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Verkleidet in Lissabon

Stimmen hören wir bei Antonio Lobo Antunes, wie immer. Viele Stimmen. Sie kommen im Wechsel zu Wort und gruppieren sich um eine Hauptstimme. Aber was heißt diesmal schon "zu Wort kommen"? Das klingt, als erzählten die Figuren brav ihre Lebensgeschichten, woraus dann ein kaleidoskopisches Panorama über die gebeutelte Kreatur unserer Zeit am Beispiel der Lissabonner Halbwelt entstünde.

Von Christoph Schmitz | 28.04.2004
    Aber so einfach ist es bei Lobo Antunes diesmal nicht – richtig leicht war es in den letzten Jahren ja noch nie. Aber diesmal will keine der Figuren auch nur im Geringsten eine einigermaßen erkennbar stringente Geschichte erzählen. Von einem Wollen, einer wie auch immer zielgerichteten Kommunikationsabsicht kann erst gar nicht die Rede sein, weswegen auch der erzähltechnische Begriff des Bewusstseinsstroms zur Beschreibung dieser Literatur zu kurz greift. Denn das Unbewusste und Unterbewusste reden ebenfalls mit. Wobei auch psychologische Kategorien nicht wirklich greifen. Die Chemie des Gehirns ist hier am Werk – so sollte man es eher formulieren und zugleich auf die zahllosen synchron ablaufenden elektrochemischen Prozesse im Gehirn verweisen, die der Text reproduziert.

    Die ordnungs- und sinnstiftende Leistung des konzentrierten Bewusstseins schaltet Lobo Antunes aus. Auf der Textebene sprengt er dadurch die Grammatik. Die Zeichensetzung wird ausgesetzt, Sätze und Wörter werden unterbrochen und abgebrochen; wörtliche Reden fallen wie aus heiterem Himmel ein, Stimmen, Gedanken, Erinnerungen, die nur selten auf die Schnelle einzuordnen sind.

    In den vergangenen vier, fünf Büchern bin ich immer von nichts ausgegangen. Ich arbeitet mich von Überraschung zu Überraschung. Ich versuche immer stärker ein Stadium nahe dem Traum zu erreichen. (...) Die ersten beiden Arbeitsstunden sind verloren, weil ich warte, bis ich diesen Zustand erreicht habe. Ich allein mit einem Wort. Nach und nach erreicht man dann jenes innere Klima, wenn die logischen Verknüpfungen andere sind, und dann beginnt die Hand alleine zu schreiben.

    Auf die Affinität zum surrealistischen Diskurs der écriture autómatique ist in der Kritik schon hingewiesen worden. Für diese erste, spontane Version, sagt Lobo Antunes, müsse eine Form gesucht werden, als grabe man in einem Garten eine Statue aus. Doch mit dieser Statue kann Lobo Antunes nicht einen traditionellen Roman meinen, der immer Sinnzusammenhänge herstellt, der zumindest den Versuch unternimmt, Ursachen und Gründe einer Lebensgeschichte zu erkennen oder zu deuten.

    Er betreibt eine reine Phänomenologie simultaner Nerventätigkeiten, die permanent eine Flut disparater Bilder hervorbringen. Viele dieser Bilder bleiben haften, wie die Heroindelirien im heruntergekommenen Chelas der kapverdianischen Dealer, wie der verglaste Balkon mit dem verrosteten Kinderfahrrad des frühverstorbenen Mädchens in Anjos, dessen Eltern in tiefer Trauer versunken sind oder wie die Zigeuner von Bico da Areia und ihre Pferde, deren Kadaver mit Jeeps aus den Wellen gezogen werden. Der erzählerischen Zersplitterung entspricht die radikale Atomisierung des Sprachmaterials.

    Von einem tonal zentrierten vielstimmigen Klangkörper, wie noch in Lobo Antuness früheren Romanen, ist nichts mehr zu hören. Der Autor selbst hatte immer wieder auf die symphonische Kommpositionsweise seiner Arbeiten verwiesen und Namen wie Anton Bruckner und Gustav Mahler angeführt. Jetzt, in Was werd ich tun, wenn alles brennt, erklingt ein großes atonales Rauschen in leicht changierenden Farbwerten, das eher an die Musik eines György Ligeti erinnert. Die ästhetische Radikalisierung war schon bezeichnend für Lobo Antuness bisheriges Werk, doch sie hat jetzt ein Maß angenommen, das kaum zu überbieten ist. Es ist, als wolle Lobo Antunes nichts mehr sagen, als töne seine Schreiben nur gegen die Stille an, gegen das letzte große Schweigen.

