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Verkehrswende
Berlin bekommt ein Radfahrgesetz

Die Zahl der tödlichen Radverkehrsunfälle in Berlin soll deutlich reduziert werden, möglichst auf Null. Das ist das Ziel des Radfahrgesetzes, das jetzt vom rot-rot-grünen Senat verabschiedete. Doch während die einen jubeln, toben Wirtschaftsverbände und Opposition. Ihr Vorwurf: Es fehle ein verkehrspolitisches Gesamtkonzept.

Von Thomas Weinert | 07.09.2017
    Berlin, Deutschland, GER, Unter den Linden, Fahrradfahrer
    Ein neun Kilometer langer Radweg unter der U-Bahn soll künftig durch Berlin führen. (Imago / Stefan Zeitz)
    Berlin hat ein Mobilitätskonzept, das Gesetz geworden ist – es ist das erste und dadurch natürlich modernste großstädtische Mobilitätsgesetz der Republik, wie der rot-rot-grüne Senat stolz vermerkt. Und es enthält ein Radgesetz, dessen erster Entwurf einst in einem Volksbegehren der Bevölkerung zur Abstimmung gestellt wurde. Auf Spurensuche in Charlottenburg im Westen der Stadt.
    Ein LKW hatte beim Rechtsabbiegen auf einer großen Kreuzung eine Fahrradfahrerin übersehen. Die Berliner Polizei zählte inzwischen mit, die junge Frau war Opfer Nummer 14 im Jahre 2016.
    "Die Radfahrerin ist noch am Unfallort verstorben."
    Heinrich Strößenreuther, Berlins wohl populärster Radaktivist, und der Fahrradlobby-Verband ADFC organisierten eine Mahnwache. Mitten auf der großen Straßenkreuzung haben Frauen und Männer ihre Fahrräder hingelegt und sitzen auf dem kalten Asphalt, zwei Dutzend vielleicht. Und es ist der erste Tag im Dienst der neuen Verkehrssenatorin Regine Günther, parteilos, aber den Grünen nahe stehend. Heinrich Strößenreuther ist damals enttäuscht, dass Günther nicht sofort zur Mahnwache kommt:
    "Es wäre ein starkes Zeichen, wenn man einmal bei einer solchen Radwache auf dem Boden sitzt, auf dem kalten Boden, und da 15 Minuten schweigt und sich vergegenwärtigt, was da gerade passiert ist und wie schnell es einen selber treffen kann."
    "Insofern hat mich das sehr berührt, aber ich konnte da nicht hinkommen, aber vielleicht wäre es auch unangemessen gewesen, da gleich am ersten Abend aufzuschlagen, aber glauben Sie mir: Wir sind da dran."
    Ein verkehrspolitisches Schauspiel
    Fahrradsternfahrt durch Berlin
    2016 kamen 14 Radfahrer und Radfahrerinnen im Berliner Straßenverkehr ums Leben. (dpa)
    Heinrich Strößenreuther, der Fahrradpropagandist, und Regine Günther, die Verkehrssenatorin, entsandt von Bündnis 90/Die Grünen, sie sind die Protagonisten in dem verkehrspolitischen Schauspiel, das seither die Hauptstadt beschäftigt.
    "Konkret: Wir haben ein Radverkehrsgesetz erarbeitet als Volksentscheid Fahrrad, wir haben 100.000 Unterschriften in dreieinhalb Wochen gesammelt – Rekordzeit in Deutschland. Es wird geprüft und geprüft und geprüft, wir haben Untätigkeitsklage erhoben."
    "Wir haben deshalb auch veranlasst, dass unfallträchtige Kreuzungen analysiert werden, umgestaltet werden."
    Im Ergebnis hat der Senat den angedrohten Volksentscheid für eine radikale Fahrradpolitik durch das nun vorgelegte Mobilitätsgesetz abwenden können. Die Themen Fahrrad und Öffentlicher Nahverkehr sind darin dominant – oder besser: vorrangig. Auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des neuen Paragrafenwerkes nennt Regine Günther das Ziel "Vision Zero" – auf Neudeutsch: keine Toten mehr auf Berlins Radwegen:
    "Auch hier ist die Vision Zero festgeschrieben. Wir haben das Ziel, die Zahl bei den Radverkehrsunfällen, Getöteten und Schwerverletzten, deutlich zu reduzieren, möglichst auf Null."
