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Verkanntes Genie

Unbestritten einer der grossen deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts neben Franz Kafka, Thomas Mann und Hermann Broch, ist der vor 125 Jahren im österreichischen Klagenfurt geborene Robert Musil bis heute einer der unbekanntesten geblieben. Er besuchte zunächst eine technische Militärakademie und liess sich zum Ingenieur ausbilden, ehe er, seinen wahren Leidenschaften folgend, in Berlin Philosophie studierte.

Von Christian Linder | 06.11.2005
    Er wurde Mitarbeiter zahlreicher literarischer Zeitschriften und veröffentlichte 1906 den Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless", dem die Erzählungsbände "Vereinigungen" und "Drei Frauen" folgten. Sein dreibändiges, wenn auch nicht beendetes Hauptwerk ist der Roman "Mann ohne Eigenschaften", ein von den Ideen her geschriebenes, hochphilosophisches Erzählprojekt und als solches eine heftige Volte gegen die Welt der Sachzwänge und ein Plädoyer für die Möglichkeitswelt.

    Wenn ein Schriftsteller nach einer alten Definition jemand ist, dem das Schreiben schwerer fällt als anderen – dann war Robert Musil ein beispielhafter Schriftstellertyp. Er selber sprach in seinen Briefen oft von einer Schreiblähmung. Aber er schrieb weiter, trotz erniedrigender finanzieller Not. Wir kennen den Entwurf eines nicht datierten Bittaufrufes mit der Überschrift "Ich kann nicht weiter":

    "Ich schreibe von mir selbst, und seit ich Schriftsteller geworden bin, geschieht es zum ersten Mal. Ich – zwei Personen, Mann und Frau, scheinbar der "guten Gesellschaft angehörend" – besitze in dem Augenblick, wo ich mich entschließe, das zu schreiben, null Mark und null Groschen in bar, und außerdem nichts, denn auf den Ertrag meiner Bücher hat der Verlag die Hand. Ich glaube, dass man außer unter Selbstmördern nicht viele Existenzen in einem Augenblick gleicher Unsicherheit antreffen wird..."

    Hinzu kam, dass der vor 125 Jahren im österreichischen Klagenfurt geborene Musil zu Lebzeiten wenig Anerkennung fand. Zwar hatte ein so bedeutender Kritiker wie Alfred Kerr Musils ersten, 1906 erschienen Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" lobend besprochen und bereits im ersten Satz seiner Kritik von einem Buch gesprochen, das bleiben werde. Aber die Einsicht, dass Musils Bücher – darunter sein dreibändiges, unvollendet gebliebenes Hauptwerk, der Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" – wirklich bleiben würden, setzte sich erst nach seinem Tode durch.

    Als einer der intellektuellsten Autoren des letzten Jahrhunderts hat Musil in seinem Werk große Ideen–Gebäude untersucht. Der Schriftsteller war für ihn ein "Anwalt der Zeit gegen die Zeit", der die "geistige Konstitution, das ideelle Gerüst der Zeit" entdecken will. Inmitten einer zerfallenden Gesellschaft, für die Wien und Österreich als ein besonders deutlicher Fall der modernen Welt stand, stellt sich die Hauptfigur des Romans "Der Mann ohne Eigenschaften", Ulrich, die Frage, wie sich ein geistiger Mensch zur gegenwärtigen Wirklichkeit verhalten solle:

    "Ist denn die Wahrheit, die ich kenne, meine Wahrheit? Die Ziele, die Stimmen, die Wirklichkeit, alles dieses Verführerische, das lockt und leitet, ist es denn die wirkliche Wirklichkeit?"

    Musil hatte das Gefühl, in einer bloß schöngeistig–ästhetischen Zeit zu leben, in der die Menschen nur an einer fremd gewordenen äußeren Ordnung festhalten:

    "Es sind die fertigen Abteilungen des Lebens, was sich dem Misstrauen so spürbar macht, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle. Der moderne Mensch lebt in einer standardisierten, starren, verdorrten Welt. Die Ursachen dieser Verdorrung sind Vereinzelung, Arbeitsteilung, Isolierung, Zerstückelung."

    In solcher "Megalozivilisation", in der der "Ameisenmensch" im Maschinentempo mitgerissen wird, entsteht für Musil eine Welt ohne Eigenschaften, in der auch die Menschen wenig Chancen haben, Eigenschaften herauszubilden, denn alles ist von vornherein fixiert und organisiert.

    "In unserem wirklichen, in meine damit unserem persönlichen Leben und in unserem öffentlich geschichtlichen geschieht das immer, was eigentlich keinen rechten Grund hat."

    Musils Romanpersonen gehen auf die Suche nach einem anderen Leben, nehmen "Urlaub vom Leben" und entdecken die Möglichkeitswelt. Literatur als Versuchs- und Versuchungsstätte, wo die besten Möglichkeiten, Mensch zu werden und zu sein, ausprobiert werden. Für einen Literaturhistoriker wie Hans Mayer gehörte ein solches Projekt zu den singulären Schreibleistungen des 20. Jahrhunderts.

    Musil hat bis zuletzt an dem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" gearbeitet. Nach einem Schlaganfall 1936, von dem er sich nie wieder richtig erholte, fiel ihm das Schreiben noch schwerer als zuvor. Und dann immer wieder seine Klagen über die große Resonanzlosigkeit seiner Arbeit. Zehn Tage vor seinem Tod schrieb er an den Zürcher Pfarrer Lejeune, der ihm im Schweizer Exil – wohin Musil vor den Nationalsozialisten geflüchtet war – helfend zur Seite stand:

    "Es ist viel Ärger und Ohnmacht dabei, viel Erbitterung und viel Wiederholung..., und es ist schließlich doch meine Schuld, ... wenn ich dieses Lebens überdrüssig werde, obgleich ich seiner doch immerhin froh sein sollte."

    Als Musil am 15. April 1942 in Genf starb, meldete die "Frankfurter Zeitung" seinen Tod erst sieben Tage später mit einundzwanzig Worten. Sein Leichnam wurde verbrannt; die Asche verstreute man in einem Wald nahe bei Genf. In seiner Totenrede zitierte Pfarrer Lejeune einen Satz, den Musil über Rilke 1927 in Berlin gesagt hatte:

    "Er war kein Gipfel dieser Zeit –, er war eine der Erhöhungen, auf welchen das Schicksal des Geistes über Zeiten wegschreitet."