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Verklärter Blick auf Ulrike Meinhof

Anja Röhl beschreibt ihre Stiefmutter, die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, als strahlenden Gegenpol zum autoritären Umfeld ihrer Zeit - ganz anders, als ihre Halbschwester Bettina Röhl, die ihre Mutter entmythologisieren möchte. Es ist dabei nicht das Porträt Meinhofs, was an dem Buch berührt, sondern es sind die Kindheitserinnerungen der Autorin.

Von Angela Gutzeit | 29.04.2013
    Anja Röhl ist die Tochter des heute 84-jährigen "Konkret"-Gründers Klaus Rainer Röhl und seiner Frau Bruni. Nachdem die Ehe gescheitert war, verband sich Röhl mit Ulrike Meinhof, die seinem Blatt mit ihren gesellschafts- und sozialkritischen Artikeln hohe Auflagen bescherte. Ein Zwillingspärchen wurde geboren - Bettina und Regina Röhl. Die Halbschwester Anja empfand diese neue Familienkonstellation, an der sie besuchsweise teilhatte, wie ein Erweckungserlebnis aus einem düsteren Kindheitskerker. Ihre neue "Ziehmutter", so schildert es Anja Röhl in ihren Erinnerungen, trat in ihr Leben wie ein strahlender Gegenpol zu ihrem bisherigen Umfeld, das sie als autoritär und gleichgültig erlebte. Das Buch ist erfüllt vom Willen Anja Röhls, ihrer persönlichen Erfahrung mit Ulrike Meinhof Ausdruck zu verschaffen und gegen andere Erfahrungen, zum Beispiel der ihrer Halbschwestern, die viele Passagen in diesem Text haben schwärzen lassen, zu verteidigen. Anja Röhl ...

    "Die erste Veröffentlichung war 1972 von meinem Vater, dem geschiedenen Ehemann, der ja schon Jahre vor der Entscheidung Ulrikes, das zu machen, was sie dann getan hat, ein Buch über sie geschrieben hat, was ihren Charakter damals schon verzerrt hat. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich dazu etwas beitragen müsste. Ich habe Ulrike als sehr, sehr stark mütterlich und sehr liebevoll Kindern gegenüber erlebt. Und das wird ja öffentlich angezweifelt. Dem wollte ich auf jeden Fall widersprechen."

    Anja Röhl hatte Kontakt zu Ulrike Meinhof von ihrem vierten Lebensjahr an bis sie 19 war. Am 9. Mai 1976 erfuhr sie während ihrer Arbeit in einem Krankenhaus vom Tod ihrer Wunsch- und Ersatzmutter in Stammheim. Der Schock über diese Nachricht bildet den Rahmen des Buches. Dazwischen wird durchgängig aus der Kindheitsperspektive erzählt und zwar weitgehend namenlos in der dritten Person: "Das Kind", "das Mädchen", "die junge Frau", so schreibt sie über sich selbst. Bekanntlich sind Erinnerungen brüchig und anfechtbar und wohl deshalb hat Anja Röhl ihre Geschichte mit Ulrike Meinhof leicht literarisiert. Man kann auch sagen geglättet: Eine Gefühlsgeschichte, noch dem Kindlichen verhaftet. So lässt sich wohl auch besser über so heikle Dinge schreiben, wie die umstrittene Entführung der Zwillinge ins Ausland, als Meinhof schon in Haft war und sie die Kinder offensichtlich dem Zugriff Klaus Rainer Röhls entziehen wollte. Oder über die furchtbaren Auseinandersetzungen mit der hilflosen leiblichen Mutter - und vor allen Dingen über den Pädophilievorwurf an den Vater. Seine, von der Autorin immer wieder hervorgehobene Sexsucht, habe das kindliche Gemüt sehr verunsicherte. Vor diesem Hintergrund erlebte Anja Röhl das Auftreten von Ulrike Meinhof als ausgesprochen positiv.

    Ulrike machte nie Vorwürfe. Das Kind kann sich frei bewegen. Nie muss es Mittagsschlaf machen, wenn es nicht will. Das Kind malt und bastelt mit den Schwestern, bringt ihnen Laufen, Springen, Klettern bei und erzählt ihnen ausgedachte Geschichten. Abends kocht Ulrike manchmal für alle Kinder Grießbrei und gießt ausgepressten Apfelsinensaft darüber. Später bringt sie die Zwillinge ins Bett. Währenddessen liegt das Kind auf Ulrikes Sofa und ruht sich aus.

    Die Perspektive, die Anja Röhl in ihrem Buch einnimmt, lässt wenige Abstufungen zu. Auf der einen Seite die autoritäre Erziehungswelt der 50-/60er-Jahre, zu der auch die schlimmen Erfahrungen mit Schule, Kindererholungsheimen und einem kurzfristigen Internatsbesuch zu zählen sind. Die Beschreibung dieser herzlosen Atmosphäre mit ihren drakonischen Strafen ist beklemmend und gehört zu den ausdrucksstärksten Passagen dieses Buches. So haben es viele erlebt. Und hätte Anja Röhl diesen Aspekt stärker aus der heutigen Sicht reflektiert und mit Ulrike Meinhofs damals in der Tat sehr unzeitgemäßen, weil kindzugewandten und gewaltfreien Ansichten zur Pädagogik und Heimerziehung verbunden - das Buch hätte sich von dem Eindruck befreien können, hier werde eine Person, die ja von ihrer weiteren Geschichte im Grunde nicht zu trennen ist, als Lichtgestalt verklärt. Aber Anja Röhl beharrt auf ihrem Recht, der späteren Terroristin Ulrike Meinhof eine, wie sie meint, unbekannte, aber wichtige Facette hinzuzufügen.

    "Also, das Wort Lichtgestalt ist mir in diesem Zusammenhang nicht so sympathisch. Es klingt so nach Idealisierung. Es war so, dass sie auf jeden Fall vollkommen anders war, als die anderen Erwachsenen. Meine Eltern waren allerdings auch ganz besonders kriegs- und nazigeschädigte Menschen, aber das war auch damals ein Zeitphänomen. Und in diesem Kontrast, in dieser Kontraststimmung fiel eben Ulrike Meinhof da sehr raus."

    Anja Röhl war bis zum Tod der RAF-Protagonisten Mitglied einer Angehörigengruppe, die sich gegen die sogenannte Isolationshaft der Einsitzenden engagierte. In ihrem Buch "Die Frau meines Vaters" zitiert Anja Röhl ganz am Schluss den Anwalt Ulrike Meinhofs, der während des Begräbnisses lautstark ihren Selbstmord bezweifelte. Sie lässt seinen Vorwurf des staatlichen Mordes an den Terroristen unkommentiert und wählt stattdessen ein Bild, das man als Geste des Einverständnisses verstehen könnte:

    Die junge Frau

    so heißt es in den letzten Zeilen,

    hakt sich bei dem Mann unter, lange gehen sie immer wieder um Häuserblöcke.

    Ihre Halbschwestern werfen Anja Röhl seit vielen Jahren Verklärung und Distanzlosigkeit vor - auch gegenüber der politischen Person Ulrike Meinhof. In mehreren Interviews hat Bettina Röhl auf der absoluten Herzlosigkeit ihrer Mutter bestanden und Anja Röhl die Kompetenz abgesprochen, sich über Meinhof und die Zwillinge zu äußern. Weil um jede Zeile des Buches gerungen wurde, ist der Text voller schwarzer Balken. Der Kampf um die Deutungshoheit, wer Ulrike Meinhof war, geht also weiter.

    Der Wahrnehmung Ulrike Meinhofs eine neue und vor allen Dingen überzeugende Facette hinzuzufügen, das ist Anja Röhl mit ihren Erinnerungen kaum gelungen. Aber "Die Frau meines Vaters" ist trotzdem ein berührendes und lesenswertes Buch, da es exemplarisch von einer Kindheit erzählt, die in den politisch unruhigen Zeiten der 60er-/70er-Jahre zwischen alle Fronten gerät und mit diesem Erbe bis heute ringt.

    Buchinfos:
    Anja Röhl: "Die Frau meines Vaters: Erinnerungen an Ulrike", Edition Nautilus, ISBN: 978-3-894-01771-2, 160 Seiten, Preis: 18 Euro