    Sicherheitsaspekt als wesentlicher Punkt des Gesetzes
    Der Sicherheitsaspekt ist also ein wesentlicher Punkt des Gesetzes, das Anfang des kommenden Jahres in Kraft treten soll. Wie in vielen Großstädten werden die Berliner Radler dies begrüßen:
    "Wenn wir mehr Fahrradwege hätten, dann hätten Fahrradfahrer mehr Platz und Autofahrer wüssten, wo Fahrradfahrer zu sein haben." "Die meisten Autos fahren auf dem Fahrradweg, da fahre ich schon aus Prinzip auf dem Bürgersteig, weil mir das einfach zu gefährlich ist. Besonders nachts."
    Wirtschaftsverbände und Opposition im Abgeordnetenhaus toben, die Industrie- und Handelskammer vermisst vor allem ein Gesamtkonzept, denn für den Autoverkehr auf der Straße will sich der rot-rot-grüne Senat nicht weiter ins Zeug legen. Hier, so heißt es, bleiben die bestehenden gesetzlichen Regelungen und die Straßenverkehrsordnung das Maß aller Dinge.
    "Der zweite Aspekt ist, dass ein Radverkehrsnetz aus verschiedenen Komponenten entstehen wird, das lückenlose Verbindungen durch die Stadt schafft. Es werden sichere Radverkehrsanlagen an den Hauptstraßen errichtet werden. Es wird ein dichtes Netz auf Nebenstraßen geben, und es wird Radschnellverbindungen geben."
    So gibt es bereits eine Süd-Nord-Verbindung von Steglitz an einer S-Bahn- Trasse entlang über den Bahnhof Südkreuz bis hin zum Potsdamer-Platz, hier fehlt es eigentlich nur noch an einer vernünftigen Beschilderung und an der einen oder anderen baulichen Maßnahme an Kreuzungen. Es gibt aber auch für eine neue Ost-West-Achse bereits einen ganz großen Wurf:
    "Ich freue mich für alle Berlinerinnen und Berliner und alle Gäste der Stadt, den ersten Teil der Radpromenade unserer super weltweit berühmten Radbahn freizugeben." - "Juhu!" - "Freie Fahrt!"
    Franziska Schneider vom ADFC Kreuzberg-Friedrichshain entwirft vor wenigen Tagen symbolisch eine Art Utopie unter einem kleinen Stück der Hochbahn-Trasse der Linie U1.
    Radweg unter der U-Bahn
    Fahrradfahrer fahren auf einem Fahrradweg an einer Kreuzung in Berlin geradeaus, während ein Auto rechts abbiegen will, davor weist ein Schild über den Toten Winkel als Unfallgefahr hin.
    Fahrradfahrer fahren auf einem Fahrradweg an einer Kreuzung in Berlin geradeaus, während ein Auto rechts abbiegen will, davor weist ein Schild über den Toten Winkel als Unfallgefahr hin. (dpa picture alliance/ Stephanie Pilick)
    Vom Nollendorfplatz in Schöneberg bis zur Warschauer Straße tief im Osten der Stadt soll die "Radbahn Berlin" verlegt werden: Ein sicherer, trockener und nachts beleuchteter Radweg von neun Kilometern Länge unter der U-Bahn, die auf dieser gesamten Strecke auf Stelzen fährt. Kosten je nach Gestaltung: zwischen 13 und 27 Millionen Euro. Gesammelt wird erstes Geld derzeit im Netz, die Presse ist begeistert.
    Noch ist das Radbahnprojekt nicht Teil der offiziellen Verkehrsplanung. Aber die Erfahrung der jüngsten Zeit zeigt, dass die Radler in Berlin viel Einfluss nehmen können, wenn sie es nur wollen. Und das Radfahren überleben.
    Der offizielle Polizeibericht zum Toten Nummer 5 in diesem Jahr, statistisch gesehen schon näher an der Null als 2016. Todesursache dieses Mal: Autotür auf, ohne nach hinten zu schauen:
    "Der Senior erlitt lebensgefährliche Kopfverletzungen und verstarb trotz eingeleiteter Reanimation noch am Unfallort."