Samstag, 20. April 2024

Archiv


Verhandlungen statt Krieg

Der Friedensnobelpreis 2012 geht an die Europäische Union in einer Zeit, in der sie in einer tiefen Krise, vielleicht der schwersten ihrer Geschichte überhaupt steckt. Jetzt müsse der Staatenbund zeigen, dass er die Friedensleistung auch in einer solchen Krise bewahren und behaupten kann, sagt der Politikwissenschaftler Josef Janning.

Josef Janning im Gespräch mit Thilo Kößler | 12.10.2012
    " The Norwegian Nobel Committee has decided that the Nobel Peace Prize for 2012 is to be awarded to the European Union. "

    Thilo Kößler: Oslo heute Vormittag 11:00 Uhr. Der Vorsitzende des Nobelpreiskomitees, Thorbjoern Jagland, gibt die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union bekannt. Der Preis geht also an eine Institution, die weltweit ihresgleichen sucht, an einen Staatenbund, eine Währungs- und Wirtschaftsunion, die bis heute keine politische Union ist. Und, dieser Preis kommt zu einer Zeit, in der die EU in einer tiefen Krise steckt, vielleicht in der schwersten Krise ihrer Geschichte überhaupt. Die Rede ist nicht nur von der Finanz- und Schuldenkrise, die Rede ist sogar von einer Vertrauenskrise, von einer Legitimationskrise. Ich begrüße Sie zu diesem Brennpunkt, und ich begrüße im Studio den Politikwissenschaftler, Politikberater und Europa-Experten Josef Janning. Schönen guten Abend, Herr Janning.

    Josef Janning: Guten Abend, Herr Kößler.

    Kößler: Was glauben Sie? Ist der Zeitpunkt für diesen Preis zufällig gewählt worden, oder hat er tatsächlich etwas mit dieser Krise zu tun?

    Janning: Ja, das hat er ganz sicher. Die EU ist schon seit Jahren ein preiswürdiger Kandidat. Aber sie befindet sich jetzt in einer ihrer größten Herausforderungen. Und jetzt muss sie zeigen, dass sie diese Friedensleistung, für die sie den Preis erhält, auch in einer solchen Krise bewahren und behaupten kann.

    Kößler: Friedensleistung, Demokratisierung - hat die EU den Preis verdient?

    Janning: Ich glaube, die EU hat den Preis verdient, denn sie ist das weltweit einzige Experiment, vom negativen Frieden - das heißt der Abwesenheit von Krieg - zu einem positiven Frieden zu kommen, zu einem System, in dem Konflikte, Interessengegensätze durch Verhandlungen ausgetragen werden, die anderswo vielleicht zu Krisen oder gar zu Kriegen führen würden, und das ist das, was wir in Brüssel und in den Hauptstädten der EU sehen. Und das ist natürlich nicht deswegen weniger wert, weil es im Moment stark knirscht im Gebälk der EU.

    Einschub: Beitrag Andreas Noll: Die Geschichte der europäischen Einigung - Von der Idee bis zum Friedensnobelpreis (DLF)

    Kößler: Herr Janning, ein Stichwort ist gefallen: EU-Verdrossenheit. Ein Vorwurf lautet, die EU habe eine asymmetrische Entwicklung genommen. Das heißt, sie ist eine Wirtschafts- und Währungsunion, sie ist keine politische Union - bis heute nicht. Ist das ein Geburtsfehler, der sich durch die Geschichte zieht?

    Janning: Die EU ist ja keine einfache Geburt, sondern eine Geburt in Etappen über einen langen Prozess. Und die Tatsache, dass wir keine politische Union haben, hat ja auch damit zu tun, dass ja nach wie vor die Staaten und ihre Regierungen die Herren des Geschehens sind, und sie tun sich sehr schwer, nun plötzlich alles auf die andere Seite zu legen und zu sagen: Nun bilden wir eine vollständige Union, wir gründen die Vereinigten Staaten von Europa. Sondern die Entwicklung der Integration vollzieht sich gewissermaßen von Krise zu Krise, von der Erkenntnis, dass man dieses oder jenes zusammen machen muss bis zum nächsten Schritt.

    Kößler: Das heißt, in Europa gibt es keine Kriege mehr, sondern Konflikte werden in Verhandlungen ausgetragen. Damit verbunden ist eine spezifische Kompromisskultur, von der immer wieder die Rede ist. Ist es eine Stärke der EU?

