, oder ist ein Putsch eine Entwicklung, die in der heutigen Türkei eigentlich auszuschließen ist?

    Senkyr: Wie ich schon sagte, die Ermittlungen laufen schon seit längerer Zeit. Insofern würde ich dies jetzt nicht als einen Putsch bezeichnen. Deniz Baykal ist für seine scharfen Äußerungen bekannt. Deswegen glaube ich nicht, dass es zu einer weiteren Zuspitzung der Situation kommt. Man darf auch nicht vergessen, dass einige dieser Verhaftungen auf militärischem Gelände stattfanden und man deswegen davon ausgeht, dass die Militärführung auch vorab informiert worden ist.

    Kaess: Was bedeuten die Festnahmen hinsichtlich der Einschätzung zur AKP, sie sei eine demokratische Partei?

    Senkyr: Da würde ich jetzt nicht unbedingt eine Verbindung herstellen zwischen den Ermittlungen und den Verbotsverfahren, denn dann würde man den ganzen Prozess als einen politischen Prozess einschätzen.

    Kaess: Können Sie denn die Vorwürfe des Generalstaatsanwalts vor dem Verfassungsgericht nachvollziehen, die Regierung stelle eine Gefahr dar und drohe, in der Türkei das islamische Recht einzuführen?

    Senkyr: Darüber muss am Ende das Verfassungsgericht entscheiden. Das müssen Juristen bewerten. Es ist allerdings so, dass in der Tat in einigen Teilen der Bevölkerung eine gewisse Befürchtung vorherrscht, dass es doch islamische oder islamistische Tendenzen in der Regierungsführung geben könnte - insbesondere, dass durch gewisse Entscheidungen der Druck in der Gesellschaft wachsen könnte auf den laizistischen Teil der Bevölkerung.

    Kaess: Und wie ordnen Sie diese Befürchtungen ein?

    Senkyr: Man sollte sie nicht unterschätzen. Ich glaube, die AKP hat vielleicht einen gewissen Fehler gemacht, dass sie nach dem überwältigenden Wahlsieg im letzten Jahr nicht den Konsens und den Kompromiss auch mit ihren Gegnern oder mit der Opposition gesucht hat und es dazu hat kommen lassen, dass sich die politische Lage etwas weiter zugespitzt hat.

    Kaess: Hat die AKP da einen anderen Kurs eingeschlagen als den, den sie zu Anfang vertreten hat? Hat sich da was verändert?

    Senkyr: Es gibt in der Tat einige, auch frühere Anhänger der AKP, die enttäuscht sind von der letzten Entwicklung, denn die AKP hatte vor den Wahlen angekündigt, dass sie im Falle eines Wahlsiegs umfangreiche Reformen zur Demokratisierung durchführen möchte. Ich erinnere vor allen Dingen an die Einführung einer zivilen Verfassung, aber eben auch weitere Reformen, die mit den EU-Beitrittsverhandlungen zusammenhängen. Da ist in der ersten Jahreshälfte wenig geschehen.

    Kaess: Was befürchtet die AKP, warum sie dort nicht diesen Kurs weitergeht?

    Senkyr: Darüber kann man spekulieren. Vermutlich gab es auch innerhalb der AKP unterschiedliche Meinungen zu dem weiteren Kurs, aber vor allen Dingen war die Tatsache, dass man sich zuerst auf die Frage der Aufhebung des Kopftuchverbots konzentriert hat und andere Fragen erst mal beiseite gestellt hat.

    Kaess: Inwiefern hat denn das Verfassungsgericht mit der türkischen Verfassung und dem Prinzip der Trennung von Staat und Religion, das es ja gibt, eine solide Basis für sein Vorgehen gegen die AKP?

    Senkyr: Das müssen türkische Verfassungsrechtler beurteilen. Ich habe Meinungen gehört, dass die Beweise oder die Indizien, die in der Anklage aufgeführt werden, nach türkischer Rechtsprechung ausreichen könnten für ein Verbot.