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Türkei
Ilisu-Staudamm zerstört antike Kulturgüter

Trotz internationaler Bedenken hat die Türkei den Ilisu-Staudamm im Südosten der Türkei gebaut. Voraussichtlich bis Februar wird Hasankeyf im Stausee untergegangen sein. Touristen müssen künftig mit Ausflugsbooten zum Palasthügel der antiken Stadt gebracht werden.

Von Susanne Güsten | 15.01.2020
Im Fluss Tigris stehen drei große Brückenpfeiler. Im Hintergrund sind Teile der Stadt Hasankeyf zu erkennen.
Die uralte Stadt Hasankeyf in der Südosttürkei. Der Ort liegt in einer einzigartigen Kulturlandschaft am Tigris-Fluss. (dpa / Christine-Felice Röhrs)
Eine Anwohnerin sprach noch ein Gebet zum Abschied, bevor die historische Er-Rizk-Moschee aus Hasankeyf abtransportiert wurde. Vor mehr als 600 Jahren in der Stadt am Tigris erbaut, wurde die Moschee vor vier Wochen versetzt in einen sogenannten Kulturpark in höherer Lage über dem Tigris. 1.700 Tonnen schwer ist das historische Bauwerk; die Ingenieure waren stolz, dass sie es unversehrt auf ihren eigens konstruierten Tieflader bekamen. Als der Transport anrollte, kamen der alten Frau die Tränen.
Als letztes von sieben Kulturdenkmälern verließ die El-Rizk-Moschee die Kleinstadt am Tigris – was jetzt noch hier ist, wird überwiegend in den Fluten untergehen, die Hasankeyf in diesen Tagen erreichen. Um einen Überblick darüber zu bekommen, was alles im Stausee versinken wird, waren wir noch vor Beginn dieser Bergungsarbeiten mit einem einheimischen Führer auf die Kalksteinklippen über dem Tigris geklettert.
Wo einst Assyrer, Perser und Meder siedelten
"Wir steigen jetzt auf den Burgberg, von dort kann man die Kulturschätze aus der mehr als zehntausendjährigen Geschichte von Hasankeyf sehen. Die Assyrer, die Meder und die Perser siedelten hier schon vor Beginn unserer Zeitrechnung, in den Jahrhunderten nach Christus wurde die Stadt von den Byzantinern beherrscht, dann von den Artukiden, den Akkoyunlu, den Seldschuken und den Osmanen."
Vom Tigris-Ufer führt der Weg steil bergan. An einer Biegung tut sich schließlich ein steiler Abgrund mit atemberaubender Aussicht über Hasankeyf auf.
Erste Mautbrücke der Welt
"Unten im Tigris sehen wir mehrere Brückenpfeiler, das sind die Überreste der größten Steinbrücke des Mittelalters. Es heißt übrigens, dass dies die erste Mautbrücke der Welt war. Sie war zweistöckig – im unteren Stock gingen die Menschen über den Fluss, der obere Stock wurde von den Karawanen genutzt."
Auch auf die prächtigen Grabmäler aus der Zeit der Akkoyunlu und aus der seldschukischen Ära am anderen Tigrisufer weist der Führer hin, darunter das Zeynel-Bey-Grabmal aus dem 15. Jahrhundert mit seinem kunstvollen Mauerwerk und seinen blaugrünen Kachelverzierungen, dessen bemooste Kuppel das Tigristal dominiert.
Mit Ausflugsbooten zum Palasthügel
Ein frühchristlicher Kirchenbau krönt den Festungshügel. Von der Anhöhe sind auch die Bauten in der Unterstadt von Hasankeyf gut zu sehen: die El-Rizk-Moschee, die ayyubidische Koc-Moschee, die Grabmäler. Von hier aus bietet sich ein Blick auf all das, was im Stausee versinken wird. Der Führer zeigt auf das Minarett der Moschee, auf dessen gerundeter Spitze gut 50 Meter über dem Fluss ein Storchennest balanciert:
"Das Wasser wird bis zu den Lautsprechern am Minarett steigen, also bis knapp unter die Spitze. Die Unterstadt von Hasankeyf wird komplett im Stausee verschwinden, die Brücke, die Grabmäler und Moscheen, alles. Nur der Gipfel des Palasthügels, wo wir jetzt stehen, der wird noch aus dem Wasser aufragen."
Das ist nun alles Geschichte, diese Aussicht wird nie wieder jemand zu sehen bekommen. Der Staudamm ist fertig, die Kulturdenkmäler aus der Unterstadt sind abtransportiert, und das Wasser steigt. Mit Ausflugsbooten sollen Touristen künftig zum Palasthügel gebracht werden, um auf der Anhöhe die verbliebenen Kulturgüter zu besichtigen – so haben es die türkischen Behörden geplant. Die Er-Rizk-Moschee wurde ebenso wie das Zeynel-Bey-Grabmal und ein halbes Dutzend weitere Bauten aus der Unterstadt im neuen Kulturpark angesiedelt - sehr zum Bedauern von Anwohnern und Aktivisten, die vergeblich für den Erhalt des Kulturerbes gekämpft haben, wie Ridvan Ayhan von der Initiative für Hasankeyf der örtlichen Agentur Mesopotamya sagte:
"Das hat es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben, dass historische Bauten versetzt werden. Wir sind der Überzeugung, dass diese Kulturdenkmäler an ihrem Ursprungsort erhalten und gepflegt werden sollten. Durch die Verpflanzung dieser Bauten ist Hasankeyf zerstört worden. Dass die UNESCO das zugelassen und nicht protestiert hat, ist völlig unverständlich."
Keine Proteste seitens UNESCO
Um eine Schneise für den Abtransport der Er-Rizk-Moschee freizuschlagen, ließen die Behörden zuletzt noch die moderne Marktstraße von Hasankeyf abreißen. Dabei kamen unter den Geschäften weitere unerforschte Kulturgüter ans Tageslicht – Bauten aus osmanischer und darunter sogar noch aus römischer Zeit. Hastig arbeiteten Archäologen, um die wichtigsten Funde zumindest noch zu dokumentieren, bevor sie jetzt geflutet werden. Ein historischer Verlust nicht nur für die Türkei, meint der Aktivist Emin Bulut von der Initiative für Hasankeyf:
"Als zweite Sintflut wird dieses Projekt manchmal bezeichnet, aber nach der Sintflut ist ja alles wieder neu zum Leben erwacht. Ich vergleiche es deshalb eher mit einer zweiten Invasion der Mongolen, die seinerzeit alles vernichtet und dem Erdboden gleich gemacht haben. Genau das tun nun die großen Baufirmen mit staatlicher Unterstützung: Sie vernichten das kulturelle Menschheitserbe. Und wir können nichts dagegen tun. Europa schweigt, die Welt schweigt, alle schweigen dazu."