    Janning: Ja, das ist eindeutig eine Stärke. Die Europäer haben erkannt, ob groß oder klein, dass sie besser fahren, wenn sie ihre Interessen in einem gemeinsamen Prozess in Abstimmung bringen. Das nützt ihnen allen. Das nützt auch den Großen unter ihnen. Nur, es ist im Alltag natürlich schwierig. Solche Kompromisse liegen nicht einfach auf dem Tisch, sondern müssen erarbeitet und errungen werden. Und zu Zeiten wie diesen fällt es der EU erkennbar schwerer - und ihren Protagonisten, hier die nötigen Lösungen zu finden. Und bisweilen bedarf es dann eben auch eines Handlungsdrucks, der dann dafür sorgt, dass am Ende diejenigen, die widerstreben, dann doch dabei sind. Oder wie gerade eben im Moment im Fall Großbritanniens sich abseits halten.

    Kößler: Auf der anderen Seite reicht manchmal ein Handlungsdruck nicht aus - wie man in den Balkankriegen gesehen hat. Da hat sich die EU als nicht friedensfähig und durchsetzungsfähig erwiesen.

    Janning: Ja, auf dem Balkan hat sich gezeigt, dass es eben nicht reicht, in Brüssel allein eine insgesamt nützliche Politik zu betreiben, sondern dass man auch mehr tun muss, wenn im eigenen Raum, diesem weiteren Raum des ungeteilten Europa, archaische Konflikte aufbrechen.

    Kößler: Zeigen sich denn diese Nationalismen, von denen Sie gerade gesprochen haben, diese nationalistischen Reflexe auch in der jüngsten Krise, in der Finanz- und Schuldenkrise wieder.

    Janning: Ja, sie zeigen sich allerdings nicht als Nationalismus alten Typs. Sondern Sie zeigen sich etwa in den Grenzen der Frage: Mit wem sind wir solidarisch? Wer gehört zu uns und wer nicht? Und diese Frage muss jetzt und heute neu beantwortet werden.

    Einschub:Beitrag von Johanna Herzing: Wie kommt die EU durch die Krise? - EU sucht nach einem neuen Kurs (DLF)

    Kößler: Josef Janning, da sind neue Konfliktlinien aufgebrochen. Gleichzeitig ist die Rede von einem dramatischen Akzeptanzverlust der EU in der Öffentlichkeit. Hängt beides miteinander zusammen?

    Janning: Ja, das hängt ganz sicher miteinander zusammen. Die Politik ist im Erklärungsnotstand. Denn das, was sich jetzt ereignet, hat sie so nicht vorgeplant und beeinflusst sie auch nicht in hinreichendem Maße. Gleichzeitig wird deutlich, dass das, was in der Kommunikation mit den Menschen häufig dann vermittelt wird, nämlich: Wir sind die Herren des Verfahrens - in dieser Krise nicht ganz zutrifft. Und nun muss man umsteuern. Und nun muss man plötzlich auch anders argumentieren, wenn man die Bürger gewinnen will. Die Menschen verstehen nicht, wieso sie plötzlich in diesem Maße füreinander einstehen sollen. Und die Politik hat noch nicht den Weg gefunden, dies plausibel zu begründen. Vielleicht hilft der Preis dazu, die Begründung zu stärken.

    Kößler: Ja, ich wollte gerade fragen: Ist dieser Preis möglicherweise zu verstehen als eine Ermunterung, ja sogar Aufforderung gewissermaßen diesen Integrationsprozess fortzusetzen?

    Janning: Ich glaube ganz sicher, dass das Nobelkomitee gespürt hat, dass Europa, bildlich gesprochen, auf der Kippe stehen könnte und diesen Preis auch als einen Hinweis auf die Leistung der Integration verstanden wissen möchte, auch damit die Bürgerinnen und Bürger Europas verstehen, dass hier tatsächlich etwas geschaffen worden ist, was es so nicht gibt und was man nicht einfach aufs Spiel setzen sollte.

    Kößler: Wenn die EU in dieser Krise nun wirklich an einem Wendepunkt steht, der auch die Architektur, die Mechanismen betrifft, könnte es denn sein, dass sie sich am Ende entwickelt zu einem Modell für andere Konfliktregionen?

    Janning: Ich glaube sicher, dass die Europäische Union ein Modell ist, aber kein einfaches Blaupausen-Modell, denn sie ist natürlich auf der spezifischen europäischen Erfahrung gewachsen. Aber was andere Regionen lernen können, ist in der Tat, diesen freiwilligen Zusammenschluss zu praktizieren.

    Kößler: Der Friedensnobelpreis geht an die Europäische Union. Das war unsere Sondersendung heute Abend. Ich darf Sie ganz besonders hinweisen natürlich auf das weitere Programm, aber auch auf unser Online-Angebot. Die Kollegen haben ein ganzes Dossier zusammengestellt. Ich bedanke mich bei Ihnen, Josef Janning. Ich bedanke mich bei Ihnen, dass Sie uns zugehört haben.