    Doch der Klang dieser Prosa ist lyrisch durch und durch, etwa wenn eine "Kirchturmuhr die Stille zerpflückt und ihre Spatzen gegen die Fenster schleudert" oder der Fluss "Tejo am Strand die Tischtücher seiner Wellen wäscht" oder "Gott der Allmächtige, die Quelle der Erlösung, trotz des Kastagnettenklapperns seiner von der Kälte zusammengezogenen Gaumens die Seelen mit seiner Gegenwart tröstet." Bewundernswert ist die übersetzerische Leistung von Maralde Meyer-Minnemann. Mit schlafwandlerischer Sicherheit führt sie durch das labyrinthische Sprachgebilde.

    Was aber würde Antonio Lobo Antunes sagen, wenn man von seinem jüngsten Roman erzählte, es gehe da um einen Transvestiten in Lissabon, Soraia heiße er oder sie, je nachdem, aufgewachsen sei er jedenfalls als Mann mit Namen Carlos. Dieser Carlos sei eigentlich Uhrmacher, habe sich mit Judite zusammengetan, sie sogar geheiratet und zusammen mit ihr einen Sohn in die Welt gesetzt, Paulo, aber schon früh ein heimliches zweites Leben als Transvestit geführt, was die Ehe schließlich scheitern gelassen habe.

    Und Carlos Sohn Paulo stehe jetzt, zu Beginn des Romans, am Sarg seines Vaters, des Transvestiten Soraia, und lasse sein eigenes Leben Revue passieren. Auch Rui, Soraias Geliebter, sei mittlerweile tot, Rui der Junkie, der Dieb und Draufgänger und Paulos bester Freund, der auch Paulo an die Nadel gebracht habe, so wie Paulo seine Freundin Gabriela an die Nadel gebracht habe, Gabriela, die Kassiererin aus der Krankenhauskantine, die Paulo liebe, ebenso wie Paulos Pflegeeltern ihn liebten, Dona Helena und Senhor Couceiro, denen das verwahrloste Kind vom Jugendamt einst zugeteilt worden sei. Für das besorgte biedere Paar habe Paulo aber immer nur Verachtung und Häme übrig gehabt, auch wenn er später seine versteckte Zuneigung gestehe. Was also würde Lobo Antunes sagen, fasste man seinen Roman auf diese Weise zusammen.

    Dieses Buch ist für mich schon alt. Diese Erläuterung ist sicherlich richtig, aber wenn mir das alles so klar gewesen wäre, hätte ich das Buch erst gar nicht geschrieben. Was Sie dargestellt haben, habe ich selbst erst in dem Maße entdeckt, wie ich den Roman verfasst habe.

    Distanzierung vom Inhalt also, obwohl sogar der deutsche Verlag im Klappentext und auf dem Buchrücken den Inhalt skizziert und den Roman noch stärker erdet, wenn es heißt, Lobo Antunes habe sich vom Schicksal des berühmtesten Transvestiten Portugals inspirieren lassen.

    Ich bin nicht verantwortlich für das, was Verlage schreiben. Ich habe diesen Transvestiten nämlich nie kennengelernt, sondern ihn nur einmal in einem Fernsehinterview gesehen. In einem Flugzeug habe ich erst von seinem Tod gelesen. Der erste Klick für diese Geschichte war diese Todesnachricht in einer Zeitung. Aber fast alle meine Bücher haben ihren Anfang in solch einem zufälligen Ereignis, das manchmal in der letzten Textversion sogar ganz verschwindet.

    Wie aber ist das Ganze, wenn eine Geschichte nur unter größten Mühen und höchst künstliche und dem Roman widersprechende Weise zusammengeflickt werden kann, zu lesen? Am besten laut, wie im Rausch, ohne etwas verstehen zu wollen, so wie man Musik hört. Und wenn man Lesen mit Bergsteigen vergleicht, dann ist Was werd ich tun, wenn alles brennt der Nanga Parbat.

    António Lobo Antunes
    Was wird ich tun, wenn alles brennt
    Luchterhand, 701 S., EUR 